15 - Das Gift der Schlangen
Verschlafen tastete Lily mit dem rechten Fuß den Boden ab und stieß mit dem Fuß gegen etwas, was daraufhin umkippte und seinen Inhalt auf dem Fußboden verteilte.
„Mist", seufzte Lily und zwang sich, ihre Augen zu öffnen, um nachzusehen, was sie umgeworfen hatte. Erst wollten ihre Lider ihr die Sicht nicht freigeben und klappten immer wieder zu.
„Aguamenti." Ein eiskalter Wasserstrahl spritzte ihr ins Gesicht.
Kreischend und schlagartig hellwach flüchtete sie hinter ihr Himmelbett. „Was soll das?", keuchte sie und rieb sich das Wasser aus den Augen, während sie sich die andere Hand schützend vors Gesicht hielt. Sie blickte die verschwommene Alice vorwurfsvoll an.
„Du sahst aus, als könntest du es gebrauchen", erwiderte die Parkinson entschuldigend. Zuerst druckste sie ein wenig herum, dann rang sie sich zu etwas durch: „Ich war gestern gemein zu dir. Das wollte ich nicht." Verlegen starrte sie ihre Schuhspitzen an. Sie war bereits fertig angezogen.
Mehr würde sie nicht bekommen, das wusste Lily, also nickte sie lächelnd und umarmte Alice kurz. Diese versteifte sich einen Moment lang, dann erwiderte sie die Geste.
Lilys Blick fiel auf das, was ihrem Fuß zum Opfer gefallen war. Es war ein Korb, der mit Leckereien, darunter gefüllte Schokoeier und magisches Brausepulver gefüllt gewesen war, bis sie dagegengetreten hatte. Auch einen neongrünen Juxzauberstab entdeckte sie im allgemein auf dem Boden herrschenden Chaos. Begeistert schnappte sie ihn sich. Kaum hatten ihre Finger das scheinbare Holz berührt, wurde daraus eine Gummischlange. „Klasse", fand sie.
Helena kam mit ihrem eigenen Osterkorb herüber. Strahlend setzte sie sich aufs Bett und zeigte ihnen, was sie bekommen hatte. „Und was hast du gekriegt, Alice?", wollte sie neugierig wissen.
Alice zuckte bemüht desinteressiert die Achseln und hielt halbherzig eine schlichte Bluse hoch, die sie vorher in ihren Händen zerknautscht hatte. „Ich schätze, mein Bruder Luke hat auch nicht viel mehr in seinem Karton gehabt", mutmaßte sie und stand auf. „Ich geh dann mal zu ihm." Ein wenig steif verließ sie den Schlafsaal und warf die Tür kraftlos hinter sich zu, welche nicht ins Schloss fiel und einen Spaltbreit geöffnet blieb.
Die beiden verbliebenen Mädchen sahen ihr ratlos hinterher, ließen sie aber gehen. Vermutlich wollte sie einfach alleine sein.
„Sie gehört zu den Alten Familien, nicht wahr?", fragte Helena nach einem Moment betretener Stille.
Lily drehte ihr den Kopf zu und antwortete mit einem schiefen Lächeln: „Wir beide auch, aber wir waren auf der Gewinnerseite, nämlich der Hellen. Pansy, Alice' Mutter, war da eher weniger das Musterbeispiel. Sie plädierte dafür, meinen Vater auszuliefern."
„Oh", machte die Longbottom schockiert. „Sowas hat Dad schon mal erwähnt. Er war gar nicht begeistert, dass ich mich mit Alice abgebe."
„Pansy hatte halt Angst", überging Lily Helenas Ergänzung einfach. „Sie stand auf keiner Seite, nur Hogwarts war ihr wichtig. Und wenn mein Vater sterben musste, um das Schloss zu erhalten, dann fiel ihr die Entscheidung nicht schwer."
„Hm, ich find's gut von ihr, dass sie keine von diesen Beinahe-Heiligen aus dem Orden war", gab Helena nachdenklich zu und fügte hastig an: „Nichts gegen unsere Eltern."
„Schon okay. Seh ich genauso", winkte Lily ab. Helena hatte eben die Meinung der Potter äußerst treffend in Worte gefasst. Jedenfalls den Teil der Meinung, der von der Gesellschaft toleriert werden würde.
~*~
Alice zeigte sich in den nächsten Tagen noch abweisender als gewöhnlich. Im Unterricht schwieg sie, genau wie beim gemeinsamen Essen in der Großen Halle. Wenn man sie nach etwas fragte, waren ihre Antworten meist recht einsilbig. Das zugegebenermaßen etwas klägliche Geschenk schien ihr ziemlich unangenehm zu sein, dabei musste es das nicht. Aber es zeigte eben, dass ihre Familie nicht so viel Geld hatte, und das war es, was sie wirklich störte. Alice Parkinson war ein Mensch, der glaubte, aus dem Rahmen zu fallen bedeute einen Weltuntergang. Und etwas nicht mit Desinteresse abtun zu können war für sie genau das.
