Kapitel 2
Rumänien, Sommer 1436
Die untergehende Sonne warf einen harten Schlagschatten auf die Sonnenuhr inmitten des Schlosshofes. Man hörte Vögel singen, es duftete nach Rosen, Geißblatt und Jasmin, die in sommerlicher Blüte in den Gärten wuchsen, verschwenderisch ihre Pracht mit der Welt teilten und alle mit ihrem Duft betörten, so sehr, dass es berauschte und einen umhüllte wie ein unsichtbarer Schleier.
Es war ein wunderschöner, warmer Tag, der milde Wind ließ die satten, grünen Bäume der Wälder flüstern und alles wirkte friedlich. So als wollte die Natur darüber hinwegtrösten, dass es so etwas wie Leid in der Welt gab.
Wie konnte es Tod geben, wenn doch das Leben so verschwenderisch vorhanden war, so blühend, so voll?
Der Mann spürte die Wärme auf seiner Haut nicht. Und er roch auch den betörenden Duft der Blumen nicht.
Ihn umgab eine Kälte wie im tiefsten Winter, fühlte sich, als wäre jede Empfindung in ihm verkümmert, vertrocknet. Er spürte nicht den Sommerwind in seinen langen Haaren und empfand den fröhlichen Gesang der Vögel als fürchterliches Geschrei in seinen Ohren, wie das Schreien sterbender Kreaturen, gekommen um ihn zu peinigen.
Der Schlagschatten der Sonnenuhr kam ihm vor wie ein Beil, das ungebremst und unweigerlich auch den Faden seines Lebens durchtrennen würde.
Doch was kümmerte es ihn. Was hatte er nun noch zu verlieren, wo bereits alles verloren war, für das er gelebt hatte?
Wie ein unheiliges Mantra hatte sich die Litanei des Priesters in sein Ohr gebrannt.
»Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser«, sang er immer wieder in seinem Kopf, ohne dass seine Lippen selbst sich bewegten. All die Zeit hatte der Trauerzug unter Führung des Geistlichen dieses Gebet gesungen, um den Toten das letzte Geleit zu geben. Erst in der Kirche war es endlich verklungen, dieses Klagelied, das er sein Lebtag nie wieder vergessen würde, bis es eines Tages für ihn gesungen werden würde.
Doch wer würde das tun? Er hatte keinen Erben mehr. Keine Gemahlin. Wer würde ihn in der Kirche segnen lassen? Wer würde dann seinen Leichnam zum Grabmal der Draganestis geleiten und ihn dort zur Ruhe betten?
Schmerz übermannte ihn, den er unterdrückt hatte, seit er gewusst hatte, dass er sie verlieren würde.
Seine geliebte Julieta, seine Seelenverwandte, die ihn besser gekannt hatte als je ein Mensch vor und nach ihr. Die ihm eine treue Gefährtin gewesen war trotz all seiner Sünden und seiner dunklen Geheimnisse.
Gott hatte ihn gestraft für all das, hatte ihm die Liebe genommen, die ihm niemand würde ersetzen können. Und er hatte ihm die Zukunft geraubt.
Die Zukunft, die er in den Augen Gabriels gesehen hatte, seines geliebten Sohnes, für den er Gott jeden Tag seines Lebens gedankt hatte.
Wogen seine Sünden schwerer als dessen reine Seele? Was hatte er getan, um den Verlust des Kindes zu verdienen? War er wirklich so ein verderbter Mensch? Hatte seine Schuld Gabriel verdammt?
Erschaudernd und mit schmerzender Kehle schloss der junge Mann die Augen und schluckte schwer, als die Erinnerung an seine Gemahlin; jung und schön und doch verblasst, und sein geliebtes Kind, blass und doch, als würde er nur schlafen; vor seinem inneren Auge erschien.
Wie konnte Gott so etwas zulassen? Wie konnte er seine gläubigen Untertanen; Männer, Frauen und Kinder, fromm und tüchtig; in solches Elend stürzen? War er nicht ein barmherziger Gott? Erfreute er sich gar an der Gram der Hinterbliebenen, die sich nichts sehnlichster wünschten, als bei ihren verlorenen Lieben zu sein? Dasselbe kalte Lager mit ihnen zu teilen, nur um nicht an der Last des Lebens zu zerbrechen? Erfreuten ihn die Tränen der Frau, die ihren Gemahl zu Grabe tragen musste? Die der Kinder, die nun ohne ihre Eltern überleben mussten? Ergötzte er sich an dem Leid des Vaters, der seinen Sohn, kaum dem Kindbett entwachsen, bereits wieder in Gottes Arme übergeben musste?
