kapitel 1
meine fingerspitzen fuhren über das leder meines dunkelbraunen skizzenbuches. der einband war weich, warm, umso länger ich ihn hielt. ich ordnete die zeichenkohle in einem dünnen kasten und trug augenblicklich dunkle abdrücke an meinen händen, die ich zwischen meinen fingerspitzen zerrieb. es war 22:52uhr. der himmel lag in wolkenloser schwärze, während ich aus dem fenster auf die tiefe beleuchtung der gassen des 7. arrondissements hinuntersehen konnte. ich zog meine lederstiefel an und warf einen weiten dunkelgrünen mantel über meinen strickpullover, den ich von einem sessel nahm. neue städte veranlagten mich dazu, mir mehr und mehr laken überzuwerfen.
bevor ich auf die straße ging, wickelte ich mein dickes dunkles haar in einen tiefen dutt und legtemir eine selbstgedrehte zigarette zwischen die dunkelrot angemalten lippen. aus dem treppenhaus rausgegangen, unten auf dem bordstein, zog ich den ersten zug meiner zigarette ein und gleichzeitig auch meine erste nacht in paris. ich schwamm im gelben licht einer straßenlampe und sog einsame kälte, statt sauerstoff in meine lungen.
mit meinem skizzenbuch und dem kasten voll kohle unter dem arm, machte ich mich auf den weg zu dem ziel meiner nacht; L'autre côté
das namensschild versenkte den eingang in einem blauen licht. der begriff der blauen periode durchquerte meinen kopf, doch dies war keine trauer, es war pure euphorie. in meinem hinterkopf sah mir das adrenalin zurückgelehnt zu, mit großen gelben augen, einem herz in den händen, das meines sein musste.
L'autre côté war ein café, als auch eine bar. in den vitrinen wurde alkohol wie kunst ausgestellt, die flaschen von rotem licht angestrahlt. menschen - rußige gestalten - saßen auf den fensterbänken, aschenbecher zu ihren füßen, während rauchschwaden ihre gesichter in die nacht verwischten, wie die von geistern eines lechzenden lebens, das mir in den kopf gespukt wurde. ich trat an die bar heran. meine finger glitten über die glatte oberfläche der theke und verharrten über eine einkerbung, die eine ausbrennende zigarette hinterlassen haben musste.
„pardon, die andere seite erwartet mich."
es war mir nicht unangenehm diese unbekannten worte zu sagen. meine dunkelbraunen augen verfolgten das profil des mannes hinter der bar mit gelassener ruhe. ich war 18jahre alt. in mir war das gefühl der weltmüdigkeit versteckt, eine schwarze katze, die an den rändern meines verstandes entlang streifte - wartend.
er wendete sein gesicht zu mir. seine blonden locken fielen um seine augenbrauen und ich bekam mit, wie seine augen verharrten, um mein gesicht zu mustern. doch er kannte mich nicht. dies war mein erster besuch.
ein mädchen in der métro hatte mir den zettel zugesteckt, geschrieben mit einer schnellen hand und der dunkelroten tinte eines kugelschreibers stand die adresse, der satz, den ich sagen sollte und eine kurze beschreibung darauf. [nächtliche kunststunden gleichgesinnter menschen.]
nun, zwei tage später, war ich nie glücklicher eine staffelei, skizzenblock und den roman "sphinx" von anne garrétas in der métro mit mir rumgetragen zu haben, die hände voll gelber ölfarbe, wenn es bedeutete, ein stück von dem zu bekommen, was ich mir von der pariser kunstszene mit 18jahren erhoffte.
der junge mann stellte das martini glas langsam zurück. seine augen verließen mich nicht. oh nein, sie brachten die gelben augen meines adrenalin-tieres bloß zum weiten. er ließ sich zeit, seine gepflegten hände abzutrocknen. das weiße tuch blieb fleckenlos. es hatte keinen grund gegeben, seine hände abzutrocknen.
