18 - Spät am Abend
Grübelnd kaute Lily auf ihrem Federkiel. Woher zur Hölle sollte sie wissen, wie Dyanthuskraut mit Hitze und Flubberwürmern reagierte? Es versengt sich selbst, schrieb sie schließlich auf Geratewohl. Ein Blick auf die Armbanduhr ließ sie schockiert innehalten. Nur noch eine Viertelstunde! Den Rest der Zeit kritzelte sie hastig vor sich hin, unterbrochen von grübelndem In-die-Luft-Starren.
Man konnte nicht wirklich behaupten, dass sie viel gelernt hätte, obwohl Alice sie ab und an in die Bibliothek mitgenommen hatte, wenn sie nicht sowieso dort gewesen war. Aber statt den Lernstoff der ersten Klasse zu wälzen, hatte sie sich das Wissen der folgenden Jahre angeeignet. Irgendwie war sie noch nicht ganz über den letztjährigen Verlust ihrer besonderen Kräfte hinweg und redete sich manchmal ein, sie besäße sie noch. Wenn sie die einfacheren Zauber ausführte, fühlte sie sich unterfordert, obwohl sie die meisten Sachen nicht viel besser konnte als die anderen Kinder. Nur in Geschichte der Zauberei und Vgddk langweilte sie sich nicht. Ihre Mentalität stand ihr gewissermaßen im Weg.
„Noch zwei Minuten", sagte Slughorn.
Panisches Nach-Luft-Schnappen war im gesamten Raum zu hören. Einige Kinder jammerten leise vor sich hin, wobei auch Lily keine Ausnahme machte. Nicht, dass ihr die Zeit zu wenig erschien – sie reichte eigentlich sogar völlig aus – aber es war einfach so, dass sie die Tiefbegabung ihres Vaters in diesem Fach offensichtlich geerbt hatte, was sie wohl schon beim Ölbrand vor zwei Jahren hätte begreifen sollen. Doch irgendwie gab sie die Hoffnung nicht auf, vielleicht wie ihre Mutter gut in Zaubertränke und schlecht im Kochen zu sein. Vermutlich war das nicht besonders wahrscheinlich, aber man würde doch noch träumen dürfen.
„Zeit um!", verkündete der Professor wenig später.
Hastig ergänzte Lily ihre Arbeit um ihren Namen und gab ab, um mit Jason quatschen zu dürfen. Alice jedoch schien noch nicht fertig zu sein; sie hielt ihre Hand fest auf ihr Pergament gedrückt und schrieb weiter.
Der Tränkemeister war davon sichtlich irritiert. So jemand war ihm anscheinend noch nicht untergekommen. „Miss Parkinson, ich denke, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt", sagte er zögernd.
Bettelnd sah Alice zu ihm auf. „Ich weiß, Sie machen normalerweise keine Verlängerungen, aber könnten Sie ausnahmsweise...?"
Er schien mit sich zu ringen. „Es gibt hier klare Richtlinien", versuchte er standhaft zu bleiben, aber man konnte förmlich sehen, wie er weich wurde. Der Slytherin-Vorteil in Zaubertränke entfaltete seine Wirkung.
„Ich könnte es verstehen, wenn Sie Nein sagen würden", schniefte Alice und schrieb ihren Namen dramatisch langsam auf das Pergament.
Slughorn machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, wissen Sie was? Ich werde mal ein Auge zudrücken." Er zwinkerte ihr zu. „Aber nur noch fünf Minuten."
Lily und Jason hatten fassungslose Blicke gewechselt, fingen nun aber breit an zu grinsen. Unterm Tisch schlugen sie sich lautlos ab. Als Alice endlich abgegeben hatte und das Potter-Parkinson-Creevey-Trio auf dem Gang stand, sagte Jason staunend: „Du Biest."
