Prolog - Teil 2
Bree
Der Assassine betrachtet sie überrascht und offensichtlich verwirrt. Ma will Ivy mit der Hand zu sich zurückziehen, sich vor sie stellen, doch Ivy schüttelt sie trotzig ab.
»Es ist das Gesetz«, meint der Assassine ruhig und legt den Kopf schief, als wäre Ivy ein interessantes, hübsches Insekt, das er beobachten möchte. Ich weiß, was er sieht – das einzigartige kupferne Haar und die unnatürlich smaragdgrünen Augen. Ivys Schönheit, die sie von irgendeiner Urahnin der Familie geerbt haben muss, die ebenfalls solches Haar besaß, als es Menschen noch möglich war, durch Wissenschaft ihr Aussehen zu verändern. Meine Schwester ist auffällig, das ist es, was ihr eines Tages zum Verhängnis werden wird. In diesen Zeiten ist es als Mensch klüger, unscheinbar und eine graue Maus zu sein. Auf diese Weise lebt man länger und ich fürchte mich bereits jetzt vor dem Tag, an dem ein Assassine auf sie aufmerksam wird und sie zu seiner Hure macht.
Doch Ivy weiß von alldem noch nichts. Ma trichtert ihr zwar immer ein vorsichtig zu sein, ihr Haar versteckt zu halten, sich selbst versteckt zu halten, doch sie versteht nicht, welche Folgen ein Fehltritt haben könnte.
Welche Folge dieser Fehltritt haben wird.
Doch der Assassine scheint von ihrer Schönheit wie bezaubert und zum ersten Mal wage ich es zu hoffen. Ivy ist für mich das Kostbarste auf der Welt und auch wenn es nie wieder wie früher sein wird, gibt es eine kleine Chance, dass sie überlebt. Zwar ist das Leben im Harem eines Assassinen alles andere als erstrebenswert, doch es ist noch immer ein Leben. Ich bin mir fast sicher, dass der Assassine darüber nachdenkt, als er Ivy gedankenverloren anstarrt, und bete, dass er sich das Recht, eine Haremsfrau zu nehmen, bereits verdient hat.
Doch schließlich zuckt der Assassine desinteressiert die Schultern.
»Dann bist du es eben, welche die Strafe erleiden wird«, verfügt er und hebt nachlässig die Hand, um Ivy mit einem Schlag den Kopf abzutrennen. Ich halte entsetzt den Atem an.
»Nein!«, ruft Ma, bevor er meine Schwester töten kann. »Tötet mich an ihrer Stelle.«
Sie stellt sich vor meine Schwester.
»Nicht meine Tochter, bitte«, fleht sie mit einem Schluchzer in der Stimme.
Auch Pa erhebt sich und stellt sich vor die beiden.
»Tötet mich, Herr, und lasst meine Familie am Leben«, bittet er scheinbar furchtlos. Doch ich sehe, wie seine Hände zittern.
Ich schlinge die Arme um meinen Körper, die Angst um meine Familie ist stärker als je zuvor. Nur zu gut habe ich noch das Geräusch in den Ohren, als sowohl Natascha als auch ihre Mutter leblos zu Boden fielen. Diese Wesen kennen keine Gnade.
Auch dieser Assassine verdreht nur die Augen.
»Das ist sinnlos. Ihr seid viel stärkere Arbeitskräfte als sie«, entgegnet er pragmatisch und schiebt meine Eltern mit einer scheinbar behutsamen Bewegung beiseite – einer behutsamen Bewegung, die sie durch den halben Raum schleudert. Doch ich höre die Schluchzer meiner Mutter, das tröstende Gemurmel meines Vaters zwischen dem Lärm der anderen Dorfbewohner heraus und weiß, dass es ihnen gut geht.
Jetzt steht nichts mehr zwischen meiner Schwester und dem Assassinen.
»Nicht Ivy«, wispere ich. Inzwischen laufen mir Tränen in Strömen über die Wangen, doch ich wage es nicht, mich zu bewegen. Oder zu versuchen mich vor sie zu stellen. Ich wäre eine schwächere Arbeitskraft als meine Eltern, vielleicht würde der Assassine sich von mir überzeugen lassen. Doch es fehlt mir an Mut zu sterben. Ich bin ein Feigling.
