i. die neue welt
Die Welt steht still. Plötzlich und unwiderruflich sind die schlimmsten Albträume einiger Menschen wahr geworden. Eine Minute, die alles verändert hat. Eine Stunde, die die Katastrophe ins Rollen gebracht hat. Eine Woche, in der beinahe die gesamte Menschheit ausgelöscht wurde und aus ehemaligen Freunden Monster geworden sind.
Erst waren es Nachrichten, die keiner ernst genommen hat. Warum auch? Irgendwo auf der weiten Welt ist ein Virus ausgebrochen, der irgendwas mit den menschlichen Körpern anstellen soll. Na und? Warum sollte es mich interessieren.
Oh, wie naiv ich doch war.
Es gab Videos, schlimme Videos, die diese Verwandlung gezeigt haben. Diese Brutalität mit anzusehen, war grausam. Aber sie haben die Menschen nicht gewarnt. Nur einige haben den Ernst der Lage verstanden, andere, viele andere eben nicht. Es war widerlich zu sehen, wie die Haut von den Menschen gerissen wurde, als wäre es eine einfache Hähnchenhaut. Zu sehen, wie die Menschen, die man einst kannte, einst liebte, sich in diese Beißer verwandelten, war noch Gottloser.
Wo ist Gott hin? Wo ist der Glaube der Menschen, die sagten, dies sei eine Prüfung? Welcher Gott würde so eine Prüfung zu lassen?
Die Wahrheit ist, niemand weiß so wirklich, wo dieses Virus herkommt. Oder zumindest weiß es die breite Masse nicht. Medien streuen Gerüchte in die Welt, eine absurder als die andere. Glauben kann ich kaum eine, außer die der endlosen Dummheit der Menschen.
»Lucy?«
Oh, Mio, mein kleiner Mio.
»Schatz, was ist denn?«, ich breite meine Arme aus und umarme meinen kleinen Bruder. Seine braunen Augen sind matter geworden und strahlen nicht mehr diese Lebensfreude aus, die er einst besaß. Und die ich auch besaß, die mir aber auf brutale Art und Weise genommen wurde.
Mio ist mein kleiner Bruder. Er sollte in einer Welt aufwachsen, die nicht von Beißern und dem Militär beherrscht wird, das unfassbar überfordert ist.
»Mir ist langweilig«, murmelt er und drückt sich fester an mich.
Ich liebe den Geruch, den er verströmt. Er ist so unschuldig.
Ich seufze. »Ich weiß, Mio. Mir ist auch langweilig, aber Mum hat uns nach dem letzten Mal verboten, hinauszugehen.« Ich weiß, wie schwer es für meine Mum und mein Dad sein muss. Aber für Mio, der nicht versteht, was hier gerade vor sich geht, ist es ebenfalls schwer. Ich stehe zwischen den Fronten und versuche einfach, für meinen kleinen Schatz da zu sein.
»Wir können nachher aber in den Keller gehen, ich weiß, wie sehr du Tischtennis liebst«, schlage ich ihm vor.
»Aber ich will raus, auch wenn...«, er spricht den Satz nicht zu Ende, das muss er aber auch nicht. Ich kann mich noch genauestens an den Zeitpunkt erinnern, der meinen Bruder verändert hat.
»Bleib bei mir«, sage ich leise zu meinem Bruder und greife nach seiner Hand. Früher war unsere Nachbarschaft wunderschön und so friedlich. Das hat sich geändert, seitdem die ersten Beißer in der Nähe gesichtet wurden. Mutige Männer, einige Hausfrauen und junge Erwachsene sind in Gruppen durch die Nachbarschaft gegangen und versuchten, uns zu schützen. Wenn es das Militär nicht tut.
Seit den schrecklichen Nachrichten ist die komplette soziale Struktur ineinander gefallen. Früher geltende Regeln gelten nicht mehr.