Ergänzend fügte Lily hinzu: „Das war ganz schön Slytherin von dir." Insgeheim wünschte sie, sie könnte genauso gut manipulieren, und nahm sich auch vor, es zu lernen. Aber sie wusste, niemals würde sie so gut sein wie Alice, die in einer Umgebung großgeworden war, wo man durch Manipulation überlebte.
~*~
Ungeduldig wippte Lily auf ihrem Bett vor und zurück, während Helena ihr die Haare machte.
„Stillhalten", sagte die Longbottom leise und steckte eine Haarnadel in Lilys leicht gewellte rote Haare. Die Potter jaulte auf, woraufhin Helena zusammenzuckte. „Tut mir leid, aber ich hab's dir oft genug gesagt. Geht es?" Besorgt musterte sie Lily, die sich die Kopfhaut an der lädierten Stelle rieb.
„Ist schon okay, war ja meine eigene Schuld." Unwohl biss sich Lily auf die Wange. Sich für etwas zu entschuldigen oder die Schuld nicht abzuschieben, war noch nie ganz ihrs gewesen. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie niemals Fehler zugegeben. Immerzu waren es bloß die anderen, die durchs Fenster geflogen waren, die den Hausflur verdreckt hatten, die das Pult in der Grundschule zerkratzt hatten. Aber eigentlich hatte Lily Luna Potter das alles mehr oder weniger absichtlich getan, mit einem Fingerschnipsen, beim Spielen mit ihrer Magie. Inzwischen habe ich dieses ‚Problem' ja nicht mehr, dachte sie sich zynisch.
„Das war's", sagte Helena lächelnd und zupfte noch ein wenig an Lilys Haaren herum.
Die beiden Mädchen trugen Paillettenkleider, was vermutlich ein wenig übertrieben war, aber etwas anderes hatte Alice nicht zaubern können und Kate Adams war zu sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt gewesen – oder damit, die armen freiwilligen Helfer herumzukommandieren. Da wäre es zu viel verlangt gewesen, sie nach durchaus zeitintensiver Designarbeit zu fragen.
„Gehen wir dann jetzt?", wollte Lily wissen und zog sich ihre etwas unpassenden rosa Chucks an, ohne die man sie in ihrer Freizeit nur selten sah. Das lag aber nicht daran, dass Lily so ein großer Fan der Farbe rosa war, sondern dass ihre Mutter ihren Kleidungsstil bestimmte. Ginny wusste, was zu Lily passte, allerdings nicht, was ihr gefiel. Am liebsten hätte Lily eher dunkle Sachen getragen, aber so etwas besaß sie nicht. Und vermutlich war es für sie vorteilhafter, erstmal nicht auch noch durch einen extremen Stilwechsel auffällig zu werden.
~*~
Auf dem Weg zum Raum der Wünsche begegneten sie einigen älteren Schülern, die Schmiere standen und ihnen den Weg zeigten. Die meisten Lehrer hatten für heute die Patrouille ausfallen lassen oder bemühten sich, einen möglichst weiten Bogen ums siebte Stockwerk zu machen. Offensichtlich wollten sie den jungen Zauberern und Hexen nach den Examina den Spaß gönnen.
Vor dem Raum der Wünsche wartete Harriet Bender. Sie war wohl als Türsteher organisiert worden. Als sie Lily erblickte, winkte sie ihr begeistert zu und ignorierte Alice völlig, die sie daraufhin ebenfalls mit Nichtbeachtung strafte. „Hi, Lily. Auch hier?"
Die Potter runzelte die Stirn. „Ist nicht jeder aus Slytherin und Ravenclaw da?" Der Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen.
Harriet lachte auf. „Was hast du denn gedacht? Durch die Beziehung zwischen Adams und Alice' Bruder ist der Häuserhass nicht komplett flöten gegangen. Die Konservativeren unter uns kommen einfach nicht." Sie bedachte Alice mit einem Blick, der deutlich ausdrückte, wie sehr es sie wunderte, dass die Parkinson hier anwesend war. Vermutlich war diese einfach nur aus zwei Gründen hier: Einerseits wegen ihres Bruders, andererseits, weil es eben eine Party war.
