
Kapitel 1 - Schmerzhafte Vorfreude
-Anna-
Fassungslos sitze ich auf meinem Bett und starre auf die leere Hälfte des Schranks, in der sich noch bis vor ein paar Stunden Christians Kleidung befunden hat. Meine von fehlenden Wimpernschlägen immer trockener werdenden Augen beginnen zu brennen, doch ich wage es nicht sie zu schließen, aus Angst, die verstörenden Bilder könnten wieder aufblitzen. Meine in das Laken vergrabenen Hände verkrampfen sich als ich realisiere, dass der Mann, mit dem ich neunzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, nun fort ist.
Bleib stark Anna, bleib stark...
Ich hatte mir vorgenommen nach seinem Auszug keine Träne mehr für ihn zu vergießen, doch mir war klar, dass das nicht leicht werden würde. Nun sitze ich schon seit unzähligen Minuten in meinem Schlafzimmer, während Fetzen von Christians Monolog, den er mir hielt, nachdem ich ihn in flagranti erwischt hatte, durch meinen Kopf fliegen.
„...wir haben einfach viel zu jung geheiratet...
...der Alltag ist so trist geworden...
...gib es doch zu, Sex hat nie eine große Rolle in unserer Ehe gespielt und willst du nicht auch noch etwas Aufregenderes erleben als... das hier?
...ich liebe dich einfach nicht mehr Anna!"
Er liebt mich nicht mehr...
Endlos wiederholen sich diese Worte in meinen Gedanken und ich spüre, wie meine innere Mauer Risse bekommt, bis mich ein schrilles Klingeln zusammenzucken lässt. Unsanft aus meinem tranceartigen Zustand gerissen kneife ich meine Augen zusammen und fahre mir mit den Händen über das Gesicht. Der Blick auf mein Handy, welches neben mir auf dem Bett liegt, offenbart mir, dass es nicht die Quelle des Klingelns war. Dann kann es nur die Wohnungstür gewesen sein. Durch das erneute Klingeln in meiner Vermutung bestätigt, stehe ich mühsam auf, um mich in den Flur zu begeben.
„Ich komme ja schon!", rufe ich mit brüchiger Stimme, nachdem der unbekannte Besucher ein drittes Mal den Klingelknopf betätigt hat. Carolin und Sophie können es nicht sein, wer also versucht mich davon abzuhalten im Selbstmitleid zu versinken? Ich zögere kurz, doch dann drücke ich den Summer und öffne die Wohnungstür, nur um im nächsten Moment vor Schreck nach hinten zu stolpern und unsanft auf dem Allerwertesten zu landen.
„Mensch Anna! Wenn du mal deinen Spion benutzen würdest, hättest du festgestellt, dass ich die Haustür bereits überwunden habe."
Ich verdrehe die Augen als mein Blick auf das belustigte Grinsen im Gesicht meiner besten Freundin fällt. „Du hättest ja auch klopfen können, um mich vorzuwarnen."
Ich greife nach Julias Hand, die sie mir reicht und lasse mich ächzend von ihr auf die Füße hieven.
„Ist er schon ausgezogen?" fragt sie mich, während ich mir mit schmerzverzerrtem Gesicht über meinen Po reibe. Ich nicke nur als sie meinen von Traurigkeit gezeichneten Blick, der mehr und mehr durch den aufkommenden Tränenschleier verschwimmt, aus ihren hellgrauen bemitleidenden Augen erwidert.
„Hey...komm mal her Schatz!"
Julias sanfte Umarmung sprengt meine rissigen Dämme nun vollständig was mich mein Gesicht schluchzend in ihrer Schulter vergraben lässt. Minutenlang lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf während Julia mich fest an sich drückt und mit ihren Händen über meinen Rücken fährt. Nun ist es doch geschehen und ich heule mir abermals die Augen aus wegen... wegen diesem... Ich führe die Gedanken nicht zu ende, da sie sowieso wieder nur in einer Reihe aus Flüchen und unschönen Bezeichnungen für Chris enden würden.
„Möchtest...möchtest du drüber reden?" fragt Julia, nachdem ich mich etwas beruhigt habe.
Ich schüttle den Kopf, während ich mich von ihr löse und mir mit meinem Ärmel die Tränen trockne. Auf keinen Fall möchte ich schon wieder über all die schlimmen mit Wut, Verzweiflung, Trauer und Angst, ja vor allem Angst vor der Zukunft, gefüllten Wochen sprechen, die hinter mir liegen.
„Es ist ja nicht so, als wenn wir nicht schon oft genug darüber gesprochen hätten in letzter Zeit..."
Julia streicht sich ihre langen hellblonden Haare hinter die Ohren und seufzt laut. „War ja nur ein Vorschlag Süße. Ich bin ja auch eigentlich gekommen, um dich abzuholen."
Verwundert über Julias spontanes Vorhaben lege ich die Stirn in Falten und schaue sie fragend aus meinen verweinten Augen an. „Abholen? Wo...wozu denn?"
