6. Kapitel - Verunfallt
Ein Auto fährt an mir vorbei. Es streift mich beinahe und hupt. Ein weiterer Wagen ebenfalls. Ich höre ihre Reifen aus dem Asphalt. Spüre ihren Luftzug an meiner Kleidung ziehen.
Das Gewirr aus Geräuschen und Tönen um mich herum wird immer lauter. Alles verschwimmt ineinander. Nur einen Ruf höre ich deutlich heraus: „Runa, pass auf!"
Es ist meine Mutter. Sie klingt panisch. Ihre Stimme überschlägt sich fast und ich drehe mich zu ihr. Ich sehe ihr erschrockenes Gesicht. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Ich möchte mich bewegen, zu ihr gehen, aber mein Körper lässt mich im Stich. Ich bin wie erstarrt, denn ich weiß, was jetzt passieren wird.
Das blaue Auto.
Der Unfall.
Der Aufprall auf der Kühlerhaube.
Ich werde sterben!
Ich zittere. Alles in mir bebt.
Was soll ich machen?
Was tut man, wenn man weiß, dass das Unvermeidbare eintritt?
Beten? Das ganze Leben nochmal Revue passieren lassen?
Ich möchte mich an die schönsten Augenblicke meiner Vergangenheit erinnern. An die Marmeladenglasmomente, die man am liebsten immer mit sich tragen möchte, aber ich schaffe es nicht.
Es ist absolut irrsinnig, aber alles, an was ich denken kann, ist, dass ich mir ein anderes Ende gewünscht hätte, als dieses hier. Mitten auf der Straße, vor den Augen meiner Familie und so vielen Mitgliedern der Zu.n.f.T. Des Zukunft-neu-formieren-Treffs, zu dem ich nun niemals gehören werde.
Moment mal! Zukunft neu formieren!
Noch ist es nicht vorbei!
Neu formieren! Ich kann meine Zukunft verändern!
Ich atme tief durch! Ich weiß, was passieren wird. Direkt von vorne kommt der blaue Wagen. Die Fahrerin wird bremsen, aber zu spät.
Ich schaue auf und sehe ihn auf mich zukommen. Die Scheinwerfer blenden mich, obwohl es taghell ist. Das Auto wird nicht ausweichen, ich habe das so oft gesehen. Es fährt genau geradeaus. Direkt auf mich zu. Ich habe nur eine Wahl. Jetzt oder nie!
Mit aller Willenskraft, die ich aufbringen kann, springe ich nach rechts auf die linke Fahrbahn, wo ein Autofahrer sein Fahrzeug angehalten hat, um seine Hinterleute auszubremsen. Mit einem lauten Krachen pralle ich seitlich gegen seine Motorhaube, und nur einen Wimpernschlag später schlingert das blaue Auto mit quietschenden Reifen an mir vorbei.
„Nope. Not today", war es nicht so, Snoopy?, schießt es mir durch den Kopf, dann kommt der Schmerz.
Eine warme Flüssigkeit rinnt von meiner Schläfe aus an meiner Wange herunter, und tropft mit kleinen roten Tropfen auf den Asphalt.
Meine Rippen fühlen sich ebenfalls nicht mehr so an, wie sie sollten. Mit jedem Schlag meines rasenden Herzens pulsiert eine neue Welle Qual durch meinen Körper. Ich atme stoßweise und rutsche an dem Reifen des Autos entlang zu Boden. Kauere mich zusammen und versuche, zu begreifen, was passiert ist.
Ich fühle Schmerzen! Mein Herz rast! Ich atme! Ich lebe!
Ich wusste, was passieren wird! Ich habe in die Zukunft gesehen und meine erste Vorhersage hat mir mein Leben gerettet. Ich bin eine Seherin. Und es hätte wohl kaum einen besseren Augenblick geben können, um meine Gabe zu entdecken.
Gut, das mit der Landung auf dem anderen Auto hätte man besser hinbekommen kommen, aber jeder fängt mal bei null an.
Beinahe möchte ich lachen, doch ich kann nicht.
Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen. Sie ist kurz klar, dann wieder verwaschen. Es ist das Gegenteil von meinem Traum. Dort wurde das Polaroid, immer deutlicher und farbiger. Jetzt verliert alles seine Farben und verblasst.
Schemenhaft erkenne ich Personen, die auf mich zulaufen. Spüre eine Hand auf meiner Schulter. „Runa, oh zur heiligen Pythia, bitte sag, dass es dir gut geht."
„Es is scho okay, Ma", nuschle ich, dann wird alles um mich herum schwarz.
