004 ― Griewerschreck
"Guten Morgen, Greenie."
Newt lehnte über ihr, als Kaya die Augen aufschlug. Eine leichte Brise wehte über die Lichtung, die in tiefer Dunkelheit vor ihr lag.
"Komm mit, ich zeig' dir was."
In ihrem Hirn löste sich eine Stimme: Geh' niemals mit Fremden mit, doch im nächsten Moment kam sie sich schon dämlich vor, überhaupt darüber nachgedacht zu haben. Wo sollte er schon großartig mit ihr hingehen, hier, auf einer viereckigen, von Mauern umzingelten Lichtung war absolut keine Möglichkeit, sie großartig zu entführen oder ihr ähnliches anzutun.
Also erhob sie sich langsam, rieb sich den Schlaf aus den Augen und streckte sich einmal, bevor sie Newt folgte.
Der Rasen war kühl, fühlte sich unter den nackten Füßen jedoch gut an.
"Wo gehen wir hin, Newt?", fragte sie schlussendlich doch, nachdem sie sich eine Zeit lang auf die Zunge gebissen hatte, aus Angst, die Frage wäre dumm. "Wirst du gleich sehen. Hier-"
Newt schob eine Efeuranke beiseite und offenbarte eine dicke Glasscheibe, die in die steinerne Mauer eingelassen war.
"Was soll das, Newt?"
Verwirrt sah Kaya durch das Glas. Sie sah nichts als noch mehr Steine und Efeu. "Warte ab. Nicht schreien, verstanden?"
Kaya löste ihren Blick vom Glas und sah Newt in die Augen. "Ich warne dich nur vor."
Jetzt hämmerte Kaya's Herz doch etwas wilder.
Nach einer Weile, die Kaya auf die Glasscheibe glotzte hörte sie ein surren. Es klackerte. Dann schmatzte es. "Was zum...-"
Kaya konnte den Satz nicht beenden.
Verängstigt schlug sie beide Hände vor ihren Mund, um nicht zu kreischen. Hysterie ergriff sie, eisige Kälte bahnte sich ihren Weg ihren Rücken hinab.
Ein ekelerregendes, schleimiges Vieh saß hinter der Glasscheibe. Es war halb mechanisch, halb tierisch.
Wiederwertige, spitze Stacheln prangten aus dem Rücken des Wesens, Beine aus Stahl zierten die Seiten, ein Stachel, wie der eines Skorpions, saß wie ein Schwanz am Hinterteil. Du kennst das, Kaya. Hab keine Angst. Eine sanfte Stimme, die Kaya kannte, hallte in ihrem Kopf wieder. Dann riss Newt sie aus ihren Gedanken: "Griewer. So nennen wir die."
Newt's Stimme ließ Kaya zusammenzucken. "Tut mir leid, wollte dich nicht noch mehr erschrecken."
Kaya ließ die Hände, die sie vor ihre Lippen gepresst hatte, um sich selbst vom aufschreien zu hindern, fallen. Newt ließ die Efeuranke, die er beiseite geschoben hatte, sinken.
"Diese Biester...Sind die immer in dem Labyrinth? Ich meine...Auch wenn ihr darin rumrennt?"
Kaya machte sich ernsthaft Sorgen um die Läufer. "Nein. Die kommen nur nachts. Ist selten, dass man tagsüber einem über den Weg läuft."
Kaya atmete erleichtert aus, während sie nickte.
"Heute wird Alby dich nochmal einführen. Er kann dir eine Menge mehr über den Laden hier erzählen, er war einer der ersten, die hier gelandet sind. Und ab morgen fängst du dann an, die Jobs kennenzulernen."
Kaya nickte. Praktikum. Das kann ja heiter werden. "Schock verarbeitet?", wollte Newt jetzt wissen.
"Naja, nicht wirklich. Ich glaube, ich kann die nächsten paar Stunden nichts essen, ohne dass mir was hochkommt."
Newt grinste schief: "Solltest du aber. Du wirst viel Kraft brauchen, um mit den Strünken hier zurecht zu kommen", er nickte in Richtung des kleinen Waldes, in dem sich die Hängematte der meisten Lichter befanden.
"Da hast du vermutlich nicht ganz unrecht. Trotzdem...dieses Vieh hat mir vorerst den Appetit verdorben."
Newt lachte. "Das glaube ich dir...Komm, die anderen schlafen eh noch. Kannst mir und den anderen Läufern Gesellschaft leisten, bis die Mauern aufgehen."
Er warf einen Blick auf die Uhr, die sein linkes Handgelenk zierte. Diese war Kaya zwar bereits aufgefallen, aber irgendwie war sie ihr irrelevant vorgekommen.
"Bekomme ich auch so eine?", wollte sie wissen.
"Tut mir leid, Frischling. Die ist den Läufern und Hütern vorbehalten."
Kaya hob eine Augenbraue. "Hütern?"
