Kapitel 37
Das Schneetreiben war so stark geworden, dass bei der Rückkehr der beiden Herren nach Burg Draganesti niemand bemerkt hatte, dass die Kleidung Viktors blutgetränkt war. Der dicke Fellmantel konnte den Kragen, der bei der Abreise noch blütenweiß gewesen war, nämlich nicht verbergen.
»Bringt dem Grafen etwas Suppe, Brot und Braten in seine Gemächer. Und macht Wasser für ein Bad heiß.« Sebastian delegierte einige Dienstboten, nachdem er die Mäntel verstaut hatte. Viktor stand am Kamin in der Eingangshalle und versuchte, seine eisig kalten Finger aufzutauen. Doch er wusste nicht, ob es vom Schneegestöber kam oder von der Erschütterung darüber, welche teuflischen Fähigkeiten sein Leibdiener gezeigt hatte.
»Mein Herr?«
»Ja, ich komme. Ich muss aus den Kleidern raus. Der Geruch macht mich ganz verrückt ...«
Viktor ging voran, die Treppen in den Turm hinauf, Sebastian in gebührendem Abstand hinter ihm. Erst als die Tür zu seinem Gemach hinter ihnen ins Schloss gefallen war und der Diener einige Kerzen angezündet hatte, wagte es der Graf, ihn anzusehen.
Abschätzend, skeptisch, misstrauisch. Sebastian bemerkte es und seufzte.
»Dir ist doch klar, dass es da einige Dinge gibt, die du wirst erklären müssen, nicht wahr?«
»Ja, Herr.« Der Diener entfachte den Kamin neu, damit das Zimmer warm war, wenn das Badewasser gebracht wurde und holte den Zuber aus der angrenzenden Kammer.
Viktor beobachtete ihn dabei und nahm in einem Sessel Platz. »Zeit zu schinden wird es nicht leichter machen.«
Sebastian verneigte sich leicht. »Das tue ich nicht. Ich möchte nur nicht unterbrochen werden von der Dienerschaft, also bereite ich alles vor und erzähle es Euch, während Ihr Euer Bad nehmt und esst ... wenn es recht ist?«
»Ah, nun gut. Denn ich muss gestehen, ich brenne förmlich auf eine Erklärung.«
»Ihr ... fandet mich nicht anmaßend? Ich habe Euch schwach dastehen lassen, das bedauere ich zutiefst.«
Der Adlige blickte gedankenverloren auf den Teppich. »Weißt du, ich war es. Ich weiß nicht, was er getan hat, doch ich konnte keinen Muskel rühren. Meinst du nicht, sonst wäre ich dem Angriff mit dem Messer entgegengekommen? Ich bin geschult darin und kann mich selbst verteidigen. Wenn ich mich hätte bewegen können. Wenn du nicht ... eingeschritten wärst, hätte er mir wohl den Kopf abgeschlagen oder dergleichen ...«
»Schreckliche Vorstellung ...«
Einige Zeit später, in der Sebastian die Nachtwäsche für Viktor zurecht gelegt und das Bett aufgeschlagen hatte, klopfte es verhalten an der Tür und einige Mädchen betraten das Zimmer. Drei von ihnen trugen jeweils zwei Eimer mit heißem Wasser und zwei weitere Tabletts mit Suppe, Braten, Brot, Tee und Gewürzwein.
»Danke. Stellt alles ab. Ihr könnt dann zu Bett gehen, wenn ihr wollt.« Die jungen Mädchen knicksten vor ihrem Herrn und nickten dann Sebastians Worten zu.
»Wir wünschen eine gute Nacht, Graf«, sprach eine stellvertretend für alle und sie gingen wieder.
»Ich bewundere, wie diese zarten Dinger die schweren Eimer in den Turm hochtragen. Manchmal denke ich, ich sollte Gemächer in einem der Flügel wählen, wie damals, als ich noch ein Knabe war.«
Der Leibdiener goss den Inhalt von fünf der sechs großen Eimer in den Zuber und lächelte. »Eure Anteilnahme an der Arbeitsbelastung des Gesindes ehrt Euch. Doch diese Räume waren schon die Eures Vaters und sie gebühren dem Fürsten, der Ihr seid. Kommt, bevor das Wasser zu sehr auskühlt.«
Zischend ließ Viktor sich schließlich in das dampfende Nass eintauchen, während Sebastian das übrig gebliebene Wasser in dem sechsten Eimer dazu verwandte, die blutgetränkte Schalkrawatte und das Hemd einzuweichen.
