013 - Sektion 8
Nachdem Alby die Versammlung für beendet erklärt hatte, verteilten sich die Jungen langsam auf der Lichtung. Es war bereits spät, die Sonne war schon hinter den hohen, Efeu bewachsenen Mauern verschwunden, und auch Kaya bemerkte, dass sich die Müdigkeit heranschlich. Nick hatte sich von ihr verabschiedet und war im Gehöft verschwunden, als Kaya sich auf den Weg zu ihrer Hängematte machen wollte.
Doch Alby hielt sie auf. „Hey Kaya, hast du eine Sekunde?", der Anführer sah Kaya erwartungsvoll entgegen. Ohne zu zögern steuerte sie auf den Jungen zu. „Alles in Ordnung?", wollte sie wissen. „Ja, ich...ich hatte einfach das Bedürfnis, nochmal mit dir zu sprechen. Über...diese ganze Sache", murmelte er und ließ sich auf einer Bank nieder. Sein Blick schweifte in den Nachthimmel hinaus, alles, was auf der Lichtung zu hören war, waren die Käferklingen, die leise im Gras raschelten, das Zirpen einiger Insekten und ein flüstern, das vom Waldrand, aus den Nachtlagern der Lichter, stammen musste.
„Friedlich, nicht war? Beinahe schön.", seufzte Alby. „Kaya, ich...ich zweifle nicht an deinen Träumen. Und ich bin mir sicher, dass die Neppdeppen, die dieses verdammte Labyrinth gebaut und uns alle hier hinein verfrachtet haben, ihre Gründe für alles hatten.", er verstummte kurz, sein Blick glitt über die Lichtung, die weitläufig vor ihnen in nächtlicher Ruhe lag: „Dieser ganze Klonk muss irgendwann ein Ende haben, da bin ich mir sicher. Einen Ausgang. Eine Lösung. Irgendwas. Aber wenn du da morgen rausgehst, sei nicht enttäuscht, wenn du ohne Antworten zurückkehrst.", seine Miene wurde wieder so ernst, wie Kaya sie kannte.
Alby wandt sich Kaya direkt zu, fixierte ihren Blick und fuhr fort: „Die Wahrheit, Kaya, ist...Die Jungs haben schon so gut wie alles durch. Und...bisher...haben wir nichts. Gar nichts."
Alby wandte seinen Blick ab, starrte nun auf die Wiese vor seinen Füßen.
„Ich...wir haben es den anderen nie erzählt, und das werden wir auch nicht. Selbst wenn das gesamte Labyrinth bald fertig kartografiert ist, fürchte ich, werden wir nicht schlauer sein, als vorher. Dieses Verfluchte Labyrinth ändert sich auch noch - jede verdammte Nacht, Kaya. Wie soll man da nicht die Hoffnung und gleich den ganzen Verstand verlieren?"
Kaya schwieg. Bisher hatten die Läufer stets so hoffnungsvoll gewirkt, aber die bittere Realität hielt nicht viel für sie bereit.
„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Alby. Nicht heute, nicht morgen, niemals. All das hier muss doch einen Sinn haben. Die Schöpfer müssen sich etwas bei all dem hier gedacht haben. Und wir werden es herausfinden. Koste es, was es wolle."
Woher diese plötzlich Entschlossenheit rührte, konnte Kaya, in Anbetracht von Albys eher wenig motivierender Ansprache ihr gegenüber, nicht sagen. Vielleicht war es auch eher eine Art Sebstverteidigungsreflex. Doch alles in ihr wehrte sich dagegen, aufzugeben.
Am nächsten Morgen weckte Nick Kaya, lange, bevor die Sonne ihre ersten Strahlen über den Rand der Mauer zeigte.
„Psshh", flüsterte er, den Zeigefinger mahnend vor den Lippen. „Komm mit", er machte eine einladende Handbewegung, dann wartete er, bis Kaya auf die Beine kam. Sie griff nach den Klamotten, die vor ihr über dem Ast, an dem ihre Hängematte befestigt war, hingen, dann folgte sie Nick.
Dieser führte sie in eine kleine Hütte, in der Kaya noch nie zuvor gewesen war. Im inneren roch es nach Holz, der Fensterlose Raum lag dunkel vor ihr, das fahle Licht, dass nur durch einige Rillen und Furchen im Holz hineindrang, ließ bloß Schatten erahnen. Ein Schrank, gefüllt mit Schuhen, eine Truhe, eine Bank und ein Tisch standen vor ihnen.
Nachdem Nick Kaya Zeit gegeben hatte, sich unbeobachtet in der Hütte umzuziehen, betrat er das Holzgebäude und lief auf den Schrank zu, der direkt gegenüber der Tür stand. Dann sah er zu Kaya: „Welche Schuhgröße hast du wohl?", fragend sah er zu ihr hinüber. Kaya zuckte mit den Schultern, während sie ihre Füße beobachtete. „Probier die hier mal.", schlug Nick vor, er reichte ihr ein paar graue Laufschuhe. Sie sahen - im Gegensatz zum Rest der Lichtung - sehr modern und sauber aus.
„Passen die?", wollte Nick wissen, nachdem Kaya einige Schritte auf und abgelaufen war. „Ich denke schon.", entschied das Mädchen, dann sah sie zu Nick. Dieser hielt eine Digitaluhr in der Hand, die genau so aussah wie die, die Newt, Alby und er selbst trugen. Nur Läufern und Hütern war es gestattet, diese Uhren zu tragen. Die Schöpfer schienen nicht gerade großzügig mit den modernen Dingen zu sein.
