Kapitel 6 - Sackgasse
Liedempfehlung für dieses Kapitel:
Game of Lies von Robert D. Sands
Auf unserer VAESEN Playlist bei Spotify Lied Nr. 1
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Tatsächlich gab das kleine Wesen seine Befreiungsversuche auf. Wie eine Marionette ohne Fäden hing es in seinem Griff und klammerte sich am Gelenk fest, um etwas Halt zu finden. Die vielen Perlen in dem wilden, strohgelben Haar klirrten hölzern, und die kleine Brust hob und senkte sich in schweren Atemzügen. Dann kniff das Wesen misstrauisch die Augen zusammen.
„Was willst du?", hörte er nach einer gefühlten Ewigkeit die keckernde Stimme, die ihn entfernt an eine Krähe erinnerte.
„Orestes, der Hehler – wo versteckt er sich?"
„Orestes?" Zane sah, wie sich die schwarzen Augen wieder weiteten. „Ich kenne keinen Orest-"
Noch bevor der kleine Schwindler ausreden konnte, hatte sich sein Griff um dessen Kehle wieder verhärtet und drückte fest zu. Zane spürte das Fleisch unter seinen starken Fingern und konnte mit seinem scharfen Gehör förmlich hören, wie die Knochen unter dem Druck ächzten ... nur ein wenig weiter, und er hätte ihm das Genick brechen können wie einen morschen Zweig.
„Keine Spielchen, sonst bezahlst du mit deinem Leben!"
Kaum hatte er seine Drohung ausgesprochen, mischte sich ein neuer Geruch in den Gestank, der die Luft um ihn herum verpestete: Angst. Für ihn roch sie fast so süß wie ein lauer Sommerregen.
„Schon gut!", keuchte der Pukwudgie. „Lass mich leben!"
Zane lockerte seinen Griff, beugte sich aber gleichzeitig bedrohlich zu der Kreatur hinunter und offenbarte unter einem finsteren Knurren dabei seine Reißzähne.
„Noch so ein Versuch, und ich breche dir dein dürres Genick!"
Der kleine Kobold schluckte schwer. Zane spürte den Adamsapfel unter seinen Fingern hüpfen, bevor sich die bleichen Lippen erst zusammenpressten und dann – endlich – für die gewünschte Information öffneten:
„Orestes findest du im Schatten der alten Kathedrale, in der 13. Lichtlosen Gasse, die nach links abzweigt. Folge ihr bis zu einem bunten Stofffetzen, dahinter ist der Eingang zu seinem Laden", krächzte das Wesen heiser.
„Na also", schnaubte der Caith-Sith und ließ die Kehle ruckartig los, sodass der kleine Körper mit einem dumpfen Poltern wie ein Stück Dreck zurück auf das feuchte Pflaster fiel. Ohne sich weiter um den Gnom zu kümmern, wandte sich Zane bereits ab, als er hinter sich erneut die krächzende Stimme vernahm:
„Verflucht seist du, dumme Katze!"
Ruckartig blieb er stehen. Gefährlich langsam wandte sich sein Kopf wieder dem hässlichen Häufchen zu, das auf seine dünnen Beine gesprungen war. Seine Hände, unter dem Mantel verborgen, zuckten. Zanes Instinkt schrie danach, diese wertlose Ratte in Stücke zu reißen. Töten war ihm schon immer so leichtgefallen wie Atmen.
'Manchmal zeigt man mehr Stärke, indem man ein Leben verschont, anstatt es zu nehmen', wurde Kaies Stimme plötzlich aus seiner Erinnerung zu ihm getragen, wie Blätter von einem verspielten Herbstwind. Nur, dass sie ihm wie Klingen ins Fleisch schnitten.
Trotzdem sog Zane die Luft tiefer in seine Lungen und wandte den Blick von dem unwürdigen Wurm ab. Er hatte ohnehin keine Zeit, sich mit diesem wertlosen Abschaum zu beschäftigen.
„Du kommst Monde zu spät, um mich zu verfluchen", knurrte er stattdessen und verschwand in den Schatten der Nacht.
Wenig später schlich der verbannte Krieger durch den Schatten der Cathédrale Saint-Louis-des-Invalides, deren einst imposante goldene Kuppel nur noch eine halbverfallene Ruine war. Auf den Pfeilern und breiten Gesimsen saßen die Steinwächter und lauerten mit glühenden Augen, sodass Zane sich mit rasendem Herzen an den Trümmern vorbei duckte, ständig innehalten musste und nur langsam vorankam.
So war der Mond schon hoch aufgestiegen und warf sein silberweißes Licht auf die Stadt, als er endlich die Gasse erreichte, die ihm der Pukwudgie beschrieben hatte. Ein Teil von ihm erwartete fast, dass der hinterlistige Gnom ihm einen Streich gespielt und ihn betrogen hatte. Aber tatsächlich: am Ende einer Gasse zwischen den verfallenen Häusern wartete der durchlöcherte Stofffetzen auf ihn. Einladend, als wolle er ihn hereinwinken, tanzte der schmutzige Stoff im lauen Nachtwind.
Ein schwaches Licht schimmerte hinter dem Eingang und ließ ihn die bunten Flicken erkennen, die den zerrissenen Stoff nicht hatten retten können. Ein Blick auf das halb verfallene, kriegszerstörte Gebäude ließ vermuten, dass es sich nur um eine weitere der vielen heruntergekommenen Behausungen eines schäbigen Vaesen handeln konnte. Aber der Eindruck könnte nicht trügerischer sein, und das war auch gut so. Denn wer schmutzige Arbeit verrichtete, ließ sich besser nicht erwischen – oder verbarg sich gut unter dem Ungeziefer.