ein schmales lächeln eröffnete sich auf seinem mund. "mademoiselle.", sagte er mit ruhiger stimme, ehe er mit der hand auf die schmale treppe hinter sich zeigte. ich ging die ersten stufen hoch und erwartete, dass der mann mich nach oben zeigen würde, doch das tat er nicht. er blieb hinter der bar und führte fort, einen martini einzuschenken. ich blieb allein. meine konzentration lag darauf, dass der absatz meiner stiefel nicht von der treppenstufe rutschte. lichtschatten tanzten auf meiner hand. abendliche irrlichter. ich erklamm die treppe, während die musik und das klirren von gläsern hinter mir zurückblieb und die neue ebene mich erwartete. meine dunkelroten lippen strichen übereinander in nervöser konzentration. das nikotin hing zwischen den schweren strichen des lippenstifts. vor mir erstreckte sich ein saal. vor mir erstreckt sich die andere seite.
das antlitz erinnerte mich an die viktorianische era. eine moderne, abstrakte, neonlichter- und rauschmittelbedröhnte version dieser aber.
es gab hohe decken - ungewöhnlich für den großteil paris'. stock verzierte die decke, von der ein mächtiger kronleuchter hing. das kristalllicht spielte auf den alten mustern der alten, edlen tapete. an den wänden hing alles, was man sich vorstellen konnte; expressionismus, fauvismus und selbst tachismus, obwohl er in den sechzigern hier in paris, dort, wo er auch seinen ursprung gefunden hatte, geendet hat. ich fand mich wieder in einem meer der abfälligkeit, des abnormalen, des scheußlichen - der zukunft.
ich möchte leben, dachte ich. ich möchte schrecklich sein, wenn es bedeutet schön zu sein.
„ihr mantel, mademoiselle."
neben mir erschien ein mann, dessen weißes hemd von kohle-handabdrücken befleckt war. die handabdrücke eines anderen.
„merci", flüsterte ich, während ich zeit brauchte, meinen mantel abzustreifen. in paris verlor ich noch die laken über meiner seele, dachte ich, als ich ihm schweren-nicht-so-schweren herzens meinen mantel übergab.
„es ist salomé.", fügte ich hinzu. mit kühlen handflächen strich ich über meinen erhitzten nacken, der hinter meinem rollkragenpullover steckte. der mann faltete den mantel sorgfältig über seinen arm, stellte sich für einen kurzen moment neben mich, sagte: „nur zu, salomé. die modelle warten. außerdem, rauchen sie eine zigarette für die nerven. die nacht ist noch lang." dann verließ er mich, verschwand in ein hinterzimmer zu seinem liebhaber, nahm meinen mantel einfach so mit sich.
er stiehlt mein laken, dachte ich.
doch in l'autre côté sollte niemand laken tragen. dies war der anfang. ich gesellte mich auf einen hocker, einen platz zwischen den vieler anderer berauschten künstler. meine gebräunten hände spannten ein schweres papier ein, dann zückten sie eine zigarette aus meinem lederetui hervor. ich strich das graphit ab. schließlich lehnte ich mich mit der zigarette zwischen den lippen erwartungsvoll zu meinem linken sitznachbarn, bis er mir das feuer daranhielt - wärme kitzelte meine nasenspitze.
als ich zur mitte des malerkreises aufblickte, fing mein blick das erste mal den ihren.
ich vergaß, mich zurückzulehnen. ich vergaß, zu inhalieren. ich vergaß, was mir am liebsten war - das wehmütige rauchen.
die nackte junge frau saß im scheinwerferlicht auf dem podest wie eine venus. wie eine göttin. man möge sie als nymphe, waldgeist, schöne seele beschreiben, doch als ihre grauen augen mich streiften, wusste ich, sie musste das gewesen sein, was sandro botticelli mit die geburt der venus einzufangen versucht haben muss. junge schönheit. macht über meine seele. graue augen.
ich begann, zu malen.
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