Aber noch etwas hatte sich geändert: Sie reagierte nicht mehr nur verbal offensiv auf bissige Kommentare anderer Häuser, sondern griff nicht selten zum Zauberstab, was Slytherin massenhaft Punkte kostete.
Wie auch jetzt, als Lily und Jason ungeduldig vorm Schulleiterbüro auf ihre Freundin warteten. Alice hatte im Flugunterricht aus Rache für eine Beleidigung einen Besen manipuliert, der daraufhin den Schüler abgeworfen hatte. Es war Jamie Gardner gewesen, der Gryffindor, den Lily zu Anfang des Schuljahrs vernichtend im Duell geschlagen hatte, der nun mit einer Gehirnerschütterung und einer verstauchten Hand im Krankenflügel lag und sich die Seele aus dem Leib kotzte.
Aus dem Büro hinter dem Wasserspeier drangen gedämpft aufgebrachte Stimmen. Jason warf Lily einen verschwörerischen Blick zu, ehe sie zu dem auf sie mit missbilligender Miene herabstarrenden Greifen aus Messing traten und lauschten.
„Miss Parkinson, ich wiederhole mich nur ungern! Sie scheinen nicht zu verstehen, dass das Ihre letzte Chance ist. Wenn Sie Ihr Benehmen nicht bald bessern, sehe ich mich gezwungen, Sie der Schule zu verweisen", sagte McGonagall gerade und klang dabei so, als habe sie überhaupt keine Lust auf dieses Gespräch, was höchstwahrscheinlich auch den Tatsachen entsprach.
„Gardner ist mir auf die Nerven gegangen. Wird ihm das eigentlich durchgehen gelassen?", erwiderte Alice hochmütig, was Jason das Gesicht in den Händen vergraben ließ. Auf diese Art würde sie nicht gerade Sympathiepunkte ernten.
„Ich kann niemanden wegen eines Kommentars bestrafen", verteidigte sich die Schulleiterin. „Mr Gardner mag nicht besonders höflich gewesen sein, aber er verstieß nicht gegen die Schulordnung. Selbst falls dies der Fall gewesen sein sollte, gibt das Ihnen nicht das Recht, ihm physischen Schaden zuzufügen. Ist das klar?"
„Ja, Professor", presste Alice gerade noch hörbar hervor. Sie war hörbar nicht damit zufrieden, was sie wieder zu hören bekam.
„Das ist wirklich die letzte Verwarnung, merken Sie sich das. Sie können nun gehen."
Lily und Jason wichen hastig zurück und ließen sich schnell wieder auf die Fensterbank sinken, um nicht den Anschein zu erwecken, genau das getan zu haben, was sie gerade versuchten zu vertuschen.
Alice kam die Treppe heruntergestapft und zog eine Grimasse, während sie mit dem Daumen hinter sich deutete. Das Gespräch mit der Schulleiterin schien sie tatsächlich wachgerüttelt zu haben, denn der teilnahmslose und manchmal wütende Ausdruck aus ihren Augen war verschwunden. Gerade wirkte sie bloß genervt und ein wenig beschämt. Als sich der Wasserspeier wieder vor den Durchgang schob, hakte sie sich zum ersten Mal seit Wochen wieder bei ihren Freunden ein und ließ gemeinsam mit ihnen zum Mittagessen in die Große Halle.
Vor ihnen gingen Alice' großer Bruder aus Ravenclaw und Kate Adams, die sich bei ihm über die letzte Alte-Runen-Stunde ausließ: „Professor Babbling hat gemeint, wenn man diese Rune hier" – sie zeigte ihm eine Rolle Pergament – „als ‚Haus' übersetzt, ergibt der Satz keinen Sinn mehr. Aber ich sehe da ehrlich gesagt das Problem nicht. Du, Luke?"
Alice formte mit den Händen grinsend ein Herz und nickte augenverdrehend in Richtung der beiden älteren Schüler. Lily machte ungläubig große Augen und sagte lautlos: Waaaas?!
„Er gibt es nicht zu, und vor Adams hab ich zu großen Respekt, um nachzuhaken", flüsterte Alice. „Aber wenn ihr mich fragt..."
Jason wackelte ergänzend mit den Augenbrauen, was Lily zum Lachen brachte.