»Ich hoffe, die Flecken gehen wieder heraus«, sinnierte der Diener, bevor er den Tisch an den Zuber heranrückte, damit der Graf speisen konnte. »Darf ich noch einmal nach Eurem Hals sehen?«
Viktor nickte und nippte an seinem Weinkelch. »Es ist nichts mehr zu spüren. Ich hätte gedacht, durch eine silberne Klinge würde mehr Schaden entstehen. Doch ich gestehe, es tat schon ziemlich weh ...«
»Hm, nein, es ist auch nichts mehr zu sehen. Gut so. Ihr habt genug Blut an die Kleidung verloren. Wie fühlt Ihr Euch? Hungrig? Ihr wisst schon ...«
»Es geht mir gut. Nur unsäglich neugierig bin ich. Also verrate mir, was da im Jagdschloss geschehen ist. Was bist du? Um es mit Sandringhams Worten zu sagen.«
Sebastian nahm auf einem Stuhl seinem Herrn gegenüber Platz und ergriff ein Stück Brot, nachdem Viktor ihn mit Gesten ermutigt hatte, an seinem Mahl teilzuhaben.
»Ich ... eigentlich gibt es nicht so viel zu sagen. Und doch fürchte ich Euer Urteil. Mich sollte das von Gott ängstigen, doch ich denke, ich habe meine Schuldigkeit diesbezüglich bereits getan ... ich fürchte Eure Ablehnung mehr als jede himmlische Strafe ...«
»Himmel, Mann, was hast du nur angestellt?«
Sebastian kratzte sich am Ohr und man konnte beinahe körperlich spüren, wie unwohl er sich fühlte.
»Ich ... nun ... wie soll ich es sagen ...«
»Frei heraus? Das ist ja sonst auch nicht gerade eine Schwäche von dir.«
Der Leibdiener straffte sich und sah seinem Herrn ins Gesicht. »Vor acht Jahren, etwa, ging ich ... einen Pakt mit dem Teufel ein. Ich verkaufte meine Seele für die Erfüllung eines Herzenswunsches ...«
Viktor hielt in der Kaubewegung inne und starrte Sebastian an. Minuten verstrichen, in denen keiner von beiden etwas sagte, bis der Graf sich schließlich räusperte.
»Also ... das ist der Grund, warum du um keinen Tag gealtert bist? War das der Wunsch?«
Kopfschüttelnd seufzte Sebastian. »Nein. Das ist die Strafe. Das und einhundert Jahre in der Hölle ...«
»Das ... verstehe ich nicht.«
»Ich war nicht wirklich so lange dort ... genaugenommen mag es vielleicht gerade eine Stunde gewesen sein. Doch es kam mir vor wie ein Jahrhundert. Die Zeit dort vergeht anders als hier. Ich weiß nicht einmal, ob es real gewesen ist.«
»Und doch alterst du nicht mehr und hast einen Messerstich überlebt, der dich hätte töten müssen. Zumindest das ist echt.«
Sebastian nickte.
»Und nachdem du deine Zeit abgesessen hattest ... wurdest du weiter damit gestraft, für immer zu leben? Ist die Vermutung richtig?«
»Ja ... Unvergänglichkeit als Fluch. Als Strafe für den Hochmut, das Einzige hergeschenkt zu haben, was es wert gewesen wäre, unsterblich zu sein. Die Last des Lebens, bis in alle Ewigkeit. Versteht Ihr nun, warum ich es nicht bedauern kann, was aus Euch geworden ist? Ich fürchtete von dem damaligen Moment an den Tag, an dem der Tod Euch würde holen kommen. Denn was sollte ich mit meinem Leben schon anfangen? Das einzige, was ich kann, ist Diener sein. Doch ich möchte niemals jemand anderem dienen als den Draganestis, Euch. Denn Eurer Familie verdanke ich, dass ich noch lebe.«
Viktor ließ sich etwas in den Zuber gleiten und pustete über die Wasseroberfläche. »Ich nehme an, ich sollte zutiefst erschüttert sein, dich verfluchen, der Ketzerei beschuldigen, der Blasphemie und aller Sünden, derer ein Christ sich schuldig machen könnte. Doch mit welchen Recht täte ich das. Ich bin nicht weniger ein Monster in den Augen der Kirche, vielleicht Gottes, als du es bist. Offengestanden beruhigt es mich, zu wissen, dass ich mein neugewonnenes Dasein nicht allein verbringen muss ...« Er lächelte leicht und man konnte sehen, wie der angespannte Rücken Sebastians sich bei den Worten seines Herrn entspannte.
