27 - Verfolgt
Im Wald war schon die Dämmerung hereingebrochen und als warm konnte man den Abend auch nicht mehr bezeichnen. Normalerweise hätte sie unter diesen Umständen nicht einmal im Traum daran gedacht, im nahe gelegenen Waldstück umherzuschleichen. Aber sie wollte fluoreszierendes Moos sammeln, um es in Gläser zu füllen, die sie dann als Nachtlichter verwenden würde. Sie hatte schon eine ganz genaue Vorstellung, wofür es nützlich sein würde.
Haze hatte sie mitgenommen, aber das Tier hatte sich nach den ersten fünf Minuten Fußmarsch mit einem Flügelschlag verabschiedet. Vermutlich war ihr ihre Besitzerin zu langsam gewesen.
Nun gut, dann eben ohne das Eulenviech, dachte sich Lily unbekümmert und ließ den Blick über den mit Laub und Farn bedeckten Boden schweifen. Doch nirgendwo sah sie das gelblich-grüne Neonlicht, das vom magischen Moos hätte ausgehen sollen. Aber das hatte sie auch nicht wirklich erwartet, schließlich sahen nur die wenigsten Muggel jemals leuchtende Moose, Pilze oder Raupen. Daher mussten sich die auch weiter drinnen im Wald befinden.
Der Boden war noch aufgeweicht vom Regen letzter Nacht und gab bei jedem Schritt widerlich schmatzende Geräusche von sich. Zum Glück hatte Lily Gummistiefel angezogen, die jedoch zu ihrem Leidwesen rosa waren und ein kitschiges gelbes Blümchenmuster trugen. Es dauerte nicht lange, da war davon nicht mehr viel zu sehen, denn immer wieder sank sie tief in den Morast ein.
Lily fand, sie hatte zu viel Zeit mit Familie und Freunden verbracht, deshalb hatte sie Schutz dort gesucht, wo ihr so schnell niemand hin folgen würde.
Außerdem musste sie nachdenken. Irgendetwas war heute morgen seltsam gewesen. James hatte wie paralysiert vor sich hingestarrt, und Albus hatte schlicht verstört gewirkt. Hatte sie etwas verpasst? Hatte Lucy ihnen etwa gestern als Werwolf einen Besuch abgestattet? Aber dafür hatten sich ihre Eltern viel zu normal verhalten. Dann musste etwas anderes vorgefallen sein.
‚Schlecht geschlafen', hatte beide ihrer ihrer Brüder bloß gemurmelt, als sie deutlich zeitversetzt am Frühstückstisch erschienen waren.
James sah seine kleine Schwester vor einem Steinhaufen stehen. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber die glatten roten Haare waren unverkennbar, ebenso wie ihre Körpergröße und die Art, wie sie sich bewegte. Sie drehte sich leicht zur Seite und er konnte die aufgeschlitzte Ratte sehen, die leblos von ihrem linken Arm baumelte. In der anderen Hand hielt sie ein rot schillerndes Messer. Die Vorderseite ihres Schlafkleides war vollkommen befleckt mit dem Blut des Tieres. Auch die Innenseite des Mantels war nicht unverschont geblieben. Lily wischte sich achtlos die klebrigen Hände daran ab.
Was tat sie da? Er versuchte keine Panik zu kriegen. Das hier war nicht seine Schwester. Bloß ein Alptraum. Vielleicht sollte er nicht mehr so viel über mögliche bösartige Absichten Lilys nachdenken.
Die Szene änderte sich. Wieder war da Lily, sie stand wie erstarrt in einem Raum voller Leichen. Diesmal hatte er freie Sicht auf ihr Gesicht. Bodenloses Erschrecken zeichnete sich darauf ab, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte. Normalerweise setzte sie entweder die niedliche oder kühle Maske auf. Er wusste, dass es Masken waren, denn seit sie nach Slytherin sortiert worden war, betrachtete er sie kritischer. Doch dieser Raum schien sie zu schockieren, genau wie er es bei ihm tat. Hieß das nicht, dass sie nichts Böses vorhatte?
