6 - Die Kammer
Auf dem Weg zu Kräuterkunde war Lily allein, denn sie hatte verschlafen und sie musste von Alice vergessen worden sein. Als sie so durch die Korridore hetzte, hörte sie auf einmal ein Schluchzen. Normalerweise hätte sie das nicht im Geringsten gekümmert, sie wäre weitergerannt, um nicht die gesamte Stunde zu verpassen, doch da Kräuterkunde nicht gerade ihr Lieblingsfach war und man den Inhalt einer Unterrichtsstunde in fünf Minuten zusammenfassen konnte, drehte sie sich um und stapfte zurück zu der Stelle, wo sie das Geräusch gehört hatte.
Zu ihrer Überraschung war das eine Klotür. Der Boden war überflutet, wie sie entnervt bemerkte, als sie mit ihrem rechten Fuß in eine Pfütze trat, woraufhin ihr Schuh bis auf die Socke durchnässt wurde.
„Argh!", machte Lily frustriert und stampfte zu allem Überfluss auch noch wütend auf, sodass das Wasser in besagter Pfütze hochspritzte und sie von oben bis unten nass wurde. „So ein Mist."
„Dadurch wird es nicht besser", sagte eine weinerliche Mädchenstimme.
„Ich weiß", erwiderte Lily erschöpft und ließ ihre Kleidung und Haare schneller trocknen. „Wer bist du?"
„Iiich bin Myrte, der Geist dieser Mädchentoilette", antwortete die Stimme. „Und wer bist du?"
„Lily Potter."
„Potter... Es ging hier mal ein Junge zur Schule, der hieß Haaarry Potter und der versprach mir, ..." Sie schniefte. „... dass er mich wieder besuchen würde. Aaaber... er ist... nicht..." Ein Hicksen.
Lily half ungeduldig nach: „... gekommen?"
„Genaau!" Myrte schien jedes sich dazu eignende Wort in die Länge ziehen zu wollen, was Lily ziemlich nervig fand. Unvermittelt schoss der Geist oben aus der Klokabine hinaus und kreischte dabei: „ES IST NIEMAND GEKOMMEN! NIEMAND! ALLE NUR, WIE ES IHNEN PASST!" Dann beruhigte sie sich. „Keiner besucht mich freiwillig."
Ehrlich gesagt konnte Lily das trotz miserabler Menschenkenntnis absolut verstehen. „Ähem... ja. Myrte, weißt du eventuell, wo diese Kammer des Schreckens ist?"
Das durchscheinende Mädchen nickte auf einmal begeistert. „Das weiß ich. An einem Haaaaahn, da ist so ein Schlangensymbol drauf und wenn du Paaaarsel sprechen kannst, geht so eine Rööööhre auf."
Es ist echt anstrengend, sich mit Myrte zu unterhalten. „Danke." Lily hockte sich vor das Gebilde aus altmodischen Waschbecken, das sich in der Mitte des überfluteten Raumes befand, und tastete die Wasserhähne ab. Dabei versuchte sie zu ignorieren, dass Myrte ihr permanent über die Schulter linste. Irgendwann stieß sie mit den Fingern auf etwas, das sich vom kalten Metall abhob. Sie sah sich die Stelle genauer an. Ein geschupptes Wesen war dort zu sehen.
Lilys Meinung nach ähnelte es eher einem Drachen, aber das war wohl James mit seinen ausgedachten Geschichten schuld, die er, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot, an jeden verzapfte, der auch nur den Ansatz von Neugier zeigte.
Sie zögerte, unsicher, was sie nun tun sollte. „Ähh, und jetzt?"
„Musst du was saaaagen."
„Was denn?" Nachdenklich runzelte Lily die Stirn.
„Weiß ich doch nicht", gab Myrte tieftraurig zu. „Ich kann kein Parsel." Sie schniefte demonstrativ.
„Oh, hm, ja..." Lily wandte sich wieder dem Schlangensymbol zu, „Öffne dich?" Nichts passierte.
Myrte verdrehte seufzend die Augen. „Paaarsel!"