„Wie passend für einen miesen Betrüger", murmelte Zane leise, schob den Vorhang beiseite und trat in das verfallene Gebäude. Sofort schlug ihm ein widerlicher Gestank entgegen, weshalb er sich reflexartig den Mantelkragen vors Gesicht und die empfindliche Nase zog.
Im goldgelben Schein einiger heruntergebrannter Kerzen säumten Regale die Wände des kleinen Raumes. Sie waren vollgestopft mit allerlei nutzlosem Plunder wie Gläsern mit eingelegten toten Kreaturen, Knochen und anderen bizarren Überresten. Unzählige Feenflügel glitzerten in einem Glas, neben einem weiteren, das bis zum Rand mit Trollaugen gefüllt war. Truhen, manche offen, manche verschlossen, zierten die Ecken, und in einem Eimer standen ein paar Gewehre der Menschen wie Regenschirme.
Auf den ersten Blick war nichts davon atemberaubend ... aber Zane wusste es besser. Ein Hehler würde seine wertvolle Ware auch nicht einfach so zur Schau stellen. Irgendwo gab es einen geheimen Keller oder einen sicheren Raum – und dort befanden sich zweifellos die wahren Kostbarkeiten, für die eine erlesene Kundschaft mit einem Auge für das Exotische mehr Geld ausgab.
Der Besitzer dieses Gerümpels konnte also nicht weit sein.
„Hallo?", rief Zane in die Stille und trat an den Tresen, auf dem eine dieser altmodischen Tischklingeln stand, auf die er mit der Handfläche schlug. Das nervtötende Klingeln erfüllte die Luft, verstummte aber ohne Reaktion.
Zanes Stirn zog sich in Falten, und er ließ die Hand an seinem Mantelkragen sinken. In diesem Moment bemerkte er eine andere Note in der Luft und jene hätte er unter Tausenden erkannt: metallisch, eisern ... Blut.
Sofort hob er die Nase ein wenig in die Luft und in diesem Augenblick schimmerte etwas in seinen Augenwinkeln. Hinter einem Bogendurchgang aus aufgetürmten Steinen zum Nebenzimmer tastete sich das Mondlicht in den Raum – und ließ eine schwarze Pfütze auf dem kalten Stein glitzern.
Sofort umrundete der Caith-Sith blitzschnell den Tresen, und in diesem Moment wurde ihm klar, was er gerochen hatte, als er eingetreten war. Den Instinkten der Raubkatze in ihm folgend, sträubte sich innerlich sein Nackenfell, als er seine Schritte vorsichtig durch den Torbogen in das Hinterzimmer lenkte. Aufmerksam horchten seine Ohren in die Stille, um kein Geräusch zu verpassen, falls doch noch jemand hier war und ihn aus dem Verborgenen anzugreifen versuchte. Zwar waren seine Augen auch in der Dunkelheit der Nacht deutlich besser als die vieler anderer Geschöpfe, doch konnte er als Andersweltler nicht annähernd mit den Künsten der Nachtwesen mithalten.
Halb geduckt kauerte er hinter einem Regal in der vordersten Ecke, bevor er den Kopf vorstreckte. In der Finsternis schienen seine silberblauen Augen förmlich zu leuchten, als sie dem nassen Fleck folgten und seine Quelle fanden:
Neben einem umgestürzten Tisch lag inmitten von Scherben der jämmerliche Leichnam des einstigen Satyr Orestes. Seine Kehle war aufgeschlitzt und die Ziegenaugen, die alle Satyr besaßen, waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße darin erkennen konnte. Das menschenähnliche Gesicht mit dem markanten Ziegenbart war im Augenblick des Todes zu einem Ausdruck des Grauens erstarrt.
„Scheiße!", zischte Zane in die Halbdunkelheit und starrte auf den verdammten Hehler, der seine einzige Spur zu der exotischen Waffe war, mit der das Menschenpack Kaie ermordet hatte.
Nein! Das durfte nicht wahr sein!
In blinder Verzweiflung machte er einen Schritt auf den Satyr zu und kniete sich neben den Hehler. Die flache Hand auf die Brust des Wesens gelegt, spürte er noch ein wenig Körperwärme von dem Toten ausgehen – der Mord konnte noch nicht allzu lange her sein!
In einem Anflug von Geistesgegenwart beugte sich Zane näher zu dem Geschöpf, öffnete leicht die Lippen und atmete tief ein, in der Hoffnung, vielleicht noch eine Nuance wittern zu können, die ihm einen Hinweis auf den Täter geben könnte.
Genau in diesem Moment fröstelte es den Caith Sith, als ein Windhauch seinen Nacken streifte und einen ganz anderen Geruch in seine Sinne trug: Graberde und die Süße des Todes.
'Vampir!', warnte sein Instinkt und seine Muskeln spannten sich bereits kampfbereit an. Er musste verschwinden, und zwar sofort! Denn wenn sich ein Blutsauger in diese Gegend verirrte, konnte das nur eines bedeuten: Kopfgeldjäger!
„Sieh mal an ... was haben wir denn da?", ertönte just in diesem Moment eine männliche Stimme, so weich wie schwarzer Samt im Totenbett eines Sarges. „Sieht aus, als wäre heute mein Glückstag."
Wortanzahl: 1.401 Wörter
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