1 - Der Brief
Sommer 2018.
Lily hatte ihren Hogwartsbrief bekommen. Gerade saß sie in der ziemlich kleinen verstaubten Bibliothek auf dem Dachboden der Potters, wo außer ihr und vielleicht mal Ginny nie jemand hinkam.
Harry und ihre Brüder hatten sich nie wirklich fürs Lesen begeistern können. Der Familienvater und James liebten das Besenfliegen, während Albus gerne Modelle baute. James hatte auch eine Art Nebenjob als Scherzartikel-Dealer, im Auftrag von George natürlich, und sammelte ab und an Zutaten, wobei Lily ihm manchmal half, indem sie Doxys vom Dachboden mitbrachte.
Auf den ersten Blick war sie ein schüchternes, stilles Mädchen, das immer nett und hilfsbereit war. Wenn man Lily wirklich kannte, und das tat keiner so wirklich, konnte sich das gerade mal ins Gegenteil kehren.
Aber sie wusste, ihre Eltern würden enttäuscht sein, also spielte sie ihnen immer vor, sie wäre immer noch ‚die kleine Lils'. Um ehrlich zu sein, hatte sie keine Ahnung, ob diese jemals existiert hatte.
Immer wieder überflog Lily strahlend den Bogen Pergament in ihren Händen. Natürlich hatte sie gewusst, dass der Brief kommen würde, aber irgendwo war da trotz gewisser Fähigkeiten die Befürchtung gewesen, sie könne eine Squib sein. Magielos wie ein Muggel. Doch eigentlich war das so wahrscheinlich wie dass ein Drache lesen lernen könnte, denn sowohl Harry als auch Ginny waren sehr mächtig – aber da Harry ein Halbblut war, war Magielosigkeit nicht völlig auszuschließen.
Lily stand von ihrem Bücherstapel auf, den sie als Sitzgelegenheit genutzt hatte, und ging beinahe lautlos zur Bodenluke. Das gewöhnte man sich nun mal an, wenn der Holzboden unter einem die ganze Zeit knarzte. Ohne weiteres Federlesen stürzte sie sich in die Tiefe. Doch statt, wie man erwarten würde, hart auf dem Boden aufzuschlagen, glitt sie herunter, als hinge sie an Schnüren und würde abgeseilt. Warum sie das ohne Zauberstab und überhaupt konnte, wusste sie nicht. Sie konnte es einfach. Auf die gleiche beängstigende Weise, auf die sie James einmal eine Muggelgrippe beschert hatte, als er es gewagt hatte, sie allzu sehr zu ärgern.
„Mum! Dad!", rief Lily und mit einem Fingerschnipsen schloss sich die Deckenluke über ihr. Staub rieselte herunter, welchen sie sich genervt aus dem blassroten Haar schüttelte. Über die Jahre schien es immer kräftiger zu werden. Sie hoffte, dass es kein schreiendes karottenrot werden würde, vermutlich eine vergebliche Hoffnung.
„Ja, Schatz?", fragte Ginny und kam aus dem Wohnzimmer. Als sie den Brief in Lilys Händen entdeckte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. „Du hast den Hogwartsbrief bekommen? HARRY! Lil, lass mal sehen. Ah, hier sind ja die Listen... Was brauchst du denn alles?" Sie las sich alles gründlich durch und murmelte gelegentlich etwas, dann hielt sie inne und starrte das Pergament an, als könnte es ihr Antworten darauf geben, warum irgendetwas Bestimmtes darauf stand. Jedes Jahr hatte sie etwas an der Bücherliste auszusetzen, das war beinahe zur Tradition geworden.
Harry kam derweil völlig verdreckt und in voller Quiddichmontur samt Besen und seinen beiden Söhnen durch die Haustür herein. „Was ist denn, Ginny?"
Diese betrachtete missbilligend die breite Dreckspur, die sie hinterlassen hatten. „Man könnte meinen, ihr wärt gerade mal fünf Jahre alt. Ratzeputz!" Der Flur war nun so sauer wie eh und je. „Lils hat ihren Hogwartsbrief bekommen!"
Kaum hatte sie fertig gesprochen, hatte James ihr auch schon den Brief entrissen und hielt ihn knapp außer jedermanns Reichweite.
Lily schrie: „Gib das zurück!", und sprang verzweifelt in die Höhe, bekam ihn aber nicht zu fassen.
Harry seufzte, schnappte seinem ältesten Sohn das Pergament weg und gab es Lily, die ihn dankbar anlächelte. „James, manchmal bist du echt wie dein Großvater in jungen Jahren! Und damit meine ich nicht Arthur!"
James berührte diese Anschuldigung nicht im Geringsten, denn er grinste frech und eine Spur zu stolz dafür, dass er soeben getadelt worden war.
Lilys Vater wurde von Ginny die Material- und Bücherliste unter die Nase gehalten: „Sieh dir das an, Harry! Das Thema in Geschichte der Zauberei ist ‚Todesser und ihre Methoden'! Sag mal spinnen die, oder so? Soll das Erste, was Muggelstämmige von der Zaubererwelt hören, wirklich Gewalt sein? Da wäre mir ja lieber, wenn die Kinder deine von Rita Kimmkorn geschriebene Biografie lesen würden! Hat Hogwarts eigentlich einen neuen Geschichte-der-Zauberei-Lehrer? Binns würde doch glatt den Stoff von vor zweihundert Jahren durchnehmen, den er selbst auch in der Schule lernen musste!"
Harry nahm beruhigend ihre Hand. „McGonagall weiß doch sicher, was sie den Schülern zumutet."
Für Ginny war schon das Wort ‚Todesser' ein rotes Tuch. Für Harry zwar auch, aber er wollte seine Kinder nicht so vehement davon fernhalten. Er wollte, dass sie erfuhren, wie grausam es damals sein konnte, um ihnen klarzumachen, wie gut sie es heutzutage hatten. Ginny dagegen hatte Angst vor Nachahmung, was vor allem bei Lily nicht ganz unbegründet war, obwohl sie sich nicht mehr erinnern konnte, warum ausgerechnet diese das größte Gefahrenpotential haben sollte. Nach dieser einen Frage nach Schwarzer Magie im letzten Jahr war keine mehr gekommen, denn Lily hatte die Bibliothek, die auch uralte vererbte Bücher beinhaltete, entdeckt, und so hatte Ginny sich nichts mehr weiter dabei gedacht und es schließlich vergessen.
Ginny nickte schließlich. „Was haltet ihr davon, wenn wir nach dem Mittagessen in die Winkelgasse fahren?"
Ja, fahren. Sie lebten nämlich in einer Muggelgegend und hatten sich ein Auto gekauft. Quiddich durfte im Garten wegen der Nachbarn nur unter einer Illusion gespielt werden – und mit einem Schutzzauber für diverse Fensterscheiben.
James sah entsetzt drein: „Aber Mum! Al und ich haben noch gar nicht unsere Lis-"
Tock. Tock.
„Oh, das dürften sie sein."
Seine Mutter schaute ihn vorwurfsvoll an. „Ihr habt schon wieder die Fenster zugemacht, obwohl ihr sie für die Eulen offen lassen solltet." Das war keine Frage mehr, sondern eine Feststellung.
„Ja, sagte Albus leise. „Es war zu kalt."
„Quatsch! Ihr wart eben draußen und da war euch nicht kalt! Außerdem ist es Sommer!", rief Ginny genervt. „Irgendwann haben die Eulen uns noch Löcher in die Fensterscheiben gepickt!"
Lily verdrückte sich grinsend. „Ich geh dann mal den Tisch decken."
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