„Jaja, ich versuch's ja!", rief Lily entnervt. Aber die Schlange sah... tot aus. Sie bewegte sich nicht. Da kam ihr eine Idee. Sie öffnete die Hand und ließ ein grünliches Feuer aufflammen, dessen kalter Schein geisterhaft über die metallene Haut der Schlange züngelte. Dadurch wirkte es so, als würde sie sich regen. „Öffne dich!", zischte Lily, ehe der Effekt nachließ.
Ein Rumpeln ertönte aus der Tiefe.
Lily stand auf und wich zurück, während die Maulende Myrte einen Kreischanfall bekam und schreiend und platschend in der erstbesten Toilette verschwand, die Dramatikerin.
Die Waschbecken rückten auseinander und gaben einen klaffenden Tunnel frei, der senkrecht in die Tiefe führte.
„Uh", machte Lily. Dann jedoch trat sie an den Rand des – sie konnte es nicht besser beschreiben – Loches. Sollte sie da einfach reinspringen? Ja, entschloss sie sich. Früher oder später müsste sie sowieso, da brachte es nichts, wenn sie es hinausschob. Ein Schwebezauber aber wäre die mieseste Idee, die man haben konnte, denn wenn sie einen anwendete und das Rohr eine Kurve machte, hätte sie sehr schnell eine sehr große Beule.
Also nahm sie all ihren Mut zusammen und machte einen Schritt nach vorne, sodass sie in das Loch fiel. Dieses stellte sich als unangenehme Abflussrohr-Rutschbahn heraus. Sie hasste es, nicht zu wissen, wie sie landen würde. Insgeheim hoffte sie auf einen seichten Abgang, aber das konnte sie wohl in Anbetracht des Tempos, das sie an den Tag legte, vergessen.
Ziemlich unsanft kam Lily in einem Haufen von Knochen und Staub auf, was für einen entsetzten Aufschrei sorgte. Als sie sich wieder beruhigt hatte, klopfte sie den Schmutz angewidert von ihrer Schuluniform. Die war jetzt so dreckig, dass Lily sie heute unmöglich weiter anziehen konnte.
Sie zuckte die Schultern. Egal. Regel ich nachher mit Magie.
Erstmals sah Lily sich richtig um. Es war dunkel hier, aber durch die Öffnung über ihr, durch die sie gekommen war, strömte gerade so viel Licht, dass man genug sehen konnte, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Der Boden war nicht besonders sauber und ein wenig feucht. Ein paar Meter weiter lag eine riesige Schlange, was Lilys Herzschlag rapide beschleunigte, doch nach ein paar Sekunden verstand sie, dass das bloß eine abgeworfene Haut war. Dann wurde ihr mulmig zumute. So groß würde ihr eigenes Haustier nach und nach auch werden.
Lily schluckte trocken und rief sich ihren Plan in Erinnerung. Sobald ihr Basilisk hier unten war, würde sie ihn in einen magischen Schlaf versetzen, da sie nicht immer für sein Futter sorgen konnte. Vielleicht würde er dann auch nicht wachsen.
An einer Wand entdeckte sie ein Rohr, an dessen Ende ein dünnes Rinnsal ein stetes Tropfen verursachte und eine kleine Mulde im steinernen Boden verschuldet hatte. Vermutlich führte dieses Rohr zu einem selten benutzten Waschbecken. Da in Hogwarts aber eher selten ein Waschbecken alleine herumstand und gemieden wurde, dürfte dieses wohl irgendwo in der Nähe der Toilette der Maulenden Myrte sein. Also musste Lily nicht befürchten, einen Wasserschwall entgegengekippt zu bekommen. Die meisten Rohre in Hogwarts waren miteinander verbunden, deshalb müsste ihr Basilisk sie hören können, wenn sie auf Parsel nach ihm rief.
