vii. ein besuch mit folgen
DIE WOCHE WOLLTE einfach nicht vergehen. Es war erst Freitag und Betty saß im Matheunterricht. Die Aussicht auf das bevorstehende Wochenende verbesserte ihre Laune jedoch auch nicht. Sie würde ein schreckliches Wochenende zuhause verbringen, voller Essays und Extraaufgaben. Sie würde nicht einmal Violet besuchen dürfen. Normalerweise stellte der gelegentliche Besuch bei Violet Liv's Auszeit dar. Denn das war die einzige Zeit, in der sie wirklich von ihrer Mutter wegkommen konnte. Während für die meisten Menschen das Wochenende etwas Gutes war - etwas, worauf man sich freute - würde es für Betty eine einzige Quälerei werden.
Sie freute sich auf den Montag. Immer schon. Aber jetzt hatte sie noch einen Grund mehr zur Freude: Eddie's Gitarrenunterricht.
Wie von selbst glitt ihr Blick zu besagtem Freak. Er saß schräg hinter ihr am Fenster. Normalerweise hatte sie ihm nie besonders viel Beachtung geschenkt - keine, wenn man es genau nahm. Aber jetzt war es beinahe so, als würden ihre Blicke sie immer wieder zu ihm führen. Er ignorierte sie allerdings.
Nicht mit Absicht, wie sie vermutete. Er starrte während des Matheunterrichts immer aus dem Fenster und ignorierte nicht nur sie, sondern vor allem die Tatsache, dass er sich in der Schule befand. Sie schluckte und wandte sich wieder den komplizierten Gleichungen an der Tafel zu. Ihre Freunde sollten keinen Verdacht schöpfen.
Als es endlich klingelte, sortierte sie sorgfältig ihre Ordner in ihren Rucksack ein, während Violet ununterbrochen auf sie einquasselte. Es ging um irgendeine Party, die am Abend stattfinden sollte. Weder wollte Betty dorthin, noch durfte sie. Hausarrest hatte auch seine guten Seiten.
Gedankenverloren warf sie sich den Rucksack über die Schulter, dann folgte sie Violet aus dem Klassenzimmer. In ihre Gruppe reihten sich noch mehrere Mädchen aus dem Cheerleading Team ein - Agatha, Jane und Susan. Sie alle waren blond und trugen eine Dauerwelle, weswegen es Liv Monate gekostet hatte, bis sie gelernt hatte dieses Trio auseinander zu halten.
„Ich hab' gehört Ryan's Cousin soll nächste Woche zu Besuch sein. Denkt ihr, er ist genau so reich wie die Holts?", fragte Agatha mit einem verträumten Unterton
„Aber natürlich", erwiderte Violet besserwisserisch, „Stimmt doch, Betty?"
Betty warf einen Blick in die Schülermenge - aber Eddie schien bereits weg zu sein. Oder er war...- „Stimmt doch, Betty?", wiederholte Violet energisch und schnalzte auffordernd mit der Zunge, „Bist du anwesend, Miss Cunningham?"
„Sie träumt bestimmt von Ryan...", säuselte Susan. Die Anderen gackerten. Abgelenkt wandte sie sich der Mädchengruppe zu. Sie hatte nicht erkennen können, ob Eddie mit der Schülermasse hinausgelaufen war. Vielleicht war er ja noch im Klassenzimmer.
„Keine Ahnung", erwiderte sie also knapp, „Ich weiß nichts von Ryan's Cousin. Und ich habe im Übrigen auch nicht von Ryan geträumt."
„Ja, genau", kicherte Violet, „Als ob wir dir das glauben würden. Nachdem er sich beim letzten Basketball Spiel sein Trikot ausgezogen hat, träumt wahrscheinlich die ganze Schule von ihm."
Betty verdrehte die Augen und wollte gerade etwas erwidern, da lief sie mit voller Wucht in jemanden hinein. Ihr entwich ein erschrockener Laut. Es war Eddie. Der Geruch von Rauch und Männerdeo wirkte nun fast schon vertraut auf sie. Unter seinen wirren Locken musterte er sie amüsiert.
"Achtung", grinste er. Seine dunklen Augen funkelten sie herausfordernd an.
Der kurze Anflug von Glückseligkeit, der in ihr aufkam, als sie Eddie erblickte, wurde jedoch im Keim erstickt als das gackernde Lachen des Blondinen Trios hinter ihr ertönte.
"Tut mir leid", stammelte sie, "Das Anrempeln, meine ich."
"Halb so schlimm", erwiderte er schulterzuckend.
"Betty!", kreischte Agatha beinahe hysterisch und rammte ihre bemalten Krallen in Betty's Arm, "Freak-Alarm!"
Betty schluckte und suchte Eddies Blick. Seine Augen verdunkelten sich so abrupt wie Regenwolken sich vor den Sommerhimmel schoben.
