10 - Bibliotheksbesuch
Lily streichelte vorsichtig durch das weiche Gefieder ihrer Eule. Heute hatte sie sich endlich einen Ruck gegeben und war den weiten Weg von den Kerkern am Gryffindorturm vorbei hinauf zur Eulerei gegangen. Allein schon dafür hatte sie eine halbe Stunde gebraucht, denn die Treppen hatten sich mal wieder zu einem Akt purer Sturheit entschieden und sie im Zickzack durch Hogwarts gelotst.
So war die kleine Potter jetzt ziemlich außer Atem, hatte aber immerhin an die Eulenkekse gedacht, die ihr jedoch heruntergefallen waren und nun bröseliges Trockenfutter abgaben, was ihre Eule kein bisschen störte. Eifrig pickte das Tier in dem Pappkarton herum.
„Okay, wie soll ich dich nennen?", grübelte Lily. „Du bist eine Schleiereule. Was würde dazu passen? Nebel oder Schleier käme infrage... Haze?"
Diese schuhute zustimmend.
Erst jetzt registrierte das Mädchen, dass immer mehr Eulen zu der Schachtel kamen und davon naschten. Bald schon gab es das erste Gerangel: Ein kleiner Waldkauz geriet mit einem größeren Exemplar seiner Spezies aneinander. Wie verrückt hackten sie mit den scharfen Schnäbeln aufeinander ein und versetzten ihre Mitbewohner in der Eulerei in Aufregung. Als eine Kreischeule ihr Konzert begann, suchte Lily, sich durch das Geflattere um sie herum kämpfend, das Weite.
~*~
Der Gemeinschaftsraum war für Lilys Geschmack zu voll. Auch wenn sie den grünlichen Schein des Sees und der verzauberten Kaminfeuer liebte und es sich gerne in der Sitzgruppe mit den dunklen Sofas bequem machte, war ihr die Bibliothek zum Erledigen der Hausaufgaben lieber. So sahen das auch Alice und Jason, deshalb packten sie ihre Sachen zusammen und statteten Madam Pince einen Besuch ab.
Sie wurden unter der Bedingung leise zu sein eingelassen und gingen zu drei zusammengestellten Schreibtischen in der hintersten Ecke, wo sie auch gleich ihre Sachen ausbreiteten.
Lily fand es großartig, von allen Seiten von Büchern umringt zu sein, und fühlte sich sofort wohl. Begeistert ließ sie die Finger über die Buchrücken gleiten und nahm ein in Leder gebundenes Nachschlagewerk heraus, dessen Inhaltsverzeichnis auch gleich von ihr inspiziert wurde.
„Lily, Hausaufgaben!", seufzte Alice, nahm ihr trotz Protest das Buch ab und wollte es zurückstellen, aber Lily legte es auf den Tisch und ihre Hand obendrauf.
„Das leihe ich später aus."
„Wie du willst", gab Alice augenverdrehend nach und setzte sich. „Fangen wir alle mit demselben Fach an? Dann können wir uns gegenseitig helfen."
Jason nickte. „Okay, warum nicht?" Er öffnete seine Schultasche, hielt aber inne. „Welches überhaupt?"
„Zauberkunst?", schlug Lily vor und erhielt Zustimmung. Beim Aufrollen einer Pergamentrolle murmelte sie vor sich hin: „Dass wir wegen mir jetzt theoretischen Kram machen, ist zwar nett, aber auch mega peinlich und echt langweilig."
„Ach, es geht schon", behauptete Jason und lächelte sie unsicher an.
„Können wir jetzt endlich mal anfangen?", giftete Alice und schlug das Buch mit einem dumpfen Knall auf, sodass der Staub vom Tisch aufgewirbelt wurde.
Sie arbeiteten schweigend, nur zwischendurch stellten sie untereinander Fragen. Jason kippte einmal ein Tintenfass um, woraufhin Lily und Alice kreischend ihre Arbeit in Sicherheit brachten. Für die Lautstärke kassierten sie eine Ermahnung durch die Bibliothekarin.
Etwas später am Nachmittag hatte Lily keine Lust mehr. „Es reicht, ich kann nicht mehr." Erledigt bettete sie ihren Kopf auf ihre verschränkten Arme und machte es sich an ihrem Arbeitsplatz bequem.
„Ich bin auch müde", jammerte Jason.
Alice warf jedem von ihnen einen finsteren Blick zu. „Wie wollt ihr so eure ZAGs schaffen?"
Jason fing an zu grinsen. „Wir sind gerade mal in der Ersten und die denkt schon an die ZAGs..."
„Es ist nie zu früh, sich darüber Gedanken zu machen!", verteidigte sich Alice eingeschnappt und tauchte ihre Schreibfeder energisch in das Tintenfass.