„Komm zum Klo der Maulenden Myrte!", zischte Lily ins Rohr, das Bild ihres Basilisken vor Augen. Um unfreiwillige Zuhörer machte sie sich keine Sorgen, denn ihr Ruf würde zwar in Form eines Zischens durch die Wasserrohre der Schule hallen, wäre jedoch für normale Zauberer nahezu unhörbar und komplett unverständlich. Außerdem war es mehr als unwahrscheinlich, dass gerade ein zweiter Parselmund in Hogwarts zur Schule ging.
Nach ein paar Minuten ungeduldigen Wartens fiel der Basilisk durch die Öffnung der Toilette, auf der sich Myrte vor fast einem Jahrhundert breitgemacht hatte, und Lily fing ihn im letzten Moment auf, sodass beide zu Boden gingen.
„Runter von mir!", grummelte Lily und hob den schweren Körper der Schlange stellenweise an, um darunter hindurchzukriechen, was sich aber als ziemlich schwierig herausstellte, denn sobald Lily halb durch war, konnte sie das Tier nicht mehr festhalten und wurde von ihm begraben.
„Hättessssst du ein bissssschen mehr Geduld, ginge dassssss sssicher leichhhter", beschwerte sich die Schlange und kroch ziemlich genervt wirkend von dem Mädchen herunter.
Kaum konnte Lily sich wieder bewegen, rappelte sich auf und ging im Hüpfschritt auf einen mit Geröll versperrten Eingang zu und fegte die Steinbrocken mit einer Handbewegung geräuschvoll beiseite. Der Basilisk ringelte sich verschreckt zusammen.
Lily ignorierte ihn und trat fasziniert auf eine ungewöhnliche, riesige runde Tür zu, an der große Messingschlangen befestigt waren. Kurz zögerte sie, dann sagte sie auf Parsel: „Öffne dich!" Die Schlangen bewegten daraufhin mit einem metallischen Geräusch die Körper und eine zusätzliche wand sich in einem darum eingelassenen Kreis umsie herum. Als sie wieder dort verschwand, wo sie hergekommen war, schwang die Tür auf.
Dahinter befand sich ein Saal, wie Lily noch nie einen gesehen hatte. Ein relativ breiter Weg führte zu einem riesigen Gesicht, das magisch in grünlichen Fels gehauen worden war.
Das ist Salazar Slytherin, meldete sich die Stimme zu Wort, die sich eigentlich nur zum Gutenachtgruß bemerkbar machte.
Lily nickte überrascht ob der plötzlichen Aktivität der Stimme und besah sich den Rest der Kammer des Schreckens. Hier war viel Wasser – sehr viel Wasser. Auf den dunklen Fliesen zu ihren Füßen hatten sich unterschiedlich große Pfützen abgestandenen Wassers gebildet, denen Lily jedoch möglichst auswich, als sie auf etwas Gigantisches zuging, da teilweise in einem kleinen See vor dem Antlitz Salazar Slytherins lag. Von weitem sah es aus wie ein Gebilde aus Stöcken... Als sie näher kam und erkannte, was es war, zuckte sie zusammen, während hinter ihr ein entsetztes Zischen zu hören war. Das war also der alte Basilisk, den ihr Vater in seinem zweiten Jahr getötet hatte. Jetzt war nur noch das Skelett übrig, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Obendrein lag ein süßlicher Verwesungsgeruch in der Luft, den man äußerst treffend als übelkeiterregend bezeichnen konnte.
„Das sollte ich beseitigen", murmelte Lily.
Warte!, fuhr die Stimme sie an, was Lily hefig zusammenzucken ließ. Bewahre die Zähne auf!
„Die Zähne?" Das Mädchen trat skeptisch näher an das Knochengebilde heran. „Das sind aber nur noch sechs."
Das reicht. Das Gift ist schon nach einer Minute tödlich, nahezu nicht heilbar, extrem selten und daher sehr teuer.
„Und wie stellst du dir das vor, die abzunehmen, wenn die so hochgiftig sind, wie du sagst?", spöttelte Lily eine Spur genervt. Eine Idee blitzte in ihrem Geist auf. „Okay, ich kann's ja versuchen." Sie zog ihren Zauberstab und richtete ihn auf das Gebiss: „Accio Basiliskenzähne!" Die lösten sich mit einem grauenhaften Knirschen aus dem Kiefer und schwebten auf Lily zu. „Finite!", rief sie hastig, und die Giftzähne fielen mit einem Klappern zu Boden.