"Die Chefs. Die, die sich um alle kümmern, die den Job ausüben, den sie bewachen."
"Bist du Hüter?"
"Nein. Nick ist Hüter der Läufer. Aber momentan läuft er nicht. Bänderdehnung im rechten Fuß, sagt Jeff. Minho meint, es wäre Faulpelzeritis."
Kaya lachte. Faulpelzeritis. Sehr ernst zu nehmende Erkrankung, garantiert.
"Keine Sorge, der wird wieder. Nick ist hart im nehmen. Sonst wäre er nicht Läufer geworden", beruhigte Newt sie schmunzelnd.
"Wie wird man Läufer?", wunderte sich Kaya nun.
"Zunächst durchläuft jeder Frischling alle Jobs ein paar Tage. Da stellt sich meist ein Talent heraus. Kochen, Bauen...Irgendwas, das nützlich ist. Läufer sind die, die neben guter Kondition, Ausdauer und einem guten Orientierungssinn Intelligent genug sind, sich Wege und Auffälligkeiten zu merken. Und wenn du nichts von alle dem hast, was ich mir bei bestem wollen nicht vorstellen kann, wirst du Schwapper. Das sind-"
"Der Toilettendienst. Ich weiß schon."
Newt grinste. "Genau."
Irgendetwas in Kaya wollte Läuferin werden. Aber das schien unmöglich, schließlich kam sie sich weder hochintelligent, noch sehr sportlich vor. Außerdem würde ein Haufen Jungen sie vermutlich niemals zur Läuferin, dem vermutlich strapazierendsten Job auf der Lichtung, werden lassen - schließlich war sie ja bloß ein Mädchen.
Nach ein paar Minuten erreichten Kaya und Newt eine kleine Holzhütte.
"Morgen Newt...Kaya?", Minho, der Asiate, den Kaya nun schon oft gesehen, mit dem sie jedoch nie wirklich ein Wort gewechselt hatte, legte die Stirn in Falten, als er sie sah. Er hatte ein paar Laufschuhe vor sich liegen, trug kurze Hose und T-Shirt und sah ein bisschen aus, wie ein Typ, der täglich ins Sportstudio ging. Ein richtiger Aufreißer-Typ, dem, wenn denn hier welche außer Kaya gewesen wären, bestimmt viele Mädchen verfallen wären. "Ich habe ihr einen Griewer gezeigt", erläuterte Newt. Minho nickte. "Habe gar keinen Schrei gehört", warf Minho ein.
"Sie hat nicht geschrien", erklärte Newt und klang dabei fast ein bisschen stolz, während er aus einem Schrank noch ein paar Laufschuhe kramte. "Wie? Geheult?"
Kaya schüttelte den Kopf.
"Sicher, dass du 'n Mädel bist?"
Minho schnürte seine Schuhe zu, während er sie stirnrunzelnd betrachtete. "Pff, willst du jetzt nachsehen oder was?", fragte Kaya schnippisch.
"Schon okay, du kleiner Griewerschreck."
Kaya schmunzelte. Minho war wirklich ziemlich sympathisch.
"Vielleicht sollte sie meine Stelle übernehmen", ertönte plötzlich Nick's Stimme hinter ihr. "Ja, logisch. Mach die direkt zur Hüterin, sie ist ja auch erst seit gestern da", murrte Minho. "Neidisch?", fragte Nick. Minho lachte: "Pah, ich? Niemals. Du kannst deine Stelle schön behalten, Freundchen! Werd' bloß schnell wieder gesund, ich halt's keine fünf Minuten mit Blondie im Labyrinth aus!"
Er nahm Newt, der gerade dabei war, einen Schuh zuzuknoten in den Schwitzkasten. Nick fing an zu lachen. "Ach, so eilig habe ich es damit nicht. Ich habe ja jetzt wundervolle Gesellschaft, nicht wahr, M'Lady?"
Nick stupste Kaya an der Schulter, deren Wangen sich augenblicklich rosa färbten.
"Verzieht euch, ihr Turteltäubchen", spottete Minho lachend, "Los komm, Blondie, auf geht's."
Die Tore öffneten sich klackernd, es dröhnte, als die Eisenstangen ihr Nachtlager in der anderen Wandseite verließen. Newt rappelte sich auf. "Pass mir gut auf sie auf, Nick. Wir sehen uns beim Abendessen!" Rief Newt den beiden zu, dann verließ er Kaya und Nick und rannte hinter Minho her, zwischen den Mauern hindurch in das Labyrinth.
"Aye aye, du hast den Kapitän gehört. Also, dann lass' uns mal was zwischen die Zähne kriegen, komm", Nick lächelte, dann lief er auf das Gehöft zu, vor dem inzwischen ein mächtiger Trubel herrschte. Frühstück, dachte Kaya, darauf kann ich eigentlich gut verzichten...
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