Verzweifelt versuchte sie all' ihr Mitgefühl, all' die Worte, die sie nicht sagen durfte in ihren Blick zu legen. Vielleicht verstand Eddie auch ohne Worte, dass es ihr Leid tat.
"Komm lass' uns gehen, Betty", meinte Violet diplomatisch, „Die Jungs warten schon in der Cafeteria."
"Ihh, er hat dich berührt", kicherte Susan und mit einem letzten Blick über ihre Schulter, sah Betty, wie Eddie sich auf dem Absatz umdrehte und weiterlief.
Ihr Herz schmerzte vor Scham und Bedauern. Zu gerne hätte sie etwas gesagt. Doch wenn sie etwas gesagt hätte, hätten die Leute geredet. Und wenn die Leute redeten, kam zumindest etwas davon auch bei ihrer Mutter an. Das war eine ihrer vielen Fähigkeiten, die Betty das Leben schwer machten.
Bettys' Leben war bereits chaotisch genug. Sie wollte nicht wissen, was geschehen würde, wenn ihre Mutter von ihren heimlichen Musikstunden erfahren würde.
♫
Das ganze Wochenende plagte Liv das schlechte Gewissen. Da ihre Mutter ihr sämtliches Ausgehen verboten hatte, konnte sie sich nicht einmal ablenken. Stattdessen hatte sie an ihren Bewerbungen gearbeitet bis ihre Finger vor lauter Blasen schmerzten.
Am Samstagmittag legte ihre Mutter ihr jedoch ein perfekt gebügeltes Kleid auf ihr Bett - und Betty wusste, dass sie das nicht ohne Grund tat.
„Wofür ist das Kleid?", fragte sie vorsichtig und fuhr über den samtweichen Stoff.
„Wir essen heute mit den Holts", verkündete ihre Mutter, „Sogar dein Vater und Mr Holt werden anwesend sein."
Etwas an der Weise, wie ihre Mutter diese Worte aussprach, verriet Betty, dass mehr hinter dieser Ankündigung stecken musste. Allerdings wagte sie es nicht zu fragen. Sie erinnerte sich noch zu schmerzhaft an ihre letzte Bestrafung. Einfach mitmachen, keine Fragen stellen und immer lächeln. Das war ihr Leitsatz um Wochenenden wie diese heil zu überstehen.
Deswegen nahm sie auch das Kleid ohne zu murren und zog es an. Es war an den falschen Stellen eng, sodass sie kaum Luft bekam - und hellrosa mit einem Kragen, der dafür sorgte, dass sie sich fühlte, als ob ihr jemand mit Absicht die Kehle zuschnüren wollte. Wie ein Halsband, fuhr es ihr durch den Kopf.
Als Betty sich kurz vor der Abfahrt im Spiegel betrachtete, erkannte sie sich kaum wieder. Ihre Mutter hatte ihre blonden Locken mit Haarspray und goldenen Haarklammern frisiert. Das Kleid selbst vervollständigte das Bild der perfekten Tochter.
Das Kleid war ihre ganz persönliche Zwangsjacke.
Die Holts lebten in Loch Nora, in einem der größten und modernsten Häuser.
Während Mr Cunningham das Auto parkte, zupfte Mrs Cunningham nervös an ihren Töchtern herum.
„Christina, sag bloß du hast deinen Pony wieder selbst geschnitten", sie schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge, „Das sieht unmöglich aus, Kind. Und Bettina, hör auf deine Lippe blutig zu beißen - Ryan findet das sicherlich nicht schön!"
Betty versteifte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie versuchte ihr Bestes um die Worte ihrer Mutter an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch wie immer, war das leichter gesagt als getan.
Wie im Traum verbrachte Betty das Abendessen mit den Holts. Ihre Mutter verlor sich in Lobreden auf die guten Noten und das gute Aussehen ihrer Töchter - welches man laut dem glucksenden Mr Holt „mit Sicherheit ihrer Mutter zuschreiben durfte".
Über diesen Witz, der mindestens zwanzig Mal wiederholt wurde, lachte Mr Cunningham am lautesten von allen.Ryan griff mehrmals unter dem Tisch nach ihrer Hand, doch aus irgendeinem Grund, war es anders als sonst. Seine Hand fühlte sich verschwitzt und viel zu warm an. Unter dem Vorwand einen Schluck aus ihrem Glas zu nehmen oder sich eine Haarsträhne hinter das Ohr zu streichen, löste sie ihre Hand immer wieder aus seiner.
„Nun", sagte Mr Holt irgendwann und seine dröhnende Stimme, erhielt einen stimmungsvollen Unterton, „Kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen des Abends."
Eigentlich hatte Betty gar nicht mehr richtig zugehört - doch der Unterton, der in seiner Stimme lag, ließ sie aufhorchen. Offensichtlich hatte sie mit ihrer Vermutung, dass mehr hinter dem Abendessen steckte, richtig gelegen.