Vorsicht beim Anfassen!, warnte die Stimme. Beim Fall könnten sie gesplittert sein.
„Nur um das klarzustellen: Das war DEINE Idee!", grummelte Lily, kniete sich jedoch vor den Haufen morscher Zähne und murmelte ein „Reparo". Schon sahen sie viel besser aus. Sie wollte gerade danach greifen, als die Stimme sie innehalten ließ:
Schrumpfen.
Ihre Finger stoppten in der Bewegung. „Den Zauber hatten wir noch nicht." Mit der anderen Hand streichelte sie unbewusst ihren Basilisken, der die Zähne weitaus weniger enthusiastisch betrachtete als die Stimme.
Dann erledige das ohne Spruch, das kannst du doch!, kam es ziemlich scharf von der Stimme. Anscheinend war nicht nur sie mit den Nerven am Ende.
Sie gehorchte ein wenig eingeschüchtert und zog ihren Zauberstab. Das Holz lag ihr kühl und ein wenig feucht in der Hand, als sie den Zauber ausführte.
Lily hatte sich vorgenommen, das Zaubern mit üblichen Hilfsmitteln zur Gewohnheit zu machen, da sie nicht auffällig werden wollte. Das hatte noch Zeit. Irgendwann würde sie es tun, das war klar. Aber jetzt doch noch nicht.
Um ohne Spruch zu zaubern, musste sie die Magie aus ihrem Inneren in ihre Finger leiten, von da in den Zauberstab und dann musste sie an das denken, was ihre Magie bewirken sollte, das hatte sie erst letztens herausgefunden. Nur leider war auch die Fehlerquote nicht gerade gering. Die Zähne verkleinerten sich auf die Größe eines Muggellineals. „Die sollten aber kleiner werden", beschwerte sie sich und schüttelte ihren Zauberstab, in der Hoffnung, er würde ihr dann eher gehorchen. Diesmal wurden die Giftzähne so groß wie Füllerpatronen, die sie von zuhause kannte. „Geht doch." Sie packte die Zähne vorsichtig in eine Tasche ihres verrutschten Umhangs.
Mit einem „Evanesco!" und acht Anläufen – sie beherrschte die Bewegung noch nicht perfekt – ließ sie das Skelett der riesigen Schlange verschwinden.
Ihr eigener Basilisk schlängelte sich am Rand des Steinbeckens entlang auf die Nachbildung des Gesichts Slytherins zu und in den weit geöffneten Mund hinein. Plötzlich bewegte sich dieser und begann sich zu schließen.
Nun lass ihn einschlafen.
Lily steckte den Zauberstab weg. Diesmal konnte sie sich nichts Halbes leisten, denn der Mund ging immer weiter zu und sie wusste, Slytherin hatte bestimmt dafür gesorgt, dass hier nichts so leicht manipuliert werden konnte. Sie hob die Hände und dachte ganz fest daran, dass ihr Basilisk tief schlafen sollte, ohne Nahrung zu benötigen, und dass er erst aufwachen sollte, wenn der Zauber aktiv beendet wurde. Ein solcher Zustand war auch als Stasis bekannt. Die Schlange rollte sich schläfrig zusammen, ehe der steinerne Mund sich schloss.
Im selben Moment schoss ein greller Schmerz durch Lilys Körper. Sie schrie auf und krümmte sich zusammen. Es fühlte sich an, als würde sie ausgeweidet. Immer wieder zuckte sie unter dem stechenden Schmerz, der sich nun auf ihre Brust konzentrierte. Der Rand ihres Sichtfeldes wurde dunkler und sie sah für einige Momente doppelt. Irgendetwas, was sich in ihr befunden hatte, schien sich aus ihr herauszwingen zu wollen. In der Sekunde, in der sie das erkannt hatte, wurde ihr schwarz vor Augen.
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