Eigentlich hatte sie alles. Warum also wollte sie sich das alles selbst kaputtmachen? Die einzige wirklich darauf zutreffende Antwort war simpel: aus Spaß. Es langweilte sie. Alles war doch irgendwie auf ermüdende Art und Weise festgelegt: Sie war nach Hogwarts gekommen, würde vielleicht einen Freund haben, abgehen, eine Lehre in Hogsmeade oder London oder ein Studium auf einer magischen Akademie absolvieren, sich einen Beruf suchen, heiraten, Kinder kriegen, diese großziehen, alt werden, sterben. Sie hatte nicht vor, diese allseits bewährte Vorlage zu befolgen. Nein, sie würde diesen Weg so bald wie möglich abbrechen. Aber dazu mussten erstmal gewisse Grundlagen her. Als magisch durchschnittliche, ein wenig duellbegabtere elfjährige Hexe, die erst fast ein halbes Jahr eine Zauberschule besuchte, hätte sie keine Chance. Es war ja noch nicht einmal so, dass sie die Weltherrschaft anstrebte; sie wollte einfach nur Respekt und gefürchtet werden, beides etwas, was ihr zuhause nicht entgegengebracht wurde. Dort war sie nur das Nesthäkchen, das beschützt werden musste. Dabei wäre das überhaupt nicht nötig, wenn es nach Lily ginge jedenfalls. Sie war sich bewusst, dass ihre seit Halloween eingeschränkten Fähigkeiten alles andere als ein Vorteil waren, doch sie sah gerne über diesen Fakt hinweg.
~*~
Lily saß neben Albus auf der Tribüne des Quiddichfelds und sah James beim Trainieren zu. Er war gut, das musste Lily trotz des Grolls, den sie gegen ihren großen Bruder hegte, zugeben. Trotz des scharfen Windes hielt er sich spielend leicht auf dem Besen, als sei es das Normalste der Welt.
Da heute ein eher kühler Frühlingstag war, trugen die Potter-Geschwister Jacken, hatten aber die Mützen, Handschuhe und Schals im Schloss gelassen.
Albus applaudierte, als James den Klatscher traf und außer Gefahrenreichweite katapultierte – er war nämlich Treiber – während Lily sich zurücklehnte und James abschätzig beobachtete.
„Das war pures Glück", sagte sie, ohne durch ihren Ton preiszugeben, ob das ihre wirkliche Meinung war. War es nicht, aber es wurmte sie, dass er eine solche Begabung hatte. Was konnte sie denn bitte? Nichts. Nichts mehr.
Al wandte sich verärgert seiner kleinen Schwester zu. „Lils, das kann doch nicht sein, dass du und James euch immer noch nicht vertragen habt!" Hatte er zu Beginn noch Verständnis für die Standpunkte der beiden gezeigt, so war es jetzt damit vorbei. Vermutlich hatte er gehofft, sie würden den Streit ein paar Tagen oder Wochen beilegen. Offensichtlich hatte er nicht mit der Sturheit der beiden gerechnet.
„Um das mal klarzustellen, er hat mit dem Mist angefangen!", motzte Lily und setzte gehässig hinterher: „Und sagst du Möchtegern-Streitschlichter etwas zu dem Angeber da oben? Nein, weil du parteiisch bist!"
„Und du nicht, hm?", antwortete Albus wütend.
Lily verzog den Mund spöttisch. „Du hast da etwas verpasst. Ich bin die eine Partei!" Mit diesen Worten stand sie auf und wollte gehen. Jedenfalls bis ihr einfiel, dass sie das Gespräch nicht zu enden lassen konnte, außer sie legte es darauf an, das Augenmerk des gesamten Potter-Granger-Weasley-Clans auf sich zu ziehen, und das tat sie nicht. Also sagte sie noch, wieder die Maske der lieben, süßen Lily aufsetzend: „Al, versteh doch. Wofür soll ich mich entschuldigen? Dafür, dass ich eine Slytherin geworden bin? Gib es zu, der Hut hätte dich auch fast dahin gesteckt." Mit Genugtuung sah sie, wie ihr Bruder erstarrte, und fuhr gefasster fort. „Solange er sich nicht entschuldigt, werde ich meine Einstellung nicht ändern, okay?" Sie beugte sich zu ihm herab und umarmte ihn, ehe sie mit neutraler Miene die Tribüne verließ. Kaum dass sie sich umgedreht hatte, erschien ein fieses Grinsen auf ihren Lippen.
Ja, sie war gut darin, Menschen um den Finger zu wickeln. Als Slytherin nichts allzu Ungewöhnliches, denn alle Schlangen besaßen ein kriminelles Talent, ein gefährliches Gift. Und Lilys wirkte langsam und unbemerkt.
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