Nach Luft ringend stemmte sich der junge Mann auf die Sonnenuhr, deren Schatten erloschen waren, da die Sonne hinter den hohen Schlossmauern verschwunden war, und stieß ein verzweifeltes Geräusch aus. Seine Knie knickten ein, als sich all die angestaute Trauer und die Angst, die er in den letzten Tagen vor dem Verlust seiner Familie ausgestanden hatte, Bahn brach. Er sank an der Uhr zu Boden und kauerte sich wie ein Hund gegen den kalten Stein. Schmerz übermannte ihn und unter den fest gegen das Gesicht gepressten Händen rannen Tränen hervor, von denen er gehofft hatte, sie würden seine Pein lindern.
Stattdessen verursachten sie ihm nur mehr Schmerz. Er wollte schreien, sich zerreißen, um das Leid abzuschütteln, doch er konnte sich kaum rühren.
Es kümmerte ihn nicht im Geringsten, dass er mitten auf dem Hof am Boden lag, dass all sein Gesinde ihn vom Schloss aus in dieser wenig herrschaftlichen Situation würde sehen können und was sie wohl von ihrem Herrn denken würden, wenn dieser sich derartig gehen ließ.
Nichts auf dieser Erde kümmerte ihn in dieser Sekunde des Schmerzes, der dem Tod gleichkam und doch wieder nicht, denn der Tod würde ihn taub werden lassen. Aber so fühlte er sich nicht.
Seine Brust schmerzte wie eine offene Wunde und verzweifelte Klagelaute, nicht enden wollender Kummer, schüttelten ihn.
»Mein Herr«, ertönte eine sanfte Stimme und starke Hände zogen ihn von der Sonnenuhr weg und auf die Beine. Mit ebenso bekümmertem Gesicht hielt der Butler, Sebastian Romanescu, seinen Herrn, den jungen Grafen Viktor Draganesti, in den Armen und half ihm ins Schloss.
»Lass mich liegen und sterben, Sebastian!«, knurrte dieser und versuchte, sich loszumachen. Er strauchelte und fiel auf die Knie. »Lass mich einfach sterben. Was soll es denn jetzt noch? Es ist alles vorbei.«
Sebastian seufzte mitfühlend und zog seinen Herrn wieder auf die Beine.
»Ihr wisst, dass ich das nicht kann, Herr. Ich bin für Euch verantwortlich. Und Eure Gemahlin hätte nicht gewollt, dass Euch ein Leid widerfährt.«
Der Butler geleitete den Grafen in seine Gemächer und ließ ihn auf dem Bett Platz nehmen. Kraftlos blieb er dort, mit gebeugtem Rücken und wie ein alter Greis wirkend, hocken und wischte sich zitternd über die Augen.
»Sag, Sebastian, ist meine Sünde tatsächlich so groß? Ist es meine Schuld, dass sie dieser Seuche erlegen sind? Und warum sie? Und nicht ich. Ich bin doch der, der sich gegen Gottes Pläne versündigt hat.«
Der Butler blickte seinen Herrn einen Moment an, ohne dass sein Gesicht etwas über seine Gedanken verraten hätte. Er dachte an seine eigene Sünde, die so viel schwerer war als die, die sein Master glaubte, begangen zu haben, und schüttelte schließlich den Kopf.
»Nein, mein Herr. Diese Krankheit ist eine bedauerliche Katastrophe. Doch ich glaube nicht, dass sie die Strafe für etwas war, das Ihr getan habt. Die Trauer spricht aus Euch. Ihr müsst Euch ausruhen. Ihr habt seit den Gedächtnisandachten nicht mehr geschlafen. Bitte, lasst mich Euch helfen.«
Geschickt half Sebastian seinem entkräfteten Herrn aus den umständlichen Kleidern, die er zur Aussegnung getragen hatte. Sie waren schwer, bedrückend und schwarz und der junge Graf hasste sie. An ihnen haftete der Tod so vieler Menschen, für die er die Verantwortung gehabt hatte und er hatte sie nicht beschützt! Sein Vater hätte, würde er noch leben, keinen Grund, um stolz auf ihn zu sein.
»Verbrenn' sie«, raunte er heiser, als der Butler die kostbaren Gewänder auf Bügel legen wollte. Dieser nickte nur und verließ nach einer kurzen Verbeugung das Zimmer.