Ohne dass er es richtig mitbekommen hätte, hatte erneut ein Situationswechsel stattgefunden. Diesmal lief er Lily hinterher, die zielstrebig auf eine Tür am Ende eines Ganges zuging. Nirgendwo waren Lampen, doch irgendwoher schien das Licht zu kommen, das stark gedimmt die dunkel gefliesten Korridore flutete. Er wusste sofort, wo er war. Im Ministerium. Seine Schwester schien mal wieder auf einem ihrer Alleingänge zu sein. Immer wieder sah sie sich beunruhigt um, die langen Haare verdeckten immer wieder ihr Gesicht, wenn sie den Kopf drehte. Einmal blieb sie stehen und betrachtete sich in der spiegelglatt polierten Wand. Aber selbst ihr Spiegelbild zeigte ihm nicht das Gesicht, was ihm immer seltsamer vorkam.
Plötzlich drehte sie sich um und er zuckte voller Entsetzen zurück. Denn aus Mund, Nase und Augen quoll Blut und das Gesicht war zu einer irren Fratze verzerrt.
Was es auch war, Lily war sich nahezu sicher, dass es nichts Gewöhnliches gewesen war. Wenn Keira an ihren Brüdern herumgepfuscht hatte, konnte sie Lilys Hilfe bei Nautilus jedenfalls vergessen.
~*~
Zwei Stunden später wurde sie endlich fündig. Ein ganzer Baum war von der Wurzel bis fast hinauf zur Krone bedeckt mit leuchtendem Moos. Sie streifte die mitgebrachten Gartenhandschuhe über – diese Sorte leuchtenden Mooses war leicht ätzend und noch einmal wollte sie nicht im St. Mungos auftauchen müssen. Vorsichtig löste sie das Moos von der morschen Rinde und tat es in die leeren Marmeladengläser, die sie in einem Korb her transportiert hatte.
Auf dem Rückweg betrachtete sie die Innenflächen ihres Handschutzes. Einige Stellen sahen bereits ein wenig abgewetzt aus. Sie würde, sobald sie zurück in Hogwarts war, daran arbeiten, dieses Problem zu beheben. Was konnte gegen die Säure helfen, die dieses spezielle Moos enthielt? Ein bestimmtes Material vielleicht?
Immer noch grübelnd, betrat sie die Auffahrt ihres Hauses und stieg über die kleine Hecke, um dann über den Kiesweg direkt vor der Fassade zur Haustür zu gelangen. In der Küche schien Licht. Im Vorbeigehen klopfte sie gegen die Scheibe, als sie sah, dass sich bloß Albus dort aufhielt. Ihr Bruder zuckte erst zusammen, lächelte dann aber, als er sie sah. Er lief zur Tür und öffnete ihr.
„Was machst du denn noch so spät draußen?", fragte er neugierig.
Lily hielt ihren Korb hoch. „Ich war im Wald Moos sammeln. Ich möchte etwas basteln. Du kriegst auch eins."
Al staunte beim Anblick der magischen Gewächse. „Das leuchtet ja!"
Seine Schwester beugte sich verschwörerisch zu ihm vor und flüsterte ihm ins Ohr: „Es werden Nachtlichter."
„Cool", sagte er, schien aber etwas Spannenderes erwartet zu haben. „Und ich kriege ganz sicher eins?"
„Ja, versprochen", meinte Lily. „Lässt du mich jetzt rein? Mir ist ein bisschen kalt."
In der Diele gab sie Albus den Korb, ehe sie sich an der Kommode abstützte und sich die Gummistiefel von den Füßen trat. „Weißt du, was es zum Abendessen gibt?" Erst, als eine Weile keine Antwort kam, sah sie fragend auf. Al sah sie nachdenklich an. Misstrauisch, korrigierte sie sich. „Was ist los mit dir?", beschloss sie ihn einfach zu fragen. „Du verhältst dich schon den ganzen Tag so komisch." Hoffentlich hatte sie sich damit nicht gerade selbst ihr Grab geschaufelt.