Die beiden anderen wechselten belustigte Blicke. Lily machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, als jemand ziemlich fies meinte:
„Lil mit ihren Schlangen-Freunden. Warum kriecht ihr nicht zurück in eure Grube, dahin, wo ihr hingehört?" Es war Lilys Cousine Rose, die eine unterkühlte Miene zur Schau trug. Halb hinter ihr stand der kleine Bruder, Hugo. Er war, wie von Lily und den älteren Slytherins nicht anders erwartet, nach Hufflepuff gekommen. Welch Wunder.
Auch Jason hatte ihn entdeckt. „Bringt Granger-Weasley etwa Verstärkung mit?", erwiderte er hämisch grinsend an Alice gewandt.
Jason, ich bin stolz auf dich. Vielleicht bist du bei uns doch nicht so falsch... Auch wenn es um ihre – gerade nicht so nette – Cousine ging, rechnete ihm Lily die Aussage als Pluspunkt an. Sein für Slytherins untypisch freundliches Benehmen hatte bereits begonnen, ihr auf die Nerven zu gehen.
Alice lachte gemein auf: „Und dafür nimmt sie eine Flasche?"
Rose legte tröstend einen Arm um Hugo und schoss mit wütenden Blicken um sich, der Junge war schon wieder fast am weinen. Mann, der war vielleicht zart besaitet.
Jetzt war das Maß an Häuserhass Lilys Meinung nach voll und so schritt sie ein. „Es reicht. Im Ernst, Alice, kann Hugo was dafür, dass er ein Hufflepuff geworden ist?" Zwar passte Hugo wirklich am besten dorthin, aber das war kein Grund ihn so runterzumachen. Erst recht nicht, da es nur seine große Schwester und nicht er selbst es gewesen war, der die Slytherins verbal angegriffen hatte. Lily konnte es einerseits nicht leiden, wenn jemand durch und durch nett und perfekt war, andererseits stieß pure Fiesheit bei ihr ebenfalls auf Ablehnung.
Alice ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen; dabei konnte sich Lily nicht daran erinnern, dass sie aufgestanden war. Missbilligend pustete sie eine leicht verfilzte braune Haarsträhne in die Luft und schaute doppelt so miesepetrig drein, als sie bemerkte, dass Jason derweil heimlich seine Sachen zusammengepackt hatte. „Ich werdet die ZAGs allesamt nicht schaffen, ich sag's euch!", prophezeite sie auf Schwarzseher-Tour.
„Tschüss, Rose", sagte Lily mit der unmissverständlichen Anweisung im Ton, dass die Unerwünschte sich verdrücken möge.
Diese warf Lily einen arroganten Blick zu, wirbelte herum und rauschte davon, die Idee, etwas auszuleihen oder zu lernen – falls das denn der Sinn dieses Bibliotheksbesuchs gewesen sein sollte – schien Geschichte zu sein. Hugo trottete wie ein begossener Pudel hinterher.
„Hugo?", sagte Lily vorsichtig.
Er drehte sich um.
„Es tut mir leid, dass du beleidigt worden bist. Normalerweise sind sie nicht so. Weißt du, in Slytherin ist es gar nicht so schlimm. Ich verstehe mich gut mit den anderen und der Gemeinschaftsraum ist sehr schön-"
„Lass es", sagte er traurig. „Du bist jetzt eine von denen." Kurz drückte er ihre Hand und ging.
Lily stand nur da und wusste nicht, was sie fühlen sollte. Hugo und sie waren immer ganz gut befreundet gewesen, so wie mit Rose. Allerdings schienen beide Freundschaften heute zu Bruch gegangen zu sein. Oder vielleicht bereits, als Lily der Sprechende Hut aufgesetzt worden war.
Wie betäubt setzte sie sich wieder an ihren Schreibtisch zu Alice und Jason. „Lasst bitte meine Familie in Ruhe."
Alice verdrehte die Augen. „Hast du eine Ahnung, wie groß die ist?"
„Ich wusste noch nicht mal, dass du mit den Granger-Weasleys verwandt bist...", gab Jason zum Besten und bekam von Alice einen dicken Wälzer mit Stammbäumen vor die Nase geknallt.
~*~
Ein Schneesturm tobte draußen, doch das störte Lily nicht wirklich. Für heute Abend hatte sie sich in der Eulerei einquartiert, wo sie das letztens ausgeliehene Buch nahezu komplett durchlas. Es war ein Lexikon für weißmagische, vom Ministerium genehmigte Zauber und Flüche. Jetzt wo ihre Magie wieder ‚gesünder' war, wollte sie die Möglichkeiten nutzen. Außerdem hatte sie Schulstoff nachzuholen. In Verwandlung zum Beispiel hatte sie sich immer noch nicht wirklich verbessert, daher schlug sie das Kapitel mit den gängigsten Zaubern für Transformation auf und las sich einen Abschnitt durch.