»Wir waren schon immer ein sonderbares Gespann. Aber das übertrifft doch alles«, kicherte der junge Graf und leerte seinen Weinkelch.
»Herr?«
»Ja?«
»Ich bin zutiefst dankbar.«
Viktor lachte. »Ach bitte, Sebastian. Das ist doch purer Eigennutz von mir, dich zu behalten. Ich würde sterben ohne deine Hilfe, ich bin doch hilflos wie ein Kind in manchen Dingen. Ist es vermessen, froh darüber zu sein, niemals meinen Diener zu verlieren? Vorausgesetzt natürlich, dass du das willst.«
»Immer, Master.« Der andere Mann lächelte.
»Na, wer weiß, was uns die Zukunft bringt ... ich bezweifle ohnehin, dass es uns noch sehr lange vergönnt sein wird, hier unser gewohntes Leben fortzuführen. Ich meine ... die Leute reden schon jetzt darüber, dass du, der du nahezu vierzig bist, noch immer wie dreißig aussiehst. Das Misstrauen ist bereits da und das können wir uns nicht leisten. Vielleicht ... ist es an der Zeit, die Zelte abzubrechen. Julieta meinte einmal, ich würde hier mein Dasein fristen wie in einer Gruft, unfähig auszubrechen, weil die Last der Verantwortung, die mein Name mit sich bringt, auf mir liegt. Und ich glaube, sie hatte Recht.«
»Ihr wollt Schloss Draganesti verlassen? Transsylvanien hinter Euch lassen?«
»Ich denke daran ...«
»Was wird aus dem Gesinde? Eurem Volk?«
Der Graf tauchte bis zu den Augen im Zuber unter. Daran hatte er natürlich auch bereits gedacht. Es war ein Leichtes, seinen Titel vakant zu geben und die Bojaren einen neuen Fürsten von Bistrien wählen zu lassen. Denn so wurde es ursprünglich seit Generationen gemacht. Viktor hatte den das Amt nur zufällig und eigentlich gegen die üblichen Sitten von seinem Vater geerbt.
Natürlich machte er sich Gedanken, was ein anderer Regent an Neuerungen für das Volk mit sich bringen würde. Ihm selbst war immer daran gelegen, dass es gerecht zuging; dass niemandem mehr genommen wurde, als er geben konnte, ohne selbst hungern zu müssen; er wollte verhindern, dass Armut und Not grassierten. Doch er wusste auch, dass andere Adlige derlei Dingen oft anders gegenüber standen, dass es Edelleute gab, die ihre Untertanen bis auf den letzten Pfennig und das letzte Ei ausquetschten und sich nicht darum scherten, dass diesen Bauern wegen dieser Grausamkeit vielleicht die Kinder vor Hunger starben.
Andererseits konnte Viktor es nicht riskieren, dass das Volk wegen der Tatsache, dass Sebastian nicht alterte, misstrauisch wurde. Und es würde nur noch wenige Jahre brauchen, bis man dies auch bei ihm selbst würde sagen können. Freilich könnte er seinen Diener wegschicken, um die Quelle des Tratsches auszumerzen. Doch das wollte Viktor nicht. Von allen Menschen, die er zu seiner Familie gezählt hatte, war nur noch Sebastian übrig und lieber würde er alles hinter sich lassen, als ihn wegzuschicken. Zumal der das gar nicht wollte, sondern ebenso danach strebte, bei seinem Herrn zu bleiben.