Bei meinem Geflüster wirft der Assassine einen Blick zu mir, konzentriert sich dann jedoch wieder auf meine Schwester. Die beiden wirken fast wie Liebende, bei dem intensiven Blick, den sie austauschen. Ivy wirkt völlig unerschrocken, der Assassine seltsam fasziniert von ihr. Wieder hebt er die Hand, um ihr ein Ende zu bereiten.
»Es war einmal«, hebt Ivy plötzlich die Stimme. Der Assassine hält bei ihren Worten überrascht in der Bewegung inne.
»Es war einmal vor langer, langer Zeit, vor dem ersten Assassinenherrscher, ein Mädchen namens Esmeralda.«
Ich blinzle überrascht, als ich das Märchen wiedererkenne, das Ma früher immer mir erzählt hat und das ich inzwischen jeden Abend Ivy erzähle. Ihr Lieblingsmärchen, eine Geschichte von Heldenmut und Triumph. Auch der Assassine wirkt durcheinander, als hätte er noch nie den Beginn einer Geschichte gehört. Langsam lässt er die Hand sinken, als Ivys Talent fürs Geschichtenerzählen ihn in seinen Bann zieht.
»Esmeralda war schön und furchtlos. Sie lebte in einer Welt, in der Assassinen und Menschen noch gleichgestellt waren, als beide gemeinsam regierten und wir nicht Sklaven und Herr, sondern Freunde waren, als die Herrschaft nicht an den stärksten Assassinen weitergegeben, sondern ein König oder eine Königin gewählt wurde. Als es noch Frieden gab und unsere Welt nicht in Trümmern lag.
Als junges Mädchen wurde Esmeralda ihrer Familie beraubt, deshalb hatte sie niemanden außer ihrem besten Freund ...«
Bei Ivys Worten scheint der Tumult um uns herum plötzlich in den Hintergrund zu rücken und ich kann sehen, wie gefesselt der Assassine an ihren Lippen hängt. Nur ich kann mich kaum auf ihre Worte konzentrieren, obwohl ich jedes Detail dieser Geschichte von Tapferkeit und Heldenmut auswendig kann. Die Angst steckt noch zu tief in mir und ich kann den Blick nicht von dem Assassinen lösen, dessen Ziel es ist, meine Schwester zu töten. Kann mich nur auf ihn fokussieren, jede seiner Rührungen beobachten und wider besseren Wissens hoffen, dass er meine Schwester verschont.
Erst der letzte Satz der Geschichte rüttelt mich auf.
»Du bist genauso mutig wie Esmeralda und eines Tages wirst du die Welt retten, Ivy.«
Der letzte Satz scheint meiner Schwester einfach so herauszurutschen, als hätte sie die Geschichte mit meinen Worten auswendig gelernt und wüsste gar nicht, wie sie sie anders beenden sollte. Sie scheint selbst verwirrt darüber, hält jedoch das Kinn gereckt und starrt den Assassinen genauso mutig an, wie ich mir immer Esmeralda vorgestellt habe.
Der Assassine weiß offensichtlich nicht, was er tun soll, und steht noch immer regungslos da, die Hand halb erhoben.
Etwas leiser fügt Ivy hinzu: »Zumindest ist es das, was meine Schwester Bree immer erzählt.«
Sie wirft einen Blick zurück zu mir und vielleicht ist es das, oder die ergreifende Art, wie sie unser Lieblingsmärchen erzählt hat, ihre Stimme oder das Glänzen ihres roten Haares, das in mir den Beschützerinstinkt aufflammen lässt. Ich weiß nur noch, dass Ivy alles ist, was ich habe, dass ich ohne meine Schwester nicht leben kann. Und als der Assassine sich schließlich fängt und erneut zum tötenden Schlag ausholt, gibt es nur eines, was ich tun kann. Schneller, als ich mich je zuvor in meinem Leben bewegt habe, schneller als ein Assassine, springe ich auf und werfe mich vor sie.
Das Letzte, was ich spüre, ist, wie sich seine harten Krallen in meinen Hals bohren.
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