4. Kapitel
Cade vor mir hält seine Pistole bereit, während wir gemeinsam durch die leeren Büros zu den Treppen schleichen. Es ist unwirklich, wie still es in diesem Gebäude ist, in dem es sonst nur so vor Leben wimmelte. Beängstigend. Doch Cade schenkt mir Zuversicht, gibt mir ein Ziel, Hoffnung, obwohl mein Inneres noch immer wie betäubt ist. Ich muss glauben, dass wir eine Chance haben, das hier zu überleben. Mich an irgendetwas klammern, um meine Angst und meine Verzweiflung zu vergessen.
Doch gerade als wir das Treppenhaus erreichen und Cade die Tür langsam öffnet, hören wir ein Geräusch. Schritte – schnelle Schritte, von jemandem, der die Treppe hinaufläuft, direkt auf uns zu.
Alarmiert weicht Cade vor der Tür zurück, sodass diese zurück ins Schloss fällt und dabei ein knarzendes Geräusch macht.
»Versteck dich«, flüstert er und bevor ich etwas erwidern kann, stürmt er zurück ins Büro.
Ich bin wie paralysiert und bleibe stehen, wo ich bin. Ein Asset kann sich völlig lautlos bewegen, die Schritte zeugen also nur davon, dass er bereits weiß, dass wir hier sind. Dass sich ein Mensch auf der Treppe befindet, glaube ich nicht – keiner wäre so dumm in einem Gebäude wie diesem so laut die Treppe zu benutzen, während die Apokalypse in vollem Gange ist. Aber wie hat der Asset uns gefunden? Unwillkürlich zuckt mein Blick zu der Überwachungskamera neben dem Aufzug mir gegenüber und ich frage mich, wieso wir nicht eher darauf gekommen sind, diese zu zerstören. Wobei, wenn er uns darüber gefunden hat, wäre eine zerstörte Kamera sicher ebenso auffällig gewesen.
Das war es also. Ich habe diese grausige Nacht, den letzten Tag nur überlebt, um jetzt zu sterben. Wo ist da der Sinn? Ich will leben, ja, doch innerlich habe ich bereits wieder aufgegeben. Der Druck, der seit gestern in mir schlummert, die Angst, die Panik bahnen sich einen Weg und ich spüre, wie mir Tränen das Gesicht hinablaufen. Ich will das nicht weiter durchmachen. Ich kann nicht mehr. Es ist vorbei. Will ich in dieser grausamen Welt überhaupt überleben?
Doch Cade lässt mich nicht sterben.
»Komm endlich!«, ruft er aus dem Büro und reißt mich damit aus meiner Starre. Will ich so wirklich sterben? Ist es überhaupt wichtig, was ich will?
Aber als Cade wieder am Büroeingang erscheint, weiß ich, dass ich ihm das nicht antun kann. Er will auf mich warten, ein ehrenhafter Wunsch, und ich kann nicht zulassen, dass meine Angst auch ihm das Leben nimmt. Also setze ich einen Fuß vor den anderen, laufe viel zu langsam auf ihn zu, doch er grinst erleichtert und wendet sich um, um sich ein Versteck zu suchen, die Pistole bereithaltend.
Obwohl ich so langsam bin, schaffe ich es bis zum Büro, ohne von einem Asset behelligt zu werden. War es vielleicht kein Asset, sondern doch ein Mensch im Treppenhaus? Aber wer wäre so dumm so viele Geräusche zu machen?