„Naja, es ist Freitagnachmittag und ich möchte nicht, dass du gerade heute allein zuhause bist."
„Wo...woher weißt du denn, dass ich alleine bin?"
„Josie hat mir gesteckt, dass Carolin ihr erzählt hat, du hättest sie und Sophie über das Wochenende zu deiner Mutter geschickt, damit sie den Auszug ihres Vaters nicht miterleben müssen."
„Oh..." bei dem Gedanken an die Gesichter meiner beiden Töchter als sie erfahren haben, dass Ihr Vater uns verlässt, steigen mir wieder die Tränen in die Augen. Sie waren so unfassbar geschockt und ich konnte besonders in Caros Augen sehen, wie ihre heile Welt zerbrach. Bevor mich meine Gefühle wieder übermannen können, legt Julia ihre Hand an meine Wange und drückt meinen Kopf in ihre Richtung, um mich mit ihren verschmitzten Augen anzufunkeln.
„Na na na! Jetzt ist Schluss mit der Traurigkeit Anna! Heute ist der Tag, an dem wir deine neu gewonnene Freiheit mal so richtig auskosten werden."
Ungläubig starre ich sie an, während sich Verzweiflung in mir breit macht.
„Freiheit nennst du das? Laut meinem Anwalt wird der Unterhalt, den Chris mir zahlen muss, vorne und hinten nicht ausreichen, um die Miete der Wohnung zu bezahlen und mit meinem mickrigen Gehalt ist es fast aussichtslos, allein über die Runden zu kommen."
Julia nickt wissend und legt ihre Hände an meine Oberarme. „Na dann kannst du ja froh sein, dass du mich hast und deinen blöden Anwalt kannst du sowieso in den Wind schießen. Ich hab dir doch gesagt, dass Mike einen Geschäftspartner hat, der Anwalt ist."
Ich kann nicht behaupten, dass Julias selbstgefälliges Grinsen zur Hebung meiner Stimmung beiträgt, aber zumindest weckt es die Neugier in mir, was sie wohl vorhat. Anstatt ihre Aussage zu kommentieren, verschränke ich nur die Arme vor der Brust und runzle die Stirn.
„Jetzt schau mich nicht so an, sondern sieh zu, dass du aus den schlabbrigen Sachen rauskommst und dich hübsch machst, wir gehen heute zusammen aus, damit du auf andere Gedanken kommst."
Ich atme tief ein und weiche Julias forderndem Blick aus. Da ich schon ewig nicht mehr ausgegangen war, kann ich nicht viel mit Julias Vorschlag anfangen. „Ich habe keine Lust heute irgendwohin zu gehen und außerdem..."
„Keine Wiederrede!" fällt Julia mir ins Wort. „Dich hier ganz allein zu verkriechen, macht es dir nur noch schwerer mit der Situation fertig zu werden. Ich habe eine Idee, die dir helfen könnte, aber das lässt sich am besten in geselliger Stimmung bei einem Cocktail besprechen, fernab von den vier Wänden, die dich eh nur an Christian erinnern."
Ich muss zugeben, dass mir Julias Gesellschaft und ihre positive Ausstrahlung bereits jetzt schon guttun, also nicke ich ergeben. „Und wo möchtest du mit mir hin?"
„Ich gehe mit Mike hin und wieder in eine gemütliche Bar, in der am Wochenende immer Live-Musik gespielt wird. Da treten meist unbekannte Nachwuchsmusiker auf. Das wird dir sicher gefallen."
Ich nicke leicht und lasse mir von Julias euphorischen Blick ein Lächeln entlocken. „Also gut, überredet."
„Na Prima! Vertrau mir Anna, nach diesem Abend wird wieder ein Hoffnungsschimmer am Ende deines Horizonts zu sehen sein."
-Isabella-
„Frau Heidenreich? Wann bekomme ich die Übersetzung des Berichts?"
Erschrocken von der tiefen und strengen Stimme unmittelbar hinter mir, ziehe ich instinktiv meinen Kopf zwischen die Schultern und drehe mich langsam auf meinem Schreibtischstuhl zu meinem Vorgesetzten um, dessen bedrohlich wirkende massige Statur ihren Schatten auf mich wirft.
„Noch...noch ein Absatz Herr Schneider. Geben sie mir noch zehn Minuten, dann... dann lade ich den Bericht für sie hoch."
„Wurde aber auch Zeit. Im Anschluss daran jagen Sie diese Akten bitte noch durch den Schredder."
Entgeistert schaue ich auf den großen Stapel Papier der im nächsten Moment auf meinen Schreibtisch knallt. Eingeschüchtert blicke ich wieder in Herrn Schneiders fülliges Gesicht, das von einer tiefen Zornesfalte und einem ordentlich gekämmten Oberlippenbart geziert wird.
„Ka...kann das nicht bis Montag warten? Es ist gleich Feierabend... und..."
„Wenn sie weniger Zeit mit ihren, angeblich medizinisch notwendigen, Raucherpausen verbringen würden, wären sie längst mit beidem fertig. Ich erwarte, dass sich der Stapel in kleine Fetzten verwandelt hat, wenn ich später das Büro verlasse."