Mum hat uns gewarnt, wie gefährlich es sein kann. Dass wir früher hier ohne Bedenken spielen konnten und jetzt eine Waffe bekommen haben, die schwer in meiner Tasche ruht. Ich spüre sie, ohne sie zu berühren. Die Waffe hat einen bitteren Nachgeschmack. Sie sagt mir, dass der Frieden vorbei ist und der Kampf begonnen hat. Ich war noch nie eine positive Person, aber wenn selbst die Regierung versagt, ist aller Glaube verloren.
Es gibt Stützpunkte, die den Menschen Sicherheit und Frieden versprechen; einige wagen diesen Weg, andere wollen später aufbrechen und wieder andere glauben daran, dass es morgen schon wieder vorbei ist. Meine Familie gehört zur letzteren Sorte und da ich es mit meinen 18 Jahren nicht besser weiß, füge ich mich. Familie ist alles.
Mios Händedruck wird fester, als wir an einer Gruppe von Jungen vorbeikommen.
Ich kenne sie, vor einigen Wochen sind wir noch in dieselbe Klasse gegangen, haben über dieselben dämlichen Witze unseres Lehrers gesprochen und nun kommt es mir so vor, als wären sie fremd. Jayden nicke ich kurz so. Er tut so, als würde er mich nicht kennen, dabei kann ich mich noch genau an den Geschmack seiner Lippen erinnern, aber so ist das neue Leben eben; man bleibt unter sich.
Aber nicht nur die Menschen haben sich verändert, auch die Gegend hat es. War es vor einigen Wochen noch so voller strahlender Farben, sehen die Vorgärten jetzt so aus, als hätte sie wochenlang keiner mehr gepflegt. Das, was früher wichtig war, ist jetzt nichtig.
»Lucy?«
Mio ist der einzige, der mich so nennen darf. Ich hasse diesen Namen eigentlich, doch als Mio noch jünger war, konnte er den Namen ›Lucinda‹ einfach nicht aussprechen. Also bin ich für ihn Lucy.
»Ja?«
»Guck mal, da hinten ist Taylor mit seiner Mutter!«
Ehe ich reagieren konnte, hat er sich schon losgerissen und rennt den Gehweg entlang, zum Haus, wo sein bester Freund Taylor lebt. Einen Moment verharre ich auf der Stelle, kneife meine Augen zusammen, weil mir etwas komisch vorkommt.
»Mio, warte!«, rufe ich.
Ich nehme es Mio nicht böse, dass er einfach weggerannt ist, obwohl ich es ihm ausdrücklich verboten habe. Vielleicht ist das auch meine Schwäche, dass ich ihm alles durchgehen lasse. Und vielleicht wird es irgendwann ein riesen großer Fehler sein.
»Mio!« versuche ich es erneut, renne meinen Bruder hinterher, aber er ist viel schneller als ich. Bis zu Taylor und seiner Mutter sind es ein paar hundert Meter und kurz bevor Mio die beiden erreichen kann, schaffe ich es, meinen Bruder einzuholen.
»Warte!«, ich halte ihn so fest, dass er keine Chance hat, sich aus meinen Griff zu lösen.
Und das keine Sekunde zu spät.
Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Jetzt, wo ich so nah an Taylors Mutter stehe, erkenne ich, dass das Menschliche ihrem Körper gewichen ist. Sie sieht aus wie ein Mensch. Ja, auf den ersten Blick vielleicht, aber ihre einstige Schönheit ist gewichen. Ich kann nicht sagen, wie lange sie so schon verwandelt ist, doch ihr Körper fängt an, sich aufzulösen, die einst glatte, straffe Haut löst sich.
»Nein...«, hauche ich, mit Tränen in den Augen. Würde ich Mio nicht fest an mich drücken, dann hätte ich mir die Hand vor dem Mund geschlagen. In diesem Moment fühle ich nichts.
Ich weiß nicht, ob ich mich jemals an diesen Anblick gewöhnen werde. Ich meine... Sie sehen aus wie zu ihrer Lebzeit, sind es aber nicht.
»Taylor, kleiner, komm her!«, rufe ich den besten Freund meines Bruders und bete, dass er auf uns zukommt. Er muss draußen gespielt haben, während seine Mutter drinnen war. Oder woanders, wo sie verwandelt wurde.
Taylor blickt neugierig zu mir. Er kennt mich, weiß, dass ich die große Schwester seines besten Freundes bin, aber wenn er sich entscheiden muss, dann ziehe ich den kürzeren.
»Oh, Taylor, bitte«, flehe ich leise und beiße mir auf meine Unterlippe. Taylors Mum läuft langsam den Garten entlang zu ihrem Sohn. Im selben Augenblick halte ich Mio noch fester. Ich denke nach, überlege fieberhaft, was ich tun kann, damit Taylor aus der Reichweite seiner toten Mutter schaffen kann, aber ehe ich da bin, ist er in den Fäden seiner Mutter.
Ob sie sich noch erinnern kann, dass das ihr eigenes Fleisch und Blut ist, nach dem sie gerade trachtet?
»Mio, ruf deinen Freund«, befehle ich Mio. Auch er scheint den Ernst der Lage nicht zu verstehen. Aber dem Drang meiner Stimme kommt er nach.
»Taylor, willst du nicht mitkommen?«, ruft er laut, sodass es in der Nachbarschaft entlang hallt.
Oh, Taylor, bitte. Tu mir das nicht an, bete ich innerlich.
Das Strahlen Taylors blauer Augen sehe ich bis hier. Er hat dieselben Augen seiner Mutter - nur, dass sie nicht mehr strahlen und nach dem brutalen Tod aussehen. Erst blickt er zu uns, dann zu seiner Mum. Im selben Moment wird mir mein eigener Fehler bewusst.
Taylor ist keiner, der einfach so verschwindet, ohne seiner Mutter Bescheid zu geben.
»Mum, Mum!«, ruft er aufgeregt, beachtet den Ball nicht mehr, mit dem er zuvor gespielt hat.
»Bleib hier!«, befehle ich meinen kleinen Bruder schnell. Ich kann nicht einmal mehr darauf achten, ob er dieses Mal auf mich hört. Ich vertraue einfach darauf, während ich nach vorne stürze.
Im Inneren weiß ich, dass es zu spät ist. Dass ich niemals rechtzeitig zu Taylor kommen würde, aber ich könnte es mir niemals verzeihen, es überhaupt nicht zu probieren. Die Zeit kommt mir relativ vor. So schnell und doch so langsam.
Und dann geht alles so schnell.
»Mami, Mami, darf ich mit zu Mio?« Die glockenhelle Stimme Taylors werde ich nie vergessen, auch nicht sein Grinsen, das anderen immer ein Lächeln auf die Lippen gezaubert hat.
Dieses Vertrauen, das Taylor in seine Mutter hat. Weil er es nicht besser weiß, er es nicht verstehen kann, dass diese Frau, die bisher kein Wort gesagt hat, nur gestarrt und auf ihn zu gehinkt ist, nicht mehr seine Mutter ist.
Oh, Taylor.
Es ist perfide. Es ist bestialisch und das beste Abbild davon, wie die heutige Welt läuft.
»Taylor, nein!«, schreit mein Bruder, als er endlich versteht. Doch es ist zu spät. Für Taylor war das alles nur ein Spiel - ein tödliches Spiel.
»Lucinda! Mio!«, hören wir von unten rufen. Es ist unsere Mum.
»Ich werde mit Mum reden, okay?«, sage ich. Mio sieht mich mit großen Augen an, die Traurigkeit ist nicht gewichen, aber es ist ein Funkeln in seinen Augen. Es ist nicht groß, aber ich würde alles dafür geben, dass es wieder zurückkommt.
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