vi. bestrafung
DAS IHR HANDELN Konsequenzen nach sich zog, wusste Betty. Ihre Mutter ließ nichts unbestraft. Niemals.
Nicht damals als sie mit fünf Jahren nachts heimlich ein Stück Schokoladenkuchen genascht hatte, nicht als Betty mit dem letzten Zeugnis nachhause gekommen war, dass ihr nicht gefallen hatte.
Heute hatte sie ihrer Mutter nicht gehorcht - und auch das würde Konsequenzen mit sich bringen. Mit jedem Schritt, den sie sich von Eddies Wohnwagen entfernte, wuchs ihre Angst. Die Leichtigkeit, die sie soeben noch verspürt hatte, schwand mit jedem Schritt.
In ihrem Magen wurde die Angst zu einem einzigen Klumpen schwer wie Blei, der sie immer weiter hinabzog. Sie hatte sich keine zehn Schritte vom Wohnwagen entfernt, als das Quietschen einer Tür sie innehalten ließ.
„Betty, warte!", hörte sie Eddies Stimme.
Verwundert wandte sie sich zu Eddie um. Er stand in der Tür des Wohnwagens. Sein Grinsen war selbst aus der Entfernung zu erkennen.
„Es ist schon dunkel", bemerkte er, als sie etwas näher kam, „Ich fahre dich nach Hause, in Ordnung?"
„Oh... Das ist nicht nötig", sagte Betty nervös und dachte an ihre Mum.
„Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht ob überhaupt noch ein Bus fährt", meinte Eddie nachdenklich und ignorierte ihren schwachen Protest geflissentlich. Wenn er Recht hatte und tatsächlich kein Bus mehr fuhr, dann hatte sie sowieso keine Wahl. Irgendwie musste sie schließlich nach Hause kommen. Wenn sie nach acht noch nicht zuhause wäre, dann würde alles was sie nun bereits erwartete, noch zehnmal schlimmer werden.
Nervös warf sie einen Blick auf die pastellblaue Digitaluhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte noch eine halbe Stunde. Dann musste sie zuhause sein. Spätestens.
Wenn sie sich schon gegen ihre Mutter stellte, dann wollte sie wenigstens vor dem Abendessen wieder zuhause sein. Falls sie denn etwas davon abbekommt würde ...
„Okay", lenkte sie ein.
Während Eddie sich seine Lederjacke überwarf und den Autoschlüssel holte, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihm erklären könnte, dass er sie unter keinen Umständen bis zu ihr fahren konnte. Das Beste wäre es wohl, wenn er sie an der Bushaltestelle rauslassen würde... Von dort aus war es noch ein gutes Stück zu Fuß. Aber das zu erklären würde schwierig werden.
„Steigen sie ein, Miss", mit einer übertriebenen Verbeugung öffnete Eddie die Tür des Beifahrersitzes. Betty schmunzelte. Sie ignorierte das Gefühl der Ungewissheit in ihrem Bauch und beschloss sich darauf einzulassen.
„Ein wahrer Gentlemen", sagte
sie mit einem Lächeln und stieg ein.
Als er den Wagen startete, verdrängte sie das Ziel ihrer Fahrt. Betty wollte sich keine Sorgen machen. Nicht jetzt - jetzt war sie noch bei Eddie, der ihr seine Lieblingsbands zeigte, bei Eddie, der so viel humorvoller war als jeder andere Mensch, den sie kannte.
Doch umso näher sie dem Zentrum der Stadt kamen, umso schwerer fiel es ihr zu verdrängen, was ihr nun bevorstand.
„Bist du... okay?", Eddie warf ihr einen Blick von der Seite zu.
Sie schluckte: „Ja, ja... ich bin okay."
Eddie wandte seinen Blick wieder auf die Straße. Eine Falte auf seiner Stirn verriet ihr, dass er ihr wahrscheinlich nicht glaubte. Nach weiteren fünf Minuten, in denen sie still auf dem Beifahrersitz saß, fuhren sie an der Bushaltestelle vorbei, von der sie am Nachmittag losgefahren waren. Betty wusste, dass es Eddie verletzen würde, aber sie hatte keine Wahl.
„Eddie... kannst du mich vielleicht hier schon rauslassen?", fragte sie leise.
„Wie - hier, am Straßenrand?" Eddie lugte aus dem Fenster, während er auf die Bremse trat und immer langsamer wurde. „Hier ist gar nichts."