Ich gehe weiter. Cade hat sich versteckt, wo weiß ich nicht. Auch ich sollte wieder ein Versteck suchen, vielleicht meinen Schreibtisch von heute Nacht wiederfinden, nachdem er mir so gut gedient hat. Doch irgendetwas in mir ist völlig betäubt, hält mich davon ab, dieses Wissen anzuwenden. Es bringt doch ohnehin nichts. Es ist zu spät, vorbei, ich habe keine Chance. Es scheint, als wäre jeglicher Lebenswille aus mir gewichen, und ich kann nicht anders, als meinem gewohnten Pfad zurück zum Balkon zu folgen. Wie oft bin ich diesen Weg mit Livy gegangen, lachend, tratschend und glücklich? Es scheint nur passend, dass ich ihn jetzt ein letztes Mal ohne meine beste Freundin gehe, um ihr im Jenseits wiederzubegegnen.
Noch immer keine Spur von dem Asset auf der Treppe. Der Balkon ist voller Essensreste, die von der überstürzten Flucht gestern zeugen, doch der Wind fährt mir vertraut durchs Haar und ich atme die gewohnte New Yorker Luft, fühle die Morgensonne auf meiner Haut, die mein betäubtes Innerstes seltsam beruhigt. Ich trete an das Geländer und blicke nach unten in die unbewegliche Stadt, frage mich, ob vielleicht dies der Moment ist, es zu beenden. Inzwischen glaube ich nicht mehr an eine Rettung in den UN-Headquarters – selbst das beste Militär kann auf Dauer nicht gegen unsere besten Soldaten, die Assets, bestehen. Früher oder später wird mich ein Asset töten, wieso also nicht jetzt sterben? Meinen Tod selbst wählen, an einem meiner Lieblingsorte, bevor ich kaltblütig ermordet werde.
Doch ehe ich überhaupt ernsthaft darüber nachdenken kann, auf das Geländer zu klettern, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Heftig zucke ich zusammen und weiche zur Seite zurück, drehe mich um zu dem Mann, der plötzlich neben mir steht, ohne dass ich ihn gehört habe.
Der Mann, der eindeutig nicht menschlich ist.
Angst kriecht wieder durch meine Eingeweide wie eine giftige Schlange, vertreibt die Betäubung in meinem Inneren, als ich seine in Klauen endenden Finger entdecke. Die Muskeln in seinen Armen sind angespannt, als wollte er mich festhalten, sollte ich tatsächlich versuchen mein Leben auf diese Weise zu beenden. Ich schlucke und gehe langsam rückwärts, so weit weg von diesem Raubtier, diesem Mörder, wie möglich, bis ich das Glas des Aussichtsfensters in meinem Rücken spüre.
Erst dann blicke ich in das Gesicht des Assets. Silbern funkelnde Augen erwidern meinen Blick, Grübchen begleiten sein schwaches Lächeln. Heftig atme ich ein. Er ist es – vor mir steht mein Asset. Derjenige, für den ich seit zwei Jahren schwärme. Der mich jeden Morgen kontrollierte, dem ich jeden Tag begegnete, der Stoff für meine Träume war.
Ein Mörder, echot es in meinen Gedanken. Es wirkt so passend, dass er derjenige ist, der mich umbringt. Ob er all die Zeit darauf gewartet hat? War all das Geflirte nur das Vorspiel für diesen Showdown, in dem er mir auf eine ganz andere Art und Weise näherkommt? Niemals hätte ich ihm so etwas zugetraut, unsere täglichen Treffen hatten sich für mich fast angefühlt wie Freundschaft oder ... mehr. Wie eine Verbindung. Umso stärker fühlt es sich wie ein Vertrauensbruch an, dass ausgerechnet er jetzt hier ist.
Der Asset geht einen Schritt auf mich zu und ich drücke mich an das Glas. Es gibt keinen Fluchtweg, kein Entkommen, dennoch kann ich nicht verhindern, dass ich aufschluchze und mir die Tränen nun kontinuierlich über das Gesicht laufen.
»Lass sie in Ruhe!«, ertönt da Cades Stimme hinter dem Asset. Er steht am Rande des Balkons und hat seine Pistole auf den Asset gerichtet. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert bin oder noch mehr Angst habe. Hat Cade gegen den Asset eine Chance?
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