Lily zog Alice schnell in den Raum, nur weg von Harriet, die sonst sicher einen Streit vom Zaun gebrochen hätte. Es waren schon viele Leute da, aber es war ja auch fast schon eine Viertelstunde nach offiziellem Beginn. Trotzdem strömten immer mehr Schüler hinter ihnen herein. Eine Tanzfläche war im hinteren Teil des Raumes platziert worden, auf der bunte Lichter aufflammten und umherwanderten. Direkt neben dem Eingang war die Bar, an der gerade Butterbier und Kürbissaft ausgeschenkt wurden, und zwar unter anderem von Helena und Jeremiah, die wohl zu früh dagewesen und von Kate eingespannt worden waren. Durch das Ankommen von Lily und Alice waren die beiden allerdings erlöst.
Jeremiah drückte einem älteren Ravenclaw das tropfende Tuch in die Hand, das er zum Aufwischen des Inhalts eines umgekippten Bechers verwendet hatte. Mit mürrischem Blick wandte er sich an die zwei Neuankömmlinge. „Ich höre nie wieder auf dich, Parkinson. Und in Zukunft komme ich keiner Party, die von Adams gegeben wird, darauf kannst du Gift nehmen!"
Während Alice ihn völlig ignorierte, hob Lily schief grinsend die Schultern. „Naja, musst du auch nicht. Obwohl es natürlich schön wäre, wenn du da wärst. Aber Kate ist ja nur noch zwei Jahre auf Hogwarts."
Helena trat zu ihnen. „Ihr hättet ruhig ein wenig früher kommen können." Sie trug einen altmodischen Festumhang, der zu Zeiten ihres Vaters zuletzt aktuell gewesen war, aber das schien sie nicht zu stören. Wie Lily erstmals auffiel, war das immer so. In ihrer Freizeit trug die Longbottom meist schlichte hochgeschlossene Kleider. Das konnte daran liegen, dass ihre Familie sich meist von der Muggelwelt fernhielt, außer sie besuchten Nevilles geisteskranke Eltern, und da war moderne Kleidung kaufen nun mal nicht drin. In der Zaubererwelt hatte die Mode sich aber nicht weiterentwickelt. Man trug das Gleiche wie vor vierzig Jahren oder noch früher.
Alice grinste. „Nun ja wir wussten, was mit frühen Vögeln passiert."
Beschwichtigend hob Lily die Hände, als Helena und Jeremiah sie mit Blicken erdolchten. „Es tut mir leid! Wir haben nicht dran gedacht." Die Parkinson hatte sie mit den Vorbereitungen so sehr auf Trab gehalten, dass sie keine Gedanken an etwas anderes verschwendet hatten. Alice wurde für die Misere natürlich nicht zur Verantwortung gezogen; es war klar, dass sie – selbst wenn sie dran gedacht hätte – niemanden außer Lily und Jason informiert hätte. Apropos...
„Wo ist eigentlich Lilys und deine Klette?", wollte Jeremiah missmutig wissen.
Alice verdrehte die Augen. „Ich nehme an, er hat es mit der Unpünktlichkeit ein wenig zu genau genommen."
Kaum hatte sie fertiggesprochen, kam Jason in den Raum der Wünsche und sah sich gehetzt um. Als er aber Kate sah, die in einem Buch für Haushaltszauber etwas nachschlug, um den Schülern an der Bar die Arbeit abzunehmen, atmete er erleichtert auf und trat zu seinen Freunden. „Puh. Allie, willst du tanzen?", fragte er erstaunlich direkt.