***
Die nächsten Tage verbringe ich im Bett. Zwei geprellte Rippen und eine kleine Platzwunde an der Schläfe erinnern mich daran, was am Donnerstag geschehen ist. Aber mehr als alles andere drehen sich meine Gedanken darum, dass ich diesen Unfall hervorgesehen habe.
Ich wusste, was passieren wird.
Ich wusste, was passieren wird.
Ich wusste, was passieren wird.
Immer wieder rotiert dieser Satz in meinem Kopf wie ein Ohrwurm, der sich nicht abschütteln lässt. Ich bin damit völlig überfordert. Natürlich bin ich in einer Familie von Sehern aufgewachsen, aber es ist etwas andere, wenn sich die Gabe plötzlich bei einem selbst zeigt.
Als Aurelia mit fünfzehn Jahren aus vertrockneten Feigenblättern die Scheidung unserer Nachbarn vorhergesehen, und damit ihre erste richtige Vision zustandegebracht hat, ist sie mehrere Wochen mit einem irren Grinsen durch die Wohnung gelaufen.
Ich konnte das damals nicht verstehen. Mir taten eher die Kinder der beiden leid, die nun tagelang den Streitgesprächen ihrer Eltern lauschen mussten. Aber Aurelias guter Laune blieb ungebrochen, selbst als nebenan einige Fenster zu Bruch gingen.
Jetzt verstehe ich sie ein bisschen besser. Es ist ein unglaubliches Gefühl, etwas zu wissen, was anderen verborgen bleibt, bis es eintritt. Ein paar Haken hat die Sache allerdings.
Erstens war es bei Aurelia sofort klar, dass sie eine Floromantin ist, und sie konnte danach mit ein wenig Übung zuverlässig die Zukunft aus Blütenblättern und Knollen lesen.
Ich hingegen hatte eine einzige Offenbarung - und das im Schlaf. Was soll ich damit anfangen? Kunden zu mir nach Hause einladen und vor ihren Augen ein Nickerchen machen, um eine Vision zu empfangen?
Zweitens waren in meinen letzten Träumen keine weiteren sich wiederholenden Bilder vorgekommen. Was daran liegen könnte, das ich noch weniger geschlafen habe, als die Nächte vor meinem Unfall.
Und das liegt an dem dritten und größten Haken meiner Gabe. Versehentlich habe ich meine eigene Zukunft vorhergesehen. Ich habe mir damit zwar das Leben gerettet, aber leider gegen das Gesetzbuch zum Umgang mit dem angeborenen Talent des Sehens verstoßen. Ein Verstoß, den vermutlich niemand mitbekommen hätte, wenn das Schicksal mir ausnahmsweise mal wohlgesonnen wäre. Aber durch eine Verkettung unglücklicher Umstände habe ich durch meine erste Vision direkt wieder einen Untersuchungsausschuss der Zu.n.f.T. am Hals.
Leah hat sich am Donnerstag Sorgen um mich gemacht, und war meiner Mutter und mir hinterhergelaufen, um zur Not einschreiten zu können, wenn ich ihrer Meinung nach zu traurig wirken oder Ma mich zu ungerecht behandeln würde.
So kam es, dass sie meine Sprungeinlage auf der Straße aus der ersten Reihe mit ansehen durfte, und sofort zur Stelle war, als ich in Ohnmacht fiel. Normalerweise wäre ich dankbar gewesen, sie zu sehen, als ich nach wenigen Sekunden wieder zur Besinnung gekommen war. Doch in diesem Fall hätte ich sie lieber weit weggewünscht, denn, weil Leah eben Leah ist, und nie den Mund halten kann, war das Erste, was sie sagte, als ich die Augen aufschlug: „Ist das verrückt, Runi. Das war ja wie in deinen Albträumen ..." Und das vor meiner Familie und den meisten Mitgliedern des Gremiums.
Prima! Nun wird morgen in einer Anhörung darüber verhandelt, ob ich mich lieber hätte überfahren lassen sollen, als mir mit meiner versehentlichen Vorhersage selbst das Leben zu retten.
Am liebsten würde ich um mich treten, aber Abraxas liegt zusammengerollt am Fußende des Bettes und schnurrt. Er hat einfach ein untrügliches Gespür für meine Emotionen.
So ziehe mir stattdessen bloß die Decke über den Kopf. Wieso muss einfach immer alles in meinem Leben schiefgehen? Sogar jetzt, wo ich endlich meine Gabe entdeckt habe. Es kommt mir vor, als wäre ich ein Kind, dem diese eine Puppe geschenkt wird, die es sich so lange sehnlichst gewünscht hat, und direkt danach wird diese vor seinen Augen zerrissen.
„Zu n f T, deine Regeln sind nicht oke", zitiere ich und hoffe, dass mir genau diese Regeln morgen nicht zum Verhängnis werden.
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