„Ich laufe den Rest", murmelte sie und verknotete ihre Finger im Schoß.
Bei ihren Worten sank Eddie zusammen. Sie hatte ihn enttäuscht.
Wahrscheinlich dachte er, dass sie nicht wollte, dass man sie nicht zusammen sah.
„Ich - ich... meine Mum", stammelte sie, „Ich dürfte gar nicht hier sein."
„Schon verstanden", erwiderte Eddie knapp.
„Eddie - ich... es tut mir leid."
Er ignorierte ihre Worte und beugte sich vom Fahrersitz nach hinten auf die Rückbank, wo ihr Rucksack noch lag. Der hellrosa Rucksack stach hervor wie ein bunter Hund zwischen den alten Bierdosen, leeren Kassettenverpackungen und dem anderen Krimskrams.
„Hier", meinte Eddie und gab ihr den Rucksack, „Komm gut nach Hause."
„Danke, du auch", sie versuchte sich an einem schwachen Lächeln. Doch jetzt wo sie fast zuhause war, war selbst das eine Herausforderung. Ihr Magen war nur noch ein einziges Knäul aus Angst, ihre Hände schweißnass. Sie hatte ihre Mutter aufgebracht zurückgelassen... dafür würde sie nun bezahlen müssen. Ihre Hände bebten, als sie am Türgriff zerrte.
„Die Tür klemmt manchmal", bemerkte Eddie und stieg aus. Er lief einmal um den Pick Up herum, dann öffnete er von außen die Tür. Dieses Mal jedoch ohne Albereien. Das war auch besser so, denn Betty hätte es nicht hinbekommen, mitzuspielen. Die Angst vor ihrer Mutter war zu groß.
„Danke", murmelte sie.
„Gerne", sagte Eddie knapp und einen kurzen Moment lang verlor sie sich in dem Blick seiner dunklen Augen. Doch dann entfernte er sich schon wieder von ihr. Sie warf einen nervösen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte noch zehn Minuten.
„Eddie", sagte sie und hoffte, dass er sie überhaupt gehört hatte. Er hielt inne und wandte sich zu ihr um. Seinen Unterarm hatte er auf dem Dach des Wagens abgelegt, seine braunen Locken fielen ihm wirr auf die Schultern.
„Sehen wir uns am Montag?", fragte sie und konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme hoffnungsvoll in die Höhe sprang bei dieser Vorstellung. Er hatte ihr auch heute wieder viele, nützliche Tipps gegeben. Das erste Mal in ihrem Leben konnte sie etwas tun, worauf sie tatsächlich Lust hatte. Etwas, dass nur ihr gehörte.
Vorsichtig suchte sie seinen Blick. Eddie runzelte die Stirn. Offensichtlich war er davon ausgegangen, dass dieses Treffen das letzte gewesen war, aufgrund ihres seltsamen Verhaltens. Sie konnte sehen wie sein Blick prüfend über sie glitt.
„Bitte", wisperte sie beinahe tonlos.
„Okay", sagte er schließlich und lächelte halbherzig. Das Lächeln war nicht mehr ganz so herzlich, aber die Tatsache, dass er einverstanden war, reichte Betty aus. Sie atmete erleichtert aus.
„Dann sehen wir uns dort", meinte sie und hob verabschiedend die Hand.
„Bis Montag", sagte Eddie und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
Sie lächelte ein letztes Mal. Dann wandte sie sich um und ging. Und jeder Schritt brachte sie der Hölle ein wenig näher.
♫
„Bettina Louise Cunningham", zischte ihre Mutter, „Das war das letzte Mal, dass du mich in der Öffentlichkeit so bloßgestellt hast!"
Eine Hand flog durch die Luft und ehe Betty zurückweichen konnte, klatschte es. Ihre Wange brannte wie Feuer und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war sich sicher, dass man noch einige Stunden den flammend roten Abdruck auf ihrer Wange sehen würde. Ihre Mutter schlug sie nicht oft.
Sie wollte nicht, dass jemand die Folgen sah.
„Es tut mir leid, Mum", wisperte sie und presste sich ihre Hand auf die verletzte Stelle. Ihre Hände waren kalt, weil sie gerade erst von draußen hereingekommen war. Genau zwei Minuten vor acht.
„Jetzt siehst du mal, wozu mich dein unverantwortliches Verhalten bringt", schnaufte ihre Mutter erschöpft. „Du weißt, ich mache das nicht gerne. Allerdings geht es nicht anders, wenn du dich so verhältst."