Während die beiden die Tanzfläche betraten, tauschten die drei Verbliebenen amüsierte Blicke. Lily holte für alle Kürbissaft und setzte sich zu den anderen an einen von Helena ausgesuchten Tisch, der aufwendig geschmückt war. Jeremiah klaute sich ein Gebäckstück vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners und zerteilte es in drei Stücke, von denen er zwei an die beiden Mädchen vergab.
Der Abend wurde sehr lustig, obwohl sie nicht tanzten. Keiner außer Helena hatte Talent dafür, also ließen sie es bleiben. Stattdessen erzählten sie sich Witze und Anekdoten. Als es später und die Musik langsamer wurde, stiegen sie auf Gruselgeschichten um, darunter auch hogwartsinterne. Jeremiah brachte den Blutigen Baron, Lily die Maulende Myrte und Helena den Fast Kopflosen Nick. Sie schmückten die Originalgeschichten ein wenig aus und veränderten sie. Irgendwann kamen auch Alice und Jason zurück, verschwitzt, erledigt und durstig. Als Gegenleistung für eine von Helena geholte Runde Saft erzählten auch sie etwas. Alice, die nach eigener Aussage in der Nokturngasse lebte, hatte einiges zu berichten. Jason, der aus einem Muggelwohngebiet kam, kannte ebenfalls ein paar Klischeehorrorgeschichten von zuhause.
Kate machte um zehn Uhr aus sich aufmerksam, indem sie gegen ein Glas schlug, bis es einen Sprung bekam. Spätestens dann hatte sie aller Aufmerksamkeit. „Die Klassen ein bis vier gehen jetzt in ihre Schlafsäle!", sagte sie laut.
Unter Gemurre verließen die Jüngeren in Gruppen den Raum der Wünsche. Gerade jetzt, wo die Party erst richtig losging, mussten sie gehen. Vermutlich auch gerade deshalb, wie Lily mit Blick auf Alice' angetrunkenen Bruder feststellte, der an ihr vorbei- und auf Kate zuwankte und dieser einen Kuss auf die Lippen drückte. Jason und vor allem Alice mimten Würgegeräusche, während Jeremiah einfach das Gesicht verzog, woraufhin Kate ein verzaubertes Küchentuch nach ihnen warf, das sich den fünf Freunden um die Ohren schlug. Lachend flüchteten sie quer durch Hogwarts, an Flitwick vorbei, der ein Auge zudrückte und zurück in die Kerker.
~*~
Lily saß auf der Fensterbank der Eulerei. Obwohl sie schon sehr müde war, hatte sie sich noch über Jeremiahs Abkürzung hinaufgeschleppt. Ihre Augenlider drohten die ganze Zeit zuzufallen, aber sie wollte noch ein wenig die Aussicht genießen.
In der Ferne sah sie die Peitschende Weide, denen Äste scheinheilig ruhig in der Brise schwangen. Plötzlich veränderte sich etwas. Die Potter konnte nicht genau sagen, was es war, aber etwa war anders.
Da entdeckte sie zwei Gestalten, die scheinbar streitend unter dem magischen Baum hervorkamen. Verblüfft beobachtete Lily die beiden. Da blitzte es kurz und die männliche Person ging in Flammen auf. Schreie von sich gebend, die man vom Turm aus kaum hören konnte, torkelte er herum, bis er ineinander zusammenfiel.
Lily war entsetzt aufgesprungen und hatte fassungslos zugesehen. Nun drehte sie den Kopf schnell weg und kämpfte gegen den Drang an, zu laufen oder den Kopf gegen den Fensterrahmen zu schlagen, bis das Bild vor ihren Augen verschwand. Als sie wieder hinsah, war niemand mehr da.
Disappariert. Einfach disappariert. Als wäre es nichts. Sie lachte hysterisch auf, woraufhin einige Eulen vor der verstörten Zwölfjährigen flüchteten. „Disappariert!", flüsterte sie kopfschüttelnd, ehe sie in atemloses Gelächter ausbrach.
Sie drohte den Verstand zu verlieren. Sie verkraftete es einfach nicht.
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