✶Kapitel Fünf✶
Der Duft von gebratenem Knoblauch und Sesamöl lag schwer in der Luft, vermischt mit der leichten Süße von gedünstetem Reis. In der offenen Küche hantierte Seungmin routiniert mit den Kochutensilien, während ich auf dem Sofa lag, das Handy in der Hand, Daumen gedankenverloren über das Display streichend.
Minho.
Sein Gesicht ließ mich nicht los. Irgendwas daran… etwas, das an den Rändern meines Bewusstseins lauerte, ohne sich wirklich greifen zu lassen. Ich hatte ihn heute zum ersten Mal gesehen – und doch nicht. Es war dieses Gefühl, als würde man einen Song hören, dessen Melodie man kennt, aber nicht benennen kann.
Ich scrollte durch meine Galerie, ohne genau zu wissen, wonach ich suchte. Die letzten Jahre in Bildern – alte Chatscreenshots, Aufnahmen von Fällen, Essen, das ich irgendwann mal für besonders ästhetisch hielt, ein paar Selfies mit Seungmin und Jeongin.
Und dann, fast beiläufig, ein Foto aus der Schulzeit.
Eine alte Klasse, eine Reihe lachender Schüler in ihren blauen Uniformen. Ein Bild, das ich Jahre nicht mehr angesehen hatte. Ich wollte schon weiterwischen, als mein Blick auf ein Gesicht fiel – dunkle Augen, leicht schiefes Lächeln, ein Blick, der damals schon eine Spur ernster war als die der anderen.
Minho.
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Mein Daumen verharrte über dem Bildschirm, während mein Magen sich unangenehm zusammenzog.
Das konnte doch nicht sein.
„Das ist echt verrückt“, murmelte ich und starrte auf das alte Klassenfoto auf meinem Handy. Minho stand in der letzten Reihe, ein wenig abseits, als hätte er nicht wirklich dazugehören wollen. Oder als hätte er schon damals gewusst, dass er nicht dazugehören konnte.
Seungmin stellte eine dampfende Schüssel vor mir ab und setzte sich mir gegenüber, noch immer in seinem Trainingsshirt. „Was ist verrückt?“
Ich drehte das Handy um, zeigte ihm das Bild. „Minho. Ich hatte völlig vergessen, dass wir in der gleichen Klasse waren.“
Er lehnte sich vor, warf einen Blick auf das Foto und zuckte dann mit den Schultern. „Ich erinnere mich.“
„Du erinnerst dich?“ Ich runzelte die Stirn.
„Klar.“ Er nahm einen Bissen, sprach mit vollem Mund weiter.
„Er war immer der Typ, der sich aus allem rausgehalten hat. Still, unauffällig. Aber irgendwie…“ Er schmunzelte leicht. „Er war trotzdem nie unsichtbar, oder?“
Ich wusste genau, was er meinte. Es gab Menschen, die still waren, weil sie nicht auffallen wollten, und dann gab es Minho – still, aber auf eine Art, die ihn noch auffälliger machte.
Ich ließ meinen Blick über das Foto gleiten, versuchte, mich an mehr zu erinnern. Dann fiel mir eine bestimmte Nacht auf der Klassenfahrt wieder ein.
„Ich glaube, ich bin ihm mal gefolgt.“
Seungmin hob eine Braue. „Hä? Stalkermove?“
„Nein, Mann.“ Ich schnaubte. „Wir waren auf Klassenfahrt, weißt du noch? Das alte Ferienhaus am See? Alle saßen ums Lagerfeuer, aber Minho war irgendwann einfach weg. Ich hab ihn später allein am Wasser gefunden.“
Seungmin nickte, nahm noch einen Bissen. „Und?“
„Er sah…“ Ich suchte nach dem richtigen Wort. „… irgendwie verloren aus.“
Mein bester Freund grinste. „Vielleicht war er einfach ein Emo-Kid.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich meine es ernst.“
Seungmin schob seine Schüssel weg und lehnte sich zurück. „Und was, wenn er schon damals komisch war? Wenn das, was er getan hat, nicht aus dem Nichts kam?“
Ich stockte. „Was willst du sagen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Menschen verändern sich nicht von heute auf morgen. Vielleicht war das immer schon in ihm drin.“
Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Ich wollte nicht darüber nachdenken.
Aber der Gedanke ließ mich nicht los.
Ich schluckte. „Er soll seine eigene Schwester missbraucht haben. Sie war erst sieben.“
Seungmin lehnte sich zurück, sein Blick glitt über den Tisch, als müsste er die Worte erst verarbeiten. Doch in seinem Gesicht spiegelte sich keine Wut, kein Ekel, nichts von dem, was ich erwartet hätte.
„Glaubst du das?“ fragte er schließlich.
Ich blinzelte. „Natürlich. Alles spricht gegen ihn.“
Seungmin schwieg, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Krass.“
Mehr nicht. Kein wütender Ausbruch, keine Verachtung, keine geschockte Reaktion.
Ich runzelte die Stirn. „Krass? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Was soll ich sagen? Es ist eine verdammt abartige Sache. Aber ich kenn den Typen nicht wirklich. Und du?“
Ich stockte. „Ich… ich weiß nicht. Ich meine, ich kannte ihn damals nicht wirklich, aber—“
„Aber du denkst an ihn.“ Seungmins Blick war plötzlich auf mich gerichtet, schärfer als zuvor. „Die ganze Zeit.“
Ich biss mir auf die Lippe.
„Hör zu, Jisung.“ Seine Stimme wurde leiser, beinahe sanft. „Lass dich nicht von diesem Fall auffressen. Es gibt Menschen, die sind einfach… kaputt. Vielleicht war Minho schon immer einer davon.“
Ich wollte ihm zustimmen. Ich wollte, dass seine Worte logisch klangen. Aber irgendetwas in mir sträubte sich.
Seungmin nahm sein Glas, trank einen Schluck und sagte dann mit einem leichten Schmunzeln:
„Du bist echt ein verdammter Idealist, weißt du das?“
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