„Irgendwelche Freiwillige?", fragte sie und sah in die Runde. Die Eulen gerieten in Panik. Lily seufzte. „War klar. Ich würde auch nicht gerne in eine Kaffeetasse mit Federn verwandelt werden..." Da entdeckte sie etwas: „Spinne! Warte mal!" Auf Knien und mit dem Zauberstab in der Hand robbte sie zu dem Tierchen, tippte es mit der Zauberstabspitze an und sprach den dort beschriebenen Spruch.
Erstaunlicherweise wurde es tatsächlich zu einer Kaffeetasse, allerdings zu einer ziemlich klobige mit dem Muster der Beine der Spinne außenherum.
„Also, daraus trinke ich nicht."
~*~
Beim Frühstück las Lily die letzten drei Kapitel und übte zum Verdruss der anderen Schüler mit dem Essen.
Auf einmal stand Slughorn hinter ihr und rief erfreut: „Miss Potter! Ihnen scheint es ja schon wieder besser zu gehen!"
Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, dachte sich aber: So langsam sollte es mir auch mal besser gehen, schließlich haben wir ins zwei Wochen schon Advent. Obwohl der Advent unter Zauberern und Hexen nicht üblich war, war es in ihrer Familie Tradition. Harry hatte seinen Kindern vor ein paar Jahren Muggelkultur näherbringen wollen, das hatte regen Anklang gefunden und so war der Adventskranz auch die nächsten Jahre geblieben. Auch wenn Lily und ihre Geschwister hier in Hogwarts herzlich wenig davon mitbekamen.
Apropos Geschwister: Albus kam gerade zum Slytherintisch herüber und wedelte mit etwas in der rechten Hand herum. „Lil, der Tagesprophet berichtet heute etwas über Mums Zeit bei den Holyhead Harpies!"
„Zeig!", rief Lily aufgeregt und riss ihm die Zeitung fast aus der Hand. „‚Ginevra Potter erzählt', cool!"
Als sie zusammen fertiggelesen hatten, wollte Helena neugierig von der Seite wissen: „Was hat denn euer Bruder dazu gesagt? Ihm gehört doch das Abo, oder?"
Al grinste. „Er hat mir verboten, es Lily zu zeigen."
„Sonst...?", wollte Alice widerwillig wissen. Offensichtlich hegte sie eine kleine Abneigung gegenüber Gryffindors, und dass Albus einer war, stieß ihr daher sauer auf.
„Sonst isst er mein Frühstück. Darum habe ich erst aufgegessen und nehme mir morgen direkt vorm Unterricht etwas aus der Küche mit", grinste Lilys Bruder. „Oh, hi, Scorpius."
Der blonde Slytherin nickte ihm schelmisch zu und wandte sich dann wieder seinem Essen zu.
Lily hatte den Blickaustausch irritiert beobachtet. Dann machte es klick bei ihr. Scorpius hatte zu Anfang des Schuljahres im Zug zu ihr gesagt: ‚Als Schwester und Granger-Weasley! Was beschert uns die Ehre?' Al – nicht Potter. Er hatte es recht arrogant gesagt, vermutlich, um zu vertuschen, dass ihm Albus' Spitzname herausgerutscht war. Fazit: Die beiden waren befreundet, wollten nur nicht, dass das jeder wusste, da sie sonst von ihrem eigenen Haus ausgeschlossen werden könnten. Natürlich würden sie das nicht ewig durchziehen können, aber von Lily würde niemand etwas erfahren.
~*~
Schüchtern grüßte Lily die Bibliothekarin, welche sich wieder dem Sortieren von Namenskärtchen zuwandte. „Ich bringe das Buch zurück", ergänzte Lily, woraufhin sich Madam Pince einen Vermerk auf der Namenskarte des Mädchens machte. Die Potter hatte sich die wichtigsten und interessantesten Zauber herausgeschrieben, daher war das Buch nun zur Rückgabe bereit.
Die Bibliothek war an diesem Tag wie leergefegt, wie Lily feststellte, als sie durch die Regalreihen zu den drei zusammengestellten Schreibtischen schlenderte. Wo genau hatte das Buch noch gleich gestanden? Da entdeckte sie auch schon die dunkle Lücke in der Bücherreihe. Ein dünneres Buch war zur Seite gekippt und blockierte nun den Platz des Nachschlagwerks.
Als Lily es zurückstellen wollte, erhaschte sie einen Blick auf die Abteilung dahinter. Sie war finsterer und die Bücher älter, jedoch weniger abgegriffen. Das musste die Verbotene Abteilung sein, was ihr auch das an einem der Regale am Eingang dazu angebrachte Schild bestätigte. Dort waren die richtig spannenden Sachen.
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