Er war in dem Moment, in dem sie begonnen hatte zu sprechen, aus seiner Starre hochgeschreckt.
Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Genau das meine ich."
Verlegenes Am-Kopf-Kratzen. „Nichts, ehrlich. Es war nur ein creepy Albtraum, in dem du vorkamst."
Nervös hakte Lily nach: „Was hab ich denn da gemacht?"
Er zögerte, antwortete aber schließlich doch. „Du hast eine Ratte aufgeschnitten und so ein Kram. Und dann warst du in einem Raum voller Toter. Das waren praktisch verschiedene Szenen. In der nächsten warst du wieder selbst komplett mit Blut eingesaut. Das kam einfach aus deinem Mund und den Augen..."
Lily war kreidebleich geworden. „Nicht wahr!" Ihre Stimme strafte ihre Aussage Lügen, aber Al merkte es gar nicht.
Beschämt sah er zu Boden und murmelte eine Entschuldigung, ehe er sich leise verdrückte, nachdem er den Korb abgestellt hatte.
Fassungslos stand die kleine Potter nun in der leeren Diele. Ihre Gedanken rasten. „Keira", flüsterte sie. Ihre Pupillen zuckten ziellos hin und her. „Was haben Sie getan?" Sie hob den Korb auf und umklammerte ihn, als könnte er wieder rückgängig machen, dass ihre Brüder heute von einem Albtraum heimgesucht worden waren, der größtenteils wahre Begebenheiten widergespiegelt hatte. Aber wie konnte das sein? Selwyn war doch gar nicht anwesend gewesen, als sie Haze auf so makabre Art und Weise gefüttert hatte... Doch, war sie. So wie sie auch im Ministerium dagewesen war, als Lily geglaubt hatte, alleine zu sein. Diese unmögliche Todesserin hatte sich desillusioniert.
Lily hielt die Luft an. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie ein zweites Atmen hörte, das ein wenig verspätet stoppte.
„Ich hasse Sie", hauchte das Mädchen fassungslos. „Raus. Sofort. Und wehe, Sie kommen wieder. Nautilus ist Geschichte, kapiert?"
Nur einen Meter von ihr entfernt wurde eine weibliche Gestalt sichtbar, die sich unter einem dunklen Umhang versteckt gehalten hatte. Sie nahm die Kapuze ab. Keira Selwyn sah sie entschuldigend an. „Es tut mir leid. Es war ein Versehen. Deine Brüder sollten das alles nicht zu Gesicht bekommen."
„Raus, sagte ich!", zischte Lily und sah panisch zur Treppe. Jede Sekunde konnte da Ginny herunterkommen. „Sonst entdecken meine Eltern Sie noch! Das könnte mir gerade noch fehlen!"
„Lass es mich dir erklären", bat Selwyn.
„Nein", sagte Lily kalt. „Hauen Sie einfach ab." Wie konnte diese Frau da nur so ruhig stehen, als ginge sie all das überhaupt nichts an? Moment, das tat es eigentlich ja auch gar nicht. Es war nicht die Beziehung zu ihren Geschwistern, die heute gelitten hatte.
Das Gesicht der Ministeriumsangestellten nahm einen gefühllosen Ausdruck an. „Kein Wort mehr, Lily. Du bist hier nicht die, die zaubern darf."
Empört sah die Zwölfjährige zu der Erwachsenen auf. „Sie bedrohen mich allen Ernstes?"
Um Selwyns Mund zuckte ein boshaftes Lächeln. Gerade konnte Lily nicht leugnen, dass sie Angst vor ihr hatte. „Seien wir doch ehrlich, ich bin alles andere als nett und ich könnte dich jeden Moment umbringen. Niemand würde mich verdächtigen." Ihre Züge wurden auf einmal weicher. „Aber ich werde dir nichts tun. Du bist interessant. Vielversprechend. Und du würdest von Nautilus ebensosehr profitieren wie ich. Wenn nicht sogar mehr. Ich weiß, dass du jemanden suchst, der dich unterrichtet. Versuch es doch wenigstens."
