kleine Nachlese
Wie immer direkt nach Beendigung eines Buches sitze ich in dem berühmt-berüchtigten "ich hab nichts mehr zu tun"-Loch und muss selbst erst verdauen, was ich da eigentlich geschrieben habe. Wie immer stellt sich mir die Frage: warum um Himmels Willen hab ich denn DAS geträumt? Wie immer hat der Traum mir die Entscheidung abgenommen, ob ich eine FF oder ein "normales" Buch schreibe. Und wie immer hab ich nicht gewusst, in welche Kategorie ich dieses Buch einsortieren soll.
"Erwachseneninhalt" ist obligatorisch, dann muss ich beim Schreiben nämlich nicht auf die Wortwahl achten. Aber ist das eine FF, weil es einen elfjährigen Jimin gibt? Oder eben nicht, weil das der einzige bekannte Idol-Name ist? (Ich habe mir einen abgebrochen auf der Suche nach Vornamen, die NICHT schon durch ein Idol "verbraucht" sind. Meine Tochter hat mich dann mit K-Drama-Namen versorgt ...) Am liebsten hätte ich die Kategorie "real life, deep + ugly shit, with happy ending" Da könnte ich tatsächlich alle meine Bücher drin unterbringen.
Das Thema kam direkt nach dem Traum. VERTRAUEN WAGEN ist ein harter Stoff und eine Lebensaufgabe. Je mehr man als Kind oder Jugendliche/-r verletzt worden ist, von Erwachsenen vera*t, von Freunden verraten, von Partnern erniedrigt, von Fremden übervorteilt, genötigt, in Zwangsjacken gepresst oder schlicht fallen gelassen worden ist, desto schwerer wird es, Menschen in das eigene Haus und Herz zu lassen, die neu in unser Leben treten. Wenn ich jemand symphatisch finde, schmeiße ich gerne mein Herz vorweg, gehe immer das Risiko ein, dass ich eines Tages die Scherben werde einsammeln müssen, weil dieser Mensch mein Vertrauen missbraucht oder abgelehnt hat. Aber ich kann nicht anders. Ich bin so! Ich möchte an das Gute im Menschen glauben - bis derjenige mich leider vom Gegenteil überzeugt. Ich möchte verbinden, versöhnen, Freude verbreiten, Ohren und Herzen öffnen, Neugierde wecken, Leid lindern, Hoffnung säen. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Eigenschaften / Fähigkeiten / Phänomene das einzige sind, was unsere Welt noch retten kann - der Glaube daran, dass es eine Macht gibt, die uns zum Guten befähigt. Wertschätzung, Respekt, Würde, Freiheit, Wahrhaftigkeit. Die Gaben, Kritik anzunehmen, Fehler einzugestehen, sich ehrlich zu entschuldigen - und dann dafür Vergebung zu erfahren - sind so selten gestreut, dass sie bald wie ein Märchen erscheinen. Aber nur, wenn wir so leben und lieben, können wir unser Leben annehmen, meistern und sogar mögen. Nur wenn wir uns selbst Freiheit zugestehen, können wir anderen ihre Freiheit lassen. Nur wenn wir unsere Verantwortung sehen und ehrlich zu erfüllen suchen, können wir mit den Konsequenzen leben.
Damit stand der Titel VERTRAUEN WAGEN auch bald fest. Durch meinen Kopf spukte die Redewendung: "etwas durchbuchstabieren". Das bedeutet für mich so viel wie: es fällt mir schwer, es tut mir weh, es fordert mich heraus, es ist unbequem und sperrig, ich verstehe das nicht. Ich muss aber! Also versuche ich, mich drauf einzulassen und die schwere Kost Häppchen für Häppchen zu verdauen, bis sie ein Teil von mir geworden ist, in Herz und Hirn angekommen ist.
Und damit war dann auch der Aufbau der Geschichte klar: die Menschen in meiner Geschichte erleben harte Veränderungen, die sie mühsam durchbuchstabieren müssen? Also wird auch die Geschichte durchbuchstabiert! Schnell hatte ich nachgezählt. Ich hatte 14 Buchstaben zur Verfügung. Dazu eine Leerstelle. Beim Festlegen der Entwicklungsschritte und Kapitelinhalte stellte ich fest, dass mir ein Buchstabe fehlt, darum das 16. Kapitel mit dem vollen Buchtitel. Und mitten im Schreibprozess stellte sich heraus, dass das Kapitel 10, die Leerstelle, so vollgestopft ist mit Inhalt, dass ich das dann spontan gesplittet habe. (Passt auch gut, denn ich habe tatsächlich immer zwei Leerstellen geschrieben, damit sich die beiden Wörter trotz der vielen Punkte gut voneinander abheben.)
Die Suche nach einem Bild fürs Cover war auch nicht einfach. Mir war klar: ich wollte da weder den 11-jährigen noch den erwachsenen Jimin drauf haben. Weg aus der FF-Festlegungsfalle. Aber was dann? Ich habe nach Bildern gesucht, die Vertrauen ausdrücken. Mir kam die Idee von zwei Luftakrobaten, die sich 100%ig aufeinander verlassen müssen. Aaaaaber ... nahezu alle Fotos waren querformatig, in einem vollen Zirkuszelt aufgenommen, die Artisten zu klein, der Hintergrund zu unruhig, ... Trotz Querformat hat mich dieses Bild dann sofort angesprochen. Ruhiger Hintergrund, genau der richtige Moment zwischen Flieger und Fänger, nur Silhouetten, die von nichts ablenken. Also habe ich das Bild in Picsart künstlich verlängert, indem ich die Ober- und Unterkante mehrfach aneinandergesetzt und mit der Retusche die Übergänge weggemogelt habe. Ich habe mit Helligkeiten, Filtern und Farben experimentiert und bin dann schließlich bei diesem Bild rausgekommen.
Da ich für jedes Kapitel einen Buchstaben festgelegt hatte, wollte ich dann auch je ein prägnantes Schlagwort mit diesem Buchstaben finden. Ambitioniert. Aber wohl nicht ambitioniert genug, denn dann habe ich zusätzlich versucht, zu jedem Schlagwort einen prägnanten Spruch zu finden, der wiederum die Aussage des Kapitels unterstreicht. Es ist mir nicht immer befriedigend gelungen, aber manchmal hat ein Spruch erschreckend gut on point ausgesagt, was in diesem Kapitel steckt.
Dieser ganze Recherche-Prozess lief nebenbei, während ich geschrieben habe. Die ersten Kapitel sind noch normal-Tina-lange Kapitel. Aber ich liebe es, in die Tiefe zu gehen, und das konnte ich bei der ja vorgegebenen Zahl nur erreichen, indem die Kapitel ganz un-wattpad-lich lang geworden sind. 3.500 bis fast 7.000 Wörter. Wen's stört - der hat es wahrscheinlich nicht gelesen. Alle anderen sind abgetaucht in meiner Wörterflut und haben mitgelacht und geweint, gebangt und gehofft, getrauert und gefeiert. Du ahnst nicht, wie sehr Du mich beschenkt hast mit Deinen Votes und Kommentaren. Das ist harter Tobak, schwer verdaulich, unbequem - und wahr. Deine Begleitung in diesem Prozess zu mehr und neuem Vertrauen war unglaublich wertvoll für mich.
Zurück zur Ausgangsfrage "Warum um Himmels Willen hab ich denn DAS geträumt?"
Bewusst geworden ist mir das in dem Moment, als ich die Ankündigung zum letzten Kapitel geschrieben habe. Der Kopf wusste es die ganze Zeit. Aber in dem Moment wusste ICH es auch:
"Dann hast Du Jimin und Mina ein "halbes Jahr" lang durch Höhen und Tiefen begleitet, die gereifte Sumi und die wunderbare Mama Jeri kennen gelernt und darfst mit Jimin feiern, dass sich Schmerz trotz aller Hindernisse und Ängste verwandeln kann in neues Vertrauen - wenn Du es zulässt. Und Du. Und Du. Und ... ich. Darauf hoffe ich."
Das Schlagwort, dass mir jetzt im Nachhinein dazu einfällt, ist "Sehnsucht". Ich sehne mich unendlich nach all dem, was ich Jimin und Mina und Sumi in dieser Geschichte schenke: Liebe, Geborgenheit, Zuwendung und Geduld, manchmal Hilfe, manchmal, selbst gefordert zu werden. Ich empfinde das Leben als einen endlosen Drahtseilakt und sehne mich nach dem Netz, dass mich auffängt - damit ich keine Angst vorm tiefen, einsamen Fall haben muss sondern immer wieder gestärkt und mit neuem Mut über dieses Seil balancieren kann.
Auch ich bin ein paarmal zu oft verraten und verkauft worden. Zuletzt vor zwei Jahren von dem Menschen, dem ich das am allerwenigsten zugetraut habe. Daran kaue ich noch immer herum. Es kostet mich so viel Kraft, gegen diese bittere Enttäuschung an positiv zu bleiben, meinen eigenen Wert zu erkennen, mich nicht zu vergraben (egal, ob im Keller oder in den Weiten des Internet) sondern rauszugehen, Kontakte zu knüpfen ... zu leben.
Dieser Jimin, der gegen diese tiefen Traumatisierungen an den Schritt in unbekanntes Land wagen muss, diese Mina, die sich schuldig fühlt und lernen muss, sich selbst zu vergeben, diese Sumi, die viel Bockmist gebaut hat, aber am Ende gereift und versöhnt gestorben ist - das bin ich. Oder: so möchte ich sein. So stark, so mutig, so ausdauernd, so ehrlich - und so versöhnt mit mir selbst.
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30.10.2021
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