Betty nickte.
Ihre Mutter schnalzte auffordernd mit der Zunge. Sie hasste es, wenn ihre Töchter ihr nicht antworteten.
„Ja, ich habe verstanden", murmelte Betty.
„Schön. Dann zeig' mir bitte deinen Essay, den du heute nachmittag hoffentlich beendet hast."
Betty war nicht dumm. Sie hatte den Essay vorsichtshalber mitgenommen und im Bus einige Zeilen hinzugefügt. Beendet hatte sie ihn jedoch nicht. Es fehlten noch mindestens zwei Seiten. Der Knoten in ihrem Magen wurde größer. In Zeitlupe beugte sie sich über ihren Rucksack, dann holte sie den Ordner hervor in dem sich der College Essay befand. Sie reichte ihn ihrer Mutter. Die hochgewachsene Frau riss ihr den Ordner aus den Händen und ihr Blick glitt gierig über die Seiten.
In den Minuten, in denen ihre Mutter ihren Essay las, wagte Betty es kaum zu atmen. Es war als läge ein Band um ihre Brust, dass sich von Sekunde zu Sekunde immer enger um sie band.
„Drei Tempusfehler auf der dritten Seite", Mrs Cunningham seufzte und rieb sich mit zwei Fingern über den Nasenrücken. „Es ist beinahe so, als wolltest du als verarmte Jungfer im Forest Hills Trailerpark enden." Die Erwähnung des Trailerparks schmerzte Betty auf eine seltsame Art und Weise. Sie war eben noch dort gewesen.
Mit Eddie.
Ihre Mutter bemerkte nichts und las weiter. Als sie fertig war, warf den Essay achtlos auf den Küchentisch.
„Und der neue Abschnitt ist auch nicht gerade das, was ich von dir kenne. Achtlos hingekritzelt...", Mrs Cunningham schüttelte seufzend den Kopf. „Für dich gibt es natürlich keine Besuche bei Violet mehr - für... sagen wir... drei Wochen?"
Drei Wochen. Das war in Ordnung. Betty kannte Schlimmeres.
„Und jetzt geh' mir aus den Augen, Kind." Mit einer abschätzigen Handbewegung, scheuchte sie Betty aus dem Zimmer. Betty wusste, dass das noch nicht alles war - aber es war alles für heute und dafür war sie dankbar.
Es gab schlimmeres.
Mit gesenktem Kopf schlich sie die Treppe hoch und öffnete ihre Zimmertür. Sie wollte nicht, dass Chrissy etwas mitbekam. Chrissy nahm so etwas immer sehr mit. Ihre kleine Schwester war wie eine wertvolle Rose, dessen Blätter gut geschützt werden mussten, damit sie nicht verwelkten. So besonders Chrissy Wesen sie auch machte — ihre Sanftmut machte sie zu einem leichten Ziel für ihre Mutter. Sie nahm sich die Worte ihrer Mutter immer mehr zu Herzen als Betty es tat.
Betty ließ die Worte ihrer Mutter nicht so nah an sich heran. Nicht mehr. Sie ließ es über sich ergehen - und dann machte sie weiter.
Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett sinken. Die geblümte Tagesdecke war an der einen Ecke unordentlich gefaltet, weswegen sie den Stoff glattstrich. Ihr Zimmer war früher einmal ein Rückzugsort gewesen. Doch jetzt... Jetzt war ihr Zimmer nur noch ein Fenster in die Vergangenheit. Die hellen, verschnörkelten Möbel, der Schminktisch übersät mit Make Up, das sie nur benutzte um sich jeden Tag eine falsche Maske ins Gesicht zu malen. Selbst die Kleider in ihrem Schrank gefielen ihr nicht. Röcke, deren Falten bis zur Perfektion gebügelt waren, Blusen in hellen, freundlichen Tönen mit Schleifen und Perlenstickereien. Früher hatte ihr diese Kleidung noch gefallen - zumindest ansatzweise. Sie hatte sich gefühlt wie eine Prinzessin.
Doch sie war älter geworden, hatte sich verändert. Sie war zu einer Persönlichkeit geworden, die ihre Mutter nicht kontrollieren konnte.
Oder zumindest befand sie sich auf dem Weg dahin, eine solche Person zu werden.
Irgendwann wäre sie mutig genug.
Nur nicht heute, noch nicht.
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