„Wie ihr sicherlich wisst", begann Mrs Holt und strich sich durch das perfekt gelockte Haar, „Organisieren Mrs Cunningham und ich den Charity Herbstball gemeinsam." Ryans Mutter warf einen erwartungsvollen Blick in die Runde, wobei sie besonders lange die Cunningham Schwestern im Blick behielt. Kurz hatte Betty den Eindruck von den bernsteinfarbenen Schlangenaugen durchleuchtet zu werden. Dann machte sich ein angespanntes Lächeln auf den dünnen Lippen von Mrs Holt breit.
„Wir haben uns überlegt, dass es schön wäre, wenn du, Ryan", sie musterte ihren Sohn mit einem bedeutungsvollen Blick, „gemeinsam mit Betty, die Feier moderieren würde."
„Es wäre ein Zeichen - dass die Holts und die Cunninghams auf derselben Seite stehen", pflichtete Mrs Cunningham wichtigtuerisch bei und bedachte Betty mit einem strengen Blick.
„Auf was für einer Seite denn?", fragte Betty verwirrt.
„Nicht reinreden, Bettina!", zwitscherte Mrs Cunningham süffisanft.
Die Erwachsenen tauschten bedeutungsvolle Blicke aus. Dann räusperte sich Mr Cunningham - was Betty überraschte.
Ihr Vater war weder besonders gesprächig noch interessierte er sich übermäßig für etwas Anderes als seine Arbeit.
„Ich werde mich um die Stelle als Bürgermeister bemühen", verkündete er, „Und die Holts werden meine Wahlen freundlicherweise unterstützen."
Fassungslos starrte Betty ihren Vater an. Nie hatte er den Wunsch geäußert Bürgermeister zu werden - geschweige denn, dass er sich für Politik interessiert hatte. Instinktiv wanderte ihr Blick einen Platz weiter. Ihre Mutter... Ihr zufriedenes Lächeln verriet Betty alles, was sie wissen musste. Natürlich war das, das Werk ihrer Mutter. Natürlich, hatte sie all das organisiert, natürlich, hatte sie ihren Vater von dieser hirnrissigen Idee überzeugt.
„Dieser Kline hat schon viel zu lange die ganze Stadt ins Verderben getrieben", räumte Mr Holt kopfschüttelnd ein, „Ich würde ja selber kandidieren, doch in meinem Amt als Anwalt bin ich noch zwei weitere Jahre verpflichtet."
„Das ist kein Job, den man einfach so kündigen kann", pflichtete Mrs Holt ihrem Mann bei und tätschelte seine Hand mit einem wichtigtuerischen Nicken.
„Am Charity Ball werden wir verkünden, dass Mr Cunningham kandidieren wird. Er ist der perfekte Kandidat: bekannt, aber nicht bekannt genug um in Konflikte verwickelt zu sein. Zwei hübsche, allseits beliebte Töchter-", an dieser Stelle zwinkerte Mr Holt Chrissy und Betty schmeichelnd zu, „und eine, in der Gemeinde, sehr engagierte Frau. Ihr seit die perfekte Familie für diesen Job. Gegen Kline wird es zudem sehr einfach werden sich durchzusetzen."
„Nach dem Trubel den er in den letzten Jahren veranstaltet hat", meinte Bettys Mutter schnippisch.
„Deswegen ist uns wichtig, dass ihr beide die Veranstaltung moderieren werdet. Es soll zudem eine Tanzfläche geben. Es wäre wunderbar, wenn Ryan und Betty die Tanzfläche eröffnen würden", plapperte Mrs Holt.
„Durch die Unterstützung der Holts, zeigen wir ganz Hawkins, dass wir die richtige Wahl darstellen", erklärte Mrs Cunningham. Ihre Augen glühten.
Betty wusste, dass dieser Moment alles war, was sich ihre Mutter jemals gewünscht hatte. Macht und Ansehen waren so nah wie nie zuvor. Denn wie sie sagte, würde die Unterstützung von einer der angesehensten Familien tatsächlich zu dem Vertrauen der Bevölkerung führen. Und das würde unweigerlich dazu führen, dass Betty's Vater Bürgermeister werden würde.
Alles in ihrem Inneren sträubte sich gegen diese Vorstellung.
Die Vereinbarung, die ihre Eltern getroffen hatten, erinnerte Betty sehr an altertümliche Eheverträge. Sicher, hier ging es um die Bürgermeisterwahl, die im Frühjahr stattfinden würde und nicht um eine Ehe... doch durch die Zusammenarbeit ihrer Familien, war sie nun endgültig an Ryan gebunden.
Sie sollten gemeinsam eine Feier moderieren, bei der es um den Erfolg ihres Vaters ging. Sie sollten zusammen tanzen und sich als vereinte Front gegen den aktuellen Bürgermeister Kline präsentieren.
Liv war so gefangen wie nie - und ihre Mutter war die Gefängniswärterin.
Lebenslänglich, ohne Hoffnung auf Befreiung.
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