Die Potter war einige Schritte zurückgewichen, was sie sich eigentlich auch hätte sparen können, da hinter ihr bloß Wand war. Keira stand näher an der Treppe als sie. Was für ein Desaster. „Nehmen wir mal an, ich würde ganz hypothetisch ja sagen."
Selwyn nickte. „Ja? Was dann?"
„Wenn ich es nicht auf die Reihe kriege, ist das auch nicht weiter schlimm, Sie lassen mich in Ruhe und ich kann tun und lassen, was ich will, richtig?" Lily verengte die Augen zu Schlitzen.
Die Frau verdrehte die Augen. „Meinetwegen. Sobald ich aber doch irgendwie das Ziel von Nautilus erreiche, würde ich dich nochmal kontaktieren. Was du daraufhin tust, ist dir überlassen."
„Okay, das wäre nämlich großartig." Ein bisschen Galgenhumor konnte schließlich nie schaden. „Aber wie stellen Sie sich das vor? Ich kann plötzlich wieder Parsel sprechen und – tadaa – die Kammer ist offen. Oder wie?" Das war ihr tatsächlich noch völlig schleierhaft.
„Grundsätzlich ist das das, was ich mir erhoffe", gab Selwyn schmunzelnd zu. „Aber das ist dann doch eher Wunschdenken. Eigentlich erwarte ich eher von dir, dass du einen alternativen Weg in die Kammer findest. Du bist eine Slytherin, du kannst dich ziemlich unbemerkt da herumtreiben, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Ansonsten kannst du dich in der Bibliothek nach Büchern über die Schlangensprache umsehen. Wie ich dich einschätze, bist du dort kein überraschender Besuch."
„Wenn das alles ist, habe ich nichts dagegen", sagte Lily. „Aber so etwas bringen Sie nicht nochmal. Nie wieder spionieren Sie mir oder meiner Familie nach. Abgemacht? Und irgendwelche seltsamen Traumsequenzen halten Sie auch Al und James fern."
Die Todesserin nickte. „Hatte ich sowieso nicht wieder vor. Ich wollte nur mehr über dich erfahren. Und letzteres war wie gesagt ein Unfall. Ich kann manchmal hellsehen."
Die Potter zog ungläubig die Augenbrauen hoch.
„Um das zu provozieren", fuhr Selwyn fort, „denke ich an die Person, über deren Zukunft ich mehr wissen will. Nur habe ich es dieses Mal wirklich total in den Sand gesetzt. Meine Konzentration wurde unterbrochen, als ich testweise versucht habe, deinen Brüdern einen Traumfetzen zu schicken. Und so ist irgendwie alles bei ihnen angekommen, was ich gesehen habe."
Lily runzelte die Stirn. „Aber mir ist noch nie Blut aus den Augen gekommen."
Selwyn zuckte die Schultern. „Die Szene war mir selbst auch völlig neu. Sie ähnelte bis zu dem Moment, in dem du dich umgedreht hast, sehr deinem Besuch der Mysteriumsabteilung, bevor du das... Projekt gefunden hast, an dem die Verschwiegenen gerade arbeiten. Aber die Sache mit dem Blut verstehe ich selbst nicht. Ich glaube, das kam bereits aus einer Vision."
Auch wenn Lily noch nicht alles verstanden hatte, fielen ihr keine Fragen mehr ein, und eigentlich legte sie keinen besonders großen Wert darauf, noch mehr Zeit mit einer gefährlichen Verbrecherin zu verbringen, daher nickte sie nur noch knapp und verabschiedete sich mit einem „Bis dann".
Keira Selwyn zog ihren Zauberstab und sagte: „Finite."
„Sie haben diesen Raum mit einem Muffliato belegt!", stellte Lily fest. „Und ich habe mir Sorgen gemacht, man könnte Sie hören."
Die Todesserin lächelte schadenfroh, ehe sie in der Dämmerung verschwand.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro