ii. oh mio, mein mio
»Er sollte hier sein«, sage ich und sehe erst meine Mum, dann meinen Dad an.
»Er versteht das alles nicht«, weicht mein Dad aus. Genauso wie mein Blick. Er ist alt geworden. Innerhalb weniger Wochen ist sein Gesicht eingefallen. Vorher hatte er schon ein markantes Gesicht, das ich von ihm geerbt habe. Doch sah es damals schön aus, ist es jetzt nur noch krank.
»Er versteht mehr, als ihr glaubt!«, verteidige ich Mio.
In dieser Situation sollte keine Familie sein und doch müssen Hunderttausende jetzt dasselbe Gespräch führen - oder ein ähnliches. Wir sind eine Familie, also sollte auch die gesamte Familie entscheiden.
Die letzten Wochen sind brutaler geworden. Die Supermärkte jetzt vollkommen geplündert. Immer mehr Menschen haben die kleine Vorstadt verlassen, die leeren Häuser dienen jetzt ebenfalls der Plünderung. Auch das Misstrauen ist größer geworden - jeder will überleben und anstatt zusammenzuhalten, schlachten die Menschen sich gegenseitig ab.
»Lucinda, es reicht!«, mahnt mich meine Mutter.
Auch sie hat sich so verändert, seitdem die Apokalypse ausgebrochen ist. Fairerweise hat sich jeder verändert, jeder geht anders mit den Geschehnissen um. Nur eine Sache, haben wir alle gemeinsam - das Gefühl, alleingelassen worden zu sein.
Wo ist die Regierung jetzt?
»Er hat zugesehen, wie sein bester Freund von seiner eigenen Mutter zerfleischt wurde! Wie er zu so einem wurde und ihr denkt wirklich, er wäre zu jung, um eine Entscheidung zu treffen, die unser Leben - sein Leben betrifft?« Die Wut trifft mich mit einem Schlag. Die vergangenen Wochen nagen auch an mir. Ich will doch nur, dass dieser Albtraum endlich endet. Aber mit jedem weiteren Tag schwindet die Hoffnung mehr.
»Lucinda, es reicht jetzt wirklich. Es ist eine Tragödie, die er mit ansehen musste, aber das ist jetzt unser Leben. Wir lieben euch beide, denkst du wirklich, wir wünschen uns so ein Leben für euch?«
Ich verstumme. Sehe meinen Dad an, der beinahe mit seiner Faust auf den Tisch geschlagen hat. Es ist nicht oft, dass er so die Beherrschung verliert.
»Ich... Es tut mir leid.« Erst jetzt wird mir klar, wie dumm ich doch geklungen habe.
»Schatz, ich weiß, es ist für uns alle nicht einfach, aber wir sollten nicht vergessen, dass wir uns noch haben. Und das ist das Wichtigste«, beruhigend legt meine Mum ihre Hand auf meine. Sanft streicht sie über meinen Handrücken.
»Familie ist alles«, sagt mein Dad.
»Familie ist alles«, wiederholen Mum und ich zur gleichen Zeit den Spruch, den wir schon hunderte Male zusammen gesagt haben.
»Wir müssen es realistisch sehen«, fängt mein Dad dann wieder an. »Ich habe mit den Hendersons gesprochen. Sie werden Ende der Woche die Stadt verlassen und wir sollten es ihnen nachmachen - die Beißer sind schon hier angekommen und die Vorräte werden knapper. Sie haben außerdem von einem Stützpunkt weiter nördlich gehört.«
»Einen Stützpunkt?«, frage ich misstrauisch nach.
Ich habe auch schon viele Geschichten von vermeintlichen Stützpunkten gehört, die scheinbar Beißer-sicher sein sollen. Einige sagen, es stimmt, dass das Militär es nicht geschafft hat, die Städte zu retten, es aber Knotenpunkte gibt, die ein sicheres Leben ermöglichen. Andere wiederum haben behauptet, dass es diese Stützpunkte zwar gab, doch dass diese nicht lange bestehen haben. Je mehr Menschen auf engem Raum aufeinander hocken, desto höher ist die Gefahr. Weswegen die Gruppen, die zusammenbleiben, immer kleiner werden.
»Wir haben darüber schon gesprochen. Fakt ist, wir müssen von hier verschwinden, natürlich wissen wir nicht, was in den Wäldern lauert-«
»Oh«, unterbreche ich meinen Dad. »Ich habe Geschichten aus den Wäldern gehört. Wie die Menschen zusammengetrieben wurden, wie Schweine und sie sich gegenseitig in den Kopf geschossen haben, um nur nicht so zu werden.«
Mein Dad schweigt eine Sekunde, dafür antwortet meine Mum: »Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder bleiben wir hier, wo wir uns verstecken, wie die Ratten und irgendwann verhungern. Oder wir versuchen es, schlagen uns in den Norden durch. Vielleicht gibt es diesen Stützpunkt nicht, vielleicht sterben wir aber auch schon, bevor wir ihn erreichen.«
Was für rosige Aussichten.
»Also müssen wir uns zwischen tot und tot entscheiden?«, fasse ich zusammen.
Niedergeschlagen seufzt mein Vater und senkt seinen Kopf. Er sieht Jahre älter aus. Der Stress, die Angst macht sich bei uns allen bemerkbar.
Vor zwei Monaten war meine größte Angst, nicht bei meinem Traumstudium angenommen zu werden. Ausziehen zu müssen, neue Freunde zu finden. Nun habe ich keine mehr – entweder sind sie tot oder geflohen und dann gestorben. Oder sie leben, aber mein Optimismus ist an dem Tag gestorben, als ich den ersten Beißer im echten Leben gesehen habe.
»Ich fürchte ja.«
Ich seufze langgezogen. Ich bin keine Fliege, die immer wieder gegen die Scheibe fliegt und sich wundert, warum sie nicht durchkommt. Ich will nicht warten, bis ich sterbe. Ich will die Hoffnung durch meine Adern fließen spüren, so lange, bis mein letzter Atemzug über die Lippen kommt.
»Ich bin für den Stützpunkt«, spricht mein Dad als erstes, sieht dann meine Mum an, die nach einer kurzen Sekunde des Zögerns nickt. Dann blicken beide mich an.
Es ist entschieden, dennoch warten sie auf meine Stimme.
»Wir sollten die Stadt verlassen«, antworte ich dann leise. Nicht wissend, ob das wirklich die richtige Entscheidung ist.
☼
Gedankenverloren streiche ich durch die lockigen Haare von Mio. Gemeinsam liegen wir auf meinem Bett und starren auf den schwarzen Bildschirms meines Fernsehers.
»Ich vermisse es, mit dir Modern Family zu schauen«, murmelt Mio leise.
Ich fange an zu lächeln. Uns trennen etliche Jahre und dennoch könnte ich es mir anders nicht vorstellen. Ich habe die Tage geliebt, an denen ich Mio vom Kindergarten abgeholt habe, bevor wir uns mit Keksen und einem Glas Milch auf mein Zimmer verkrochen haben und einfach eine Serie nach der anderen geschaut haben. Ganz oben dabei ist Modern Family, meine Lieblingsserie, bei der ich nie das Ende erfahren werde.
Wie es den ganzen Promis geht? Denen, die nicht zur normalen Bevölkerung gehören?
»Ich vermisse es auch«, erwidere ich und inhaliere seinen Duft. Ich kann nicht sagen, was es ist, wahrscheinlich die Verbunden- und Vertrautheit, die zwischen uns herrscht und die mich so beruhigt.
»Lucy?«, fragt Mio leise, nachdem wir uns einige Zeit angeschwiegen haben.
Meine Gedanken waren immer noch bei dem Gespräch, das ich zuvor mit meinen Eltern hatte.
»Was ist denn?«
»Wenn wir dieses Jahr überleben...« Oh, Mio mein Mio, das hoffe ich so sehr für dich. Du hast so viel mehr als das verdient. Kein Kind sollten diese Worte über die Lippen kommen. »Dann brauchen wir 12 Weintrauben. Letztes Jahr haben wir es vergessen und dann kamen diese Menschen.«
Mio hat diesen Aberglauben von Gloria, aus Modern Family. An Silvester isst sie 12 Weintrauben, für jeden Monat im neuen Jahr eine. Es soll Glück bringen und eigentlich wollten wir das an Silvester tun - so lange, bis ich von Jayden die Einladung zu dieser super coolen Party bekommen habe und ich dafür meinen Bruder im Stich gelassen habe.
Es ist paradox, wie schnell sich die Sichtweise eines Menschen so schnell ändern kann. Erst, wenn man etwas nicht mehr hat, lernt man es schätzen.
»Ich verspreche es dir«, murmle ich und drücke ihm einen Kuss auf seine Haare.
Ich verspreche es ihm, obwohl ich nicht weiß, ob wir morgen am Leben sind. Aber ich will, dass er die Hoffnung nicht aufgibt, dass er daran glaubt, dass die Welt eine bessere werden kann.
»Mum und Dad haben vorhin mit mir gesprochen«, fange ich dann an. Er ist mein Bruder und egal wie jung er ist, sowas kann ich ihm nicht verschweigen.
»Wir verlassen unsere Heimat.«
Er dreht sich um, sodass wir uns direkt in die Augen sehen. Verwundert mustert er mich.
»Wir verlassen unsere Heimat?«, fragt er, als hätte er mich beim ersten Mal nicht verstanden.
Mio ist hier aufgewachsen und nicht einmal um Urlaub zu machen, haben wir diese Stadt verlassen.
»Wir müssen, Mio«, sage ich sanft, strecke meine Hand aus und streiche ihm eine verirrte Strähne seines widerspenstigen Haares hinter sein Ohr. Zumindest versuche ich es, denn nach ein paar Sekunden springt es wieder zurück.
»Wir können hier nicht mehr bleiben. Wir sind hier nicht sicher.«
»Sind wir es draußen?«, fragt er. Genau wie ich, ist er mit einem Mal älter geworden. Seine großen, kugelrunden Augen sehen mich aufmerksam an, als er mir diese Frage stellt.
»Nein.«
Wie könnte ich ihn bei diesem Blick auch anlügen?
Am liebsten würde ich anfangen zu heulen. Es ist nicht fair.
Er sollte draußen sein, lachend mit seinen Freunden spielen, beim lernen Fahrrad zu fahren runterfallen und sich seine Knie aufschürfen. Ich sollte dann für ihn da sein, ihm Mut geben, dass es beim nächsten Mal besser wird. Er sollte zur Schule gehen. Lesen und Schreiben lernen, sich das erste Mal verlieben - auch wenn ich diesen Moment wohl nie wirklich verkraften könnte, wenn mein kleiner Mio erwachsen wird. Aber es wäre ein Leben, was er verdient hätte. Ein normales, aber in einer Welt wie dieser, was bedeutet da noch normal?
Er nickt langsam, doch ich kann nicht einschätzen, ob er wirklich versteht, was das bedeutet.
»Noch zwei Tage, dann gehen wir los... Dann sagen wir unserem Haus Lebewohl«, murmle ich leise, eher zu mir.
Mein Blick streift durch mein Zimmer.
Es ist ein typisches Teenie-Zimmer. Die Wände wurden pink gestrichen, nachdem ich mir das mit 14 gewünscht habe. Zur Jugendweihe habe ich einen riesigen Teddy bekommen, der auf meinem Bett gegen die Wand gelehnt sitzt. Zu meinem 16. Geburtstags habe ich einen weißen Schminktisch mitsamt Spiegel bekommen, der unter meinem Dachfenster steht und zu meinem 18., der noch gar nicht so lange her ist, habe ich einen größeren Smart TV bekommen - der jetzt total unnötig ist. Anfangs gab es noch Strom, da war der Fernseher unsere einzige Chance mitzubekommen, was auf dem Rest der Welt abgeht. Zudem war es unsere einzige Flucht aus der Realität. Nachdem zuerst der Strom weg war, musste man sich ihr stellen.
»Lebewohl? Das heißt für immer?«, fragt Mio und kuschelt sich wieder in meine Arme. Es scheint so, als bräuchten wir beide die Nähe des anderen.
»Ja. Das heißt für immer.«
Ich weiß nicht, wie diese ganze Geschichte enden soll, doch sie kann kein gutes Ende nehmen, das hat die Menschheit schon oft bewiesen.
»Aber wir haben doch uns, oder nicht?«, spricht Mio weiter. »Und wenn wir uns haben, sind wir niemals einsam. Wir brauchen kein Haus, um ein Zuhause zu haben.«
Tränen sammeln sich in meinen Augen und schnell blinzle ich sie weg. Seine Worte haben mich berührt.
»Ja, Mio. Du hast Recht. Wir haben uns und das reicht für immer.« Ich vergrabe mein Gesicht in seine lockigen Haare und diesmal kann ich meine Tränen nicht mehr aufhalten.
☼
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danke (:
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