»Wir haben gar keine Wahl ... Es bliebe einzig, dich wegzuschicken, nur um dir in längstens zehn Jahren zu folgen, wenn man auch bei mir bemerkt, dass die Zeit keine Folgen auf mein Antlitz hat. Doch was soll ich ohne dich hier, wo du der einzige Gesellschafter bist, den ich habe. Bleiben wir jedoch, riskieren wir womöglich einen Aufstand, Verfolgung, den Niedergang der Burg meiner Vorfahren, den Tod aller, die sich hier in diesen Mauern befinden. Und das nur meinetwegen. Das werde ich nicht verantworten.«
Sebastian nickte. Auch ihn hatten diese Gedanken schon eine Weile beschäftigt. Die Tatsache, dass sein Gesicht sich nicht veränderte, war allen im Schloss, auch Graf Viktor, bereits vor mehr als einem Jahr aufgefallen. Er, Sebastian, sah zu jung aus für die achtunddreißig Jahre, die er alt war. Er hätte sich, wäre dies mit seinem Herrn nicht geschehen, in den nächsten Monaten auch etwas einfallen lassen müssen. Er hätte vermutlich auch nicht bleiben können, ohne dass die Mutmaßungen immer lauter geworden wären. Es entlastete sein Gemüt, dass er nun, in der Aussicht, sein Zuhause verlassen zu müssen, dabei nicht allein sein würde.
»Wollt Ihr diese Pläne augenblicklich in die Tat umsetzen oder wartet Ihr noch etwas?«
Viktor trank aus dem frisch aufgefüllten Kelch und zerkaute ein Stück Braten, bevor er zu einer Antwort anhob. »Zuerst warte ich ab, ob Sandringham von Schloss Lugosy verschwindet. Ich werde meine Burg nicht verlassen, solange er im Land ist! Und dann gibt es Dinge zu erledigen. Ich kann nicht einfach so verschwinden, du hast völlig Recht. Ich habe Verantwortung den Menschen gegenüber, die hier leben und arbeiten.«
»Das klingt nach einem ordentlichen Stück Aufwand in den nächsten Tagen ...«
»Womit wir anfangen werden, sobald die Sonne aufgeht. Die Bojaren müssen versammelt werden. Oh, was wird das für ein Hauen und Stechen werden, weil doch alle danach lechzen, meinen Titel zu bekommen. Und das fruchtbare Land dahinter.«
Sebastian, dessen Schultern wie von einer Last befreit waren, füllte sich den Teller und begann, nun endlich richtig zu essen. Es dauerte ihn, das Schloss bereits so bald wie möglich zu verlassen und auszuziehen in unbekannte Welten. Doch sein Herr hatte natürlich Recht. Er war ein Strigoi und Sebastian hatte einen Pakt mit dem Teufel gemacht, was ihn zur Unsterblichkeit verdammt hatte.
Wie würden sie hier, in diesem abergläubischen Land, noch in Frieden und ohne Angst vor Entdeckung leben können? Viktor hatte schon sein Leben lang Furcht davor haben müssen, dass man seine romantische Vorliebe für Männer entdeckte, was ihm den Schandkragen und öffentliche Erniedrigung eingebracht hätte. Ein Strigoi zu sein, würde ihm eine Verbrennung auf dem Marktplatz von Bistritz bringen, mit Wochen oder gar Monaten der Folter vorher. Oder eine Hinrichtung wie ein Stück Vieh, mit einem Holzpflock ins Herz oder einer schmählichen Enthauptung.
Nein, es war kein Leben, wenn man sich zu sehr würde verbergen müssen. Es war ausreichend, dazu gezwungen zu sein, alle paar Jahre die Gefilde zu wechseln. Doch das würde wohl fortan ihr Alltag sein.
»Weißt du, was ich mich frage?«
»Sagt es mir, Herr.«
»Sandringham ... wenn er ein Strigoi ist, wie viele mag es wohl noch in der Welt geben. Was meinst du?«
»Ich weiß es nicht. Beliebt es Euch, das herauszufinden? Andere zu treffen? Es würde Euch sicher enttäuschen, wenn diese so denken würden wie er.«
»Es entbehrt zumindest nicht eines gewissen Reizes, ich muss es gestehen. Ich bin in der Tat neugierig.«
»Na ich denke, wir werden künftig genug Möglichkeiten haben, dies in Erfahrung zu bringen, meint Ihr nicht?«
»Nun, an Zeit mangelt es uns beiden ja nicht mehr ...«
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