Elektronische Geräte gab es auf der Lichtung schließlich auch keine. Und das, obwohl die Lichter in beinahe jede Box, die hinauf und dann wieder hinabgelassen wurde, einen Zettel legten, auf dem sie sich immer wieder die verschiedensten Dinge wünschten: Fernseher, Kameras, Videospiele. Doch es kam nie eine Antwort.
Dann reichte Nick Kaya einen Rucksack. „Proviant und Wasser. Das wirst du da draußen brauchen.", erklärte er. „Danke", entgegnete Kaya, und hob den Rucksack auf ihren Rücken. Er war leichter, als sie angenommen hatte. „Gut, fehlt dir sonst noch etwas?", grübelte Nick und begutachtete Kaya, die, in einem T-Shirt, Laufhosen und einem hochgebundenem Zopf vor ihm stand. Sie schüttelte den Kopf. „Dann lass uns zum Osttor gehen."
Newt wartete bereits auf die beiden, als sie das Tor erreichten. „Kann's losgehen?", wollte der Blonde wissen, woraufhin Nick nur mit den Schultern zuckte: „Wann immer Mylady soweit ist.", meinte er.
Kaya hatte derweil das Osttor genauestens analysiert.
Das Efeu war dichter, als am Westtor, aber nicht so hoch gewachsen. Hinter dem Tor, im Labyrinth, war eine weitere, mit Efeu bewachsene Wand zu erkennen. Eine Abzweigung.
„Wir laufen bis zu den hinteren Abschnitten.", verkündete Kaya, dann atmete sie Tief ein und preschte voraus.
Newt und Nick folgten ihr.
Stunde um Stunde verstrich, die drei rasten durch das Labyrinth, ihre Schritte hallten über den Steinboden. Ab und an hielten sie kurz, tranken einen Schluck Wasser oder markierten ihren Pfad mit einer abgetrennten Efeuranke.
Dann, als die Sonne bereits hoch am Nachmittagshimmel stand, öffnete sich vor ihnen ein Abschnitt, der Weitläufiger war, als die schmaleren Gänge mit den hohen Steinmauern.
Dieser Abschnitt bestand aus rostroten, flügelartigen Metallwänden, die hoch über sie hinausragten.
„Willkommen im hintersten Abschnitt des Labyrinths", verkündete Nick, als er zu Kaya trat. Newt folgte ihm, die Wasserflasche in der Hand. Sie alle waren bereits nass geschwitzt, Schweißperlen funkelten im Sonnenlicht auf Nicks Stirn.
„Wenn wir noch weiter nach hinten laufen, gelangen wir an die Klippe.", erklärte Newt. „Die Klippe?", forschend sah Kaya zu ihm auf, dann nahm sie einen großen Schluck Wasser aus ihrer Flasche. „Ja. Ein Loch, pechschwarz, wenn man reinschaut. Wir haben schon allerhand Zeug hinabgeschmissen, aber man hört nie einen Aufprall. Als hätte das Loch keinen Boden."
Kaya nickte. „Wir sollten es uns trotzdem nochmal ansehen", schlug sie dann vor.
Das Loch war jedoch genau so, wie Newt es beschrieben hatte. Es schien kein Ende zu geben, ungewiss, was darin lauern mochte.
Die Schöpfer hatten sich mit diesem riesigen, gewaltigen Bau wirklich Mühe gegeben.
Kaya kniete noch immer vor der Klippe, ihr Blick glitt entlang der meterhohen Mauern des Labyrinths.
Dann entdeckte sie plötzlich etwas, dass ihr auf den ersten Blick beinahe entgangen war. „Sektion 8", las sie. „Was?", verdutzt runzelte Nick die Stirn. „Da. Sektion 8. Da steht es.", sie deutete auf den dünnen, weißen Schriftzug, der die orangefarbene, rostige Metallwand zierte.
„Ich fasse es nicht", murmelte Newt, den Blick auf den Schriftzug gerichtet. „Das sehe ich auch zum ersten mal", entfuhr es Nick, der neben Kaya hockte und auf die Wand über ihm starrte. „Na klar, das Labyrinth muss in Abschnitte unterteilt sein...", Newt zog die Augenbrauen tief in die Stirn, eine Hand hielt er zum Schutz vor der sonne vor sein Gesicht.
„Die Wände!", entfuhr es Kaya plötzlich. „Was, wenn sie sich deshalb jede Nacht verschieben?"
Das kreuzen und scharren der Wände hörten die Lichter jede einzelne Nacht aufs neue.
Entgeistert sahen die beiden Jungen Kaya an. „Na klar...Die einzelnen Sektionen...", Newt schüttelte den Kopf, „sie öffnen sich. Jede Nacht eine neue Sektion..."
„Das wäre zumindest möglich. Wir müssen das im Auge behalten, vielleicht gibt es ja eine Art Zyklus oder sowas.", überlegte Kaya.
„Was, wenn der Ausgang nur in einer bestimmten Sektion erreichbar ist? Vielleicht muss ja eine bestimmte Sektion geöffnet sein, um uns den Ausweg überhaupt finden zu lassen.", schlug Nick vor. Newt nickte zustimmend: „Klar, das klingt einleuchtend. Fragt sich bloß, wo dieser neppige Ausgang sich versteckt.", Newt sah sich um, dann fiel sein Blick auf die Digitaluhr, die sein Handgelenk dekorierte.
„Ich fürchte, diese Expedition müssen wir auf ein nächstes Mal verschieben. Wir müssen zurück, uns bleiben nur noch drei Stunden, bis die Mauern sich schließen. Und der Rückweg...", sein Blick fiel auf Kaya, „ist immer schlimmer, als der Weg hierher."
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