Der autoritäre und abfällige Ton seiner Stimme schnürt mir die Kehle zu. Bevor ich etwas erwidern kann, dreht er sich auf dem Absatz um und verschwindet in seinem Büro.
Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und schüttle den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein... Dafür werde ich ewig brauchen... ausgerechnet heute. Genervt und enttäuscht widme ich mich dem stinklangweiligen englischsprachigen Bericht eines londoner Journalisten über die Auswirkungen des Brexits auf die deutsche und englische Wirtschaft.
Wieder einmal bin ich an dem Punkt angelangt, wo ich mich frage, was mich damals geritten hat ein Publizistikstudium anzufangen, es nach der Hälfte abzubrechen und mich dann auch noch als Übersetzerin bei einer Presseagentur zu bewerben, weil ich ja ein ach so großes Talent für Sprachen habe. Und nun sitze ich hier und übersetzte uninteressanten Wirtschaftskram und werde von meinen Vorgesetzten als "Mädchen für alles" Missbraucht. Dabei würde ich viel lieber mehr Zeit mit meiner Leidenschaft verbringen.
Als ich den Bericht abgeschlossen und in die Cloud geladen habe, schaue ich auf die Uhr, nur um zu bemerken, dass ich jetzt noch genug Zeit hätte, um nachhause zu fahren, mich frisch zu machen und eine Kleinigkeit zu essen, bevor ich dann in die Taverne aufbreche. Doch dann bemerke ich im Augenwinkel den Aktenstapel auf meinem Schreibtisch und sehe meine so lang herbeigesehnte Chance von dannen ziehen.
„Hey Isa."
Ein Lächeln fährt mir auf die Lippen noch bevor ich aufschaue und mein Blick die sanften braunen Augen von Medhi trifft, der mit verschränkten Armen vor mir steht und mich grinsend mustert. Medhi ist von meinen männlichen Arbeitskollegen mit Abstand der liebste und netteste und mein Herz hüpft immer wie wild vor Freude, wenn er mir auf dem Weg zum Archiv einen Besuch abstattet.
„Hat das Walross dir mal wieder Extraarbeit aufgebrummt?"
Ich kichere leise, denn "Walross" ist wohl die treffendste Beschreibung für das Aussehen meines Vorgesetzten. Ich verdrehe die Augen und lehne mich seufzend in meinem Stuhl zurück.
„Ja, hat er. Ausgerechnet heute, wo ich doch endlich meinen ersten Auftritt in Trudy's Taverne habe. Es wäre auch so schon knapp geworden, doch jetzt ist es fast unmöglich für mich rechtzeitig da zu sein, wenn ich mich wenigstens ein bisschen hübsch machen möchte."
Medhi greift nach dem Stuhl, der an einem der bereits verwaisten Tische steht und rollt ihn zu mir, um darauf Platz zu nehmen.
„Hast du es endlich geschafft Roxy davon zu überzeugen dich auf die Bühne zu lassen?"
Ich nicke und lächle erst, sehe dann aber betrübt zu Boden.
„Ja, das war echt ein hartes Stück Arbeit. Aber wenn man bedenkt, wie viele Künstler bei ihr Schlange stehen, kann ich mir echt etwas darauf einbilden. Und deshalb bin ich auch so verzweifelt, denn eine zweite Chance wird Roxy mir sicher nicht geben."
Medhi stützt seinen rechten Ellenbogen auf den Tisch, legt sein Kinn in die Handfläche und lächelt mich aufmunternd an.
„Also ich kenne da jemanden, der bereits Feierabend hat und den du eventuell gaaaaanz lieb fragen könntest, ob er die Arbeit für dich übernehmen würde."
Meine Augen weiten sich als ich begreife, was Mehdi mir damit sagen will.
„Das...das würdest du für mich tun?"
Medhi dreht mir seine Wange hin, tippt mit seinem Zeigefinger darauf und blinzelt mir zu. Ich kann gerade noch einen Jubelschrei unterdrücken, bevor ich ihm einen dicken Kuss gebe.
„Du machst deinem Namen alle Ehre. Ich weiß gar nicht wie ich dir danken soll."
Das fröhliche Glucksen in meiner Stimme entlockt Medhi ein belustigtes Lachen, während er sich durch seine tiefschwarzen gelockten Haare streicht.
„Ach nicht der Rede wert. Jetzt mach schon, dass du wegkommst, bevor der Schneider sich noch was anderes für dich einfallen lässt."
„Du bist ein Schatz. Danke, Danke, Danke! Ich machs wieder gut, versprochen."
„Ich nehm dich beim Wort!"
Ich drücke ihm einen weiteren Kuss auf seine Wange und schnappe mir meine Tasche, ehe ich eilig Richtung Fahrstuhl laufe. Mein Herz beginn schneller zu Schlagen bei dem Gedanken daran, dass ich heute das erste Mal vor einem großen Publikum auftreten werde.
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