Nur in einem Nachthemd trat Graf Viktor auf seinen Balkon und blickte auf das Land hinunter. Rauchschwaden erhoben sich in den Himmel. Überall brannten die Scheiterhaufen derer, die man nicht der Erde hatte zuführen können. Die Seuche, der schreckliche Typhus, hatte einfach zu viele von seinen Untertanen auf einmal genommen. Auch unter seinem Gesinde hatte es viele treue und tüchtige Leute getroffen, über deren Verlust er mindestens so betrübt war wie über den seiner Gemahlin und seines Sohnes, der erst vor wenigen Monaten seinen dritten Geburtstag gefeiert hatte und sich so sehr über das handgefertigte Schaukelpferd gefreut hatte.
»Ich hoffe, Gott«, sprach der junge Mann leise, »dass ich nun meine Schuldigkeit getan habe. Dass du mich genügend für die Sünde gestraft hast, mit der der Teufel mich verflucht hat und gegen die ich kämpfe, jede Sekunde, die ich lebe und atme. Ich hoffe auf einen Funken Frieden, ich flehe dich an.«
Erschöpft von seinem Zusammenbruch auf dem Hof ging er langsam zu seinem Bett, das sein Butler bereits für ihn aufgeschlagen hatte, und schob sich unter die leichten Leinentücher. Seine geliebte Decke aus Kaninchenfell war selbst in den kühlen Karpaten im Sommer zu warm.
Sebastian trat erneut in das Gemach und trug ein Tablett, das eine Schüssel mit Eintopf enthielt. Der Graf hatte ganz vergessen, dass im Schloss zu dieser Zeit das Abendessen eingenommen wurde, bevor man sich zur Nachtruhe begab. Er hatte gefühlte vier Tage nichts mehr gegessen, hatte vor lauter Kummer jedoch auch keinen Hunger verspürt.
Und auch jetzt war ihm der Gedanke an Nahrung zuwider. Es schnürte ihm noch immer die Kehle zu.
»Ich bitte Euch, Herr. Ihr müsst bei Kräften bleiben. Die Seuche ist noch nicht überstanden und wir alle hier brauchen Euch. Wir dürfen Euch nicht verlieren.« Der Butler schob seinem Herrn das Tablett auf den Schoß und während dieser sich zwang, etwas von der dicken Brühe hinunterzuwürgen, zündete der fleißige Diener einige Kerzen an, die den Raum mit warmem Licht erfüllten.
»Dieses Gemach fühlt sich falsch an«, sprach Graf Viktor leise und spuckte ein zähes Stückchen Fleisch aus. »Es ist verkehrt, zu wissen, dass Julietas Räume nebenan fortan leer stehen werden...«
»Wenn es Euch beliebt, werde ich Euch ein anderes herrichten für die Zukunft?«
»Nein, mach dich nicht lächerlich. Welches Signal würde ich dem Gesinde geben, wenn ich dieser Schwäche nachgäbe?«
Sebastian nickte leicht und wagte nicht, noch nicht, den Gedanken auszusprechen, dass sein Herr nach einer angemessenen Trauerzeit eine neue Vermählung würde eingehen können. Er glaubte jedoch auch zu wissen, dass dies nicht geschehen würde.
Gräfin Julieta war des Grafen Seelenverwandte, eine enge, treue und geliebte Freundin bereits aus Kindertagen. Es gab nur sie und ihn, den Butler selbst, die das Geheimnis kannten, welches den Herrn mit Schuldgefühlen belastete.
Graf Viktor würde niemals wieder heiraten, dessen war sich Sebastian sicher. Er würde kinderlos sterben und mit ihm das Geschlecht der Draganestis. Dieser Gedanke bekümmerte den Butler, doch er würde an der Seite seines Herrn stehen, bis zum Ende.
»Danke, Sebastian. Lass mich nun ruhen. Ich habe das Gefühl, einhundert Jahre schlafen zu können.«
Der Angesprochene nahm dem anderen das Tablett wieder ab und verneigte sich leicht.
»Was soll ich mit den Einladungen zu den Festlichkeiten machen, die während der Trauerfeierlichkeiten eingegangen sind?«
Graf Viktor hatte sich unter seine Tücher gleiten lassen und murmelte bereits im Halbschlaf: »Verbrenn' sie. Und schreib' den Absendern, sie sollen verdammt nochmal in den Bauch ihrer Mütter zurückkriechen und mich in Ruhe lassen...«
Sebastian löschte die Kerzen im Raum und verließ das Gemach, gewiss, dass er freundlichere Worte für eine Ablehnung finden würde.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro