Kapitel 37
Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die verdammten Griffe dieses verdammten Rollstuhls, um ihn den kleinen Hügel in Victors Garten hochschieben zu können. Aus meiner Kehle dringen seltsame, knurrende Geräusche, im Versuch Elliot nicht wieder runterrollen zu lassen.
»Was tust du? Hast du vergessen, wie deine Beine funktionieren?«, motzt der auch noch, als hätte ich ihn nicht schon den ganzen Tag rumgeschoben.
Ich verkneife mir einen Kommentar darüber, dass ich zumindest noch beide Beine hätte und überwinde endlich die fiese Erhöhung. Schnaubend falle ich neben Elliot ins Gras.
»Habs mir überlegt. Bring mich zurück ins Haus«, verlangt er arrogant von mir, nur um mich zu quälen.
Ich schenke ihm einen bösen Blick. »Dir ist bewusst, dass du noch zwei sehr gesunde Arme besitzt?«
Zungenschnalzen. »Hast du nicht gesagt, du würdest alles tun, solange ich nur überlebe – und zwar auf die dramatischste Art, die möglich war?«
Ertappt wische ich meine Schläfen entlang. »Das heißt nicht, dass du dich jetzt wie ein Baby verhalten sollst. Mir kommt es vor, als wärst du um zehn Jahre in die Vergangenheit gesprungen.«
»Bin ich ja auch. Ich kann mich nicht allein bewegen, ich kann nicht mehr allein Auto fahren, ich kann ja nicht mal mehr allein duschen!«
Ich grinse. »Adrian hilft dir doch sicherlich gern.«
Elliot hält mir seine Faust über die Armlehnen ins Gesicht. »Vielleicht komme ich nicht mehr zu dir runter, aber ich kann immer noch über deine Füße rollen!«
Über den niedlichen Drohversuch lachend, verschränke ich meine Hände unter dem Kopf. Der Himmel ist klar, keine Wolke ist in Sicht. Nun dauert es nicht mehr lange, bis der Sommer kommt, ein halbes Jahr nach den Ereignissen in Victors Ferienhaus. Lessiko hatte alles getan, um Elliot am Leben zu erhalten. Und als die Notärzte kamen, brachten sie ihn in ein Krankenhaus. Gerade rechtzeitig. Wenige Minuten hätten gefehlt und ich... hätte nie wieder über seine blöden Drohungen lachen können.
Victor hatte mir aufgetragen, mir keine Sorgen über die Polizei und die Rettungskräfte zu machen. Seine Männer im Stadtrat würden das schon klären – für eine kleine Gehaltserhöhung. Über Lessikos Schicksal entschied Victor im Nachhinein. Anstatt ihn sofort zu töten, schickte er ihn ins Ausland, um nach den besten Prothesen für Elliot zu forschen. Insgeheim hege ich keinen Hass gegen ihn und ich glaube, dass es nicht einmal Elliot tut. Sie wuchsen zusammen als Kinder auf... als Geschwister. Und wer weiß, was der Carlos-Clan getan hätte, wäre Lessiko nicht im Hintergrund gewesen.
Hektor, der sich an diesem Tag mit Lessiko im Erdgeschoss während der Explosion befand, starb aufgrund der einstürzenden Wände. Ohne mich vorher zu fragen, setzte mich Victor als seinen neuen Stellvertreter ein. Zuerst protestierte ich mit Händen und Füßen gegen diese Entscheidung, doch ich wusste Victors Vertrauen hoch zu schätzen. Dass er mir sein Lebenswerk übergeben würde – ich erkannte, dass ich nicht ablehnen durfte. Er vertraute mir alles an. Ich würde dasselbe tun.
Nachdem Nikolai und Blair starben, fielen auch die Grundfeste des Carlos-Clans auseinander. Die meisten seiner engsten Vertrauten flüchteten ins Ausland. Die wenigen, die wir in die Finger bekamen, baten um eine zweite Chance in Victors Reihen – und er gewährte sie. Seitdem schossen nicht nur Victors Aktien in die Höhe, sondern seine Investoren hatten nun endlich keinen Grund mehr, sich vor einer plötzlichen Bedrohung fürchten zu müssen.
»Kleiner Hosenscheißer.«
Ich sehe zu Elliot auf, der in die Ferne starrt.
»Tu mir nen Gefallen. Der Boss hört auf dich. Sag ihm, dass er mich wegschicken soll. Was ich auch tue, ich stehe immer irgendwo im Weg, verzögere alles und bin nichts als eine Belastung. Das...« Er deutet auf seinen Rollstuhl. »...bin nicht ich. Es wäre besser gewesen, wenn ich gleich verreckt wäre.«
Ich hocke mich hoch, sodass ich fast mit Elliot auf einer Höhe bin. »Sag mal, spinnst du? Wir haben alles gegeben, um dich zu retten und jetzt willst du dieses Leben einfach wegwerfen?«
Er schnaubt. »Was soll der Boss noch von mir wollen? Mich als Andenken behalten? Ich kann ihn nicht mehr beschützten, nicht diese Familie...«
»Du bist ein Teil dieser Familie.« Ich zucke die Schultern. »Und Familie muss nicht nützlich sein. Man liebt sie, weil sie einfach da ist.«
Elliot verzieht das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, als hätte ich ihm gerade offenbart, dass wir das Toilettenwasser zum Kochen benutzen.
»Mensch, nun hör schon auf! In einem Monat bekommst du doch eine Prothese und dann kannst du mich wieder über den ganzen Hof jagen. Wenn Victor dich nicht mehr brauchen würde, hätte er dich von selbst weggeschickt!«
Elliot verkneift sich tapfer ein Schmunzeln. »Ich warte schon darauf, dich über den Hof jagen zu können.«
»Ich auch«, stimme ich zu, mich aus dem frischen Gras erhebend. Mit flinken Handbewegungen ziehe ich Elliots Bremsen fest, dann renne ich den Hügel hinab. »Aber noch bin ich schneller!«
»Du kleiner...!«, ruft er mir noch wutentbrannt hinterher, doch ich laufe lachend ins Anwesen, in dem ich sogleich auf Adrain stoße, der einen verwunderten Blick in den Hof wirft.
»Mr Carter, was ist passiert?« Adrian kneift die Augen zusammen, als Elliot im Versuch den kleinen Hügel selbst runterzufahren hängen bleibt und umkippt. Da er sich körperlich aber wieder auf einem einwandfreien Stand befindet, sollte das nicht mal einen blauen Fleck geben.
»Ich mach dich fertig! Warte bloß!« wütet es von draußen. »Ich bringe dich um, oh ja, du kleiner Hosenscheißer!«
»Wenn Sie mich entschuldigen, Mr Carter, ich sollte ihm wohl helfen gehen«, lacht Adrian.
Bevor er allerdings den Hof betreten kann, halte ich ihn zurück: »Adrian, kann ich dich was fragen?«
Er dreht sich zu mir herum. »Natürlich, Mr Carter. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Ich schlucke schwer. Das letzte halbe Jahr hat mich diese eine Frage beschäftigt, doch ich traute mich nie sie zu stellen. Elliots Unglück sollte sich zuerst bessern, bevor ich mit meinen unwichtigen Dingen komme. Nun, da er aber wieder genug Kraft besitzt, um mich zu jagen, scheint es ein passender Moment zu sein.
»Blairs Schwangerschaft. Hast du wirklich...?«
Adrian wirft nachdenklich einen Blick über die Schulter zu Elliot, der mühsam versucht, seinen Rollstuhl aufzustellen, laut und wild vor sich hin fluchend. Dann fängt er meinen Blick ernst ein.
Abwehrend hebe ich die Hände vor die Brust. »Ich versprach hinter jeder von Victors Entscheidungen zu stehen, also...«
»Nein«, unterbricht mich Adrian. »Was ich im Ferienhaus sagte, war eine Lüge, um Blair aus der Fassung zu bringen. Der Boss verstand meine Bemühungen und spielte mit. Es gab nie einen geplanten Schwangerschaftsabbruch«, erklärt mir Adrian mit einem abweisenden Unterton, den ich nicht zuordnen kann. Es klingt fast, als wäre das nicht alles, was es zu sagen gibt. Etwas, das er mir auch lieber nicht sagen würde. Ein leiser Verdacht schleicht sich in meinen Kopf.
Als Adrian sich mit einem Nicken von mir abwenden will, halte ich ihn ein weiteres Mal auf. »Warte! Dann sei bitte ganz ehrlich zu mir... Meine Vorgänger – Victors Partner. Was ist wirklich mit ihnen geschehen?«
Dem sonst so gefassten Adrian rinnt ein Schlucken die Kehle entlang. Er senkt den Blick und schweigt für einige Momente, sodass nur noch Elliots Gewüte von draußen zu hören ist. Ohne mich anzusehen, meint Adrian: »Ich hoffe, dass ich in Ihren Augen eine Person bin, die niemals ihr Wort brechen würde.«
»Natürlich bis du das!«
»Ich schwor meinem Boss niemals über die Wahrheit seiner Partner zu sprechen. Aber Sie, Mr Carter...« Adrian beißt sich auf die Lippe, wirft einen erneuten Blick über die Schultern zu Elliot, der inzwischen den Rollstuhl aufgestellt hat und versucht sich hineinzuhieven. »Sie retteten Elliots Leben und das werde ich Ihnen niemals vergessen.« Er atmet tief durch, bevor sich seine gefestigten Augen auf mich legen. »Ich werde mein Versprechen an den Boss brechen und Ihnen sagen, was Sie wissen möchten.«
Kurz überlege ich. »Dann sag mir bitte: Sind sie alle wirklich tot? Hat Victor sie umbringen lassen?«
»Nein. Sie leben. Alle. Bis auf Blair natürlich.«
»Aber er sagte immer, dass... Wo sind sie jetzt?«
»Die meisten befinden sich momentan im Ausland. Sie waren keine guten Menschen, nicht wie Sie. Früher oder später stieg ihnen die Macht zu Kopf und sie enttäuschten unseren Boss oder verrieten ihn sogar. Er ließ einige von ihnen ins Ausland bringen und unterstützte sie noch eine Weile mit finanziellen Mitteln. Bis er Sie traf, Mr Carter, hatte ich zudem den Auftrag halbjährlich Berichte über ihren Verbleib und ihr Befinden aufzustellen. Erst, als Sie in sein Leben traten, gab er mir den Befehl, die Überwachung zu beenden.«
Meine Brust hebt sich unter einem zittrigen Atemzug. »Stimmt das wirklich?«
»Ja, Mr Carter.«
Victor ist eine gute Person, wie ich sie noch nie getroffen habe. Er tötet Menschen, er betrügt den Staat und ist ein Verbrecher in vielerlei Hinsicht. Aber sein Herz – es schlägt nur für mich. Und es gab eine Zeit in der ich an ihm zweifelte. Wie albern mir das vorkommt.
Ich lächele. »Vielen Dank für deine Ehrlichkeit.«
»Sie können mit dieser Information tun was Sie möchten, aber ich würde Sie bitten, dem Boss nichts davon zu erzählen.«
»Keine Sorge, das bleibt unser Geheimnis.« Ich halte ihm meinen kleineren Finger hin. Zuerst scheint er zu überlegen, was ich mit dieser Geste meine. Als es ihm allerdings bewusst wird, verschränkt er seinen eigenen kleinen Finger mit meinem. Dann lacht er auf.
»Fuck, du kleiner Hosenscheißer! Ich bringe dich sowas von um!« Wir werden aus unserem kurzen, vertrauten Moment gerissen, denn Elliot hat es zurück in seinen Rollstuhl geschafft und saust mit einem Affenzahn über den Gehweg zu uns.
Mein Gesicht verzieht sich unter einer überraschten Grimasse. Ich sehe noch Adrians verabschiedendes Nicken, ehe ich vor dem rasenden Rollstuhlfahrer weglaufe, der mich sonst gleich über den Haufen fahren würde.
Wie ein Pfannkuchen grinsend, laufe ich durch den Eingangsbereich, in der Hoffnung mich oberhalb der Treppen verkriechen zu können. Ein fieser Trick, den noch so einige Male auszunutzen plane. Doch Elliot und ich stoppen zeitgleich, als wir Victor entdecken, der in der Haustür lehnt. Er lässt seine Autoschlüssel mit einem schiefen Grinsen um den Zeigefinger kreisen.
Meistens bestehen Victors Ausflüge aus viel Luxus, Flügen und Champagner. Heute allerdings unternimmt er einen Abstecher mit mir in die 19te. Es ist das erste Mal seit vier Monaten, dass ich hier bin. Dementsprechend fallen mir beinahe die Augen aus dem Kopf, als wir an dem einst so leblosen Gelände voller Trümmer ankommen. Zusammen laufen wir durch die plötzlich vollen Gassen, an den beleuchteten Häusern vorbei, die mit Gerüsten umgeben sind, weil sie saniert werden. Von drinnen und draußen höre ich Musik und Stimmen, die sich vermischen. Zwischen unseren Beinen laufen spielende Kinder herum. An den Imbissständen und Kiosks stehen lange Schlangen an. Die 19te ist voller Leben – so wie in den Geschichten, die ich über dieses einst so florierende Gebiet gehört hatte.
»Was ist passiert?«, frage ich Victor, als wir bei den Lagerhallen ankommen. Zusammen mit meinen Untergebenen hatten sich die neuen Bewohner kleine Feuerstellen gewerkelt, um die sie auf gestapelten Paletten sitzen. Dort stehen Bier und leckere Sachen, die man im Sommerwetter über das Feuer halten kann. Sobald sie mich erkennen, winken sie mir aufgeregt zu, was ich benommen erwidere.
»Du bist passiert.« Victor lässt seine Hände in den Hosentaschen verschwinden. »Da es nun keinen Carlos-Clan mehr gibt, mussten die Leute irgendwohin. Und die Sicherheit können wir ihnen nun hier bieten. Dank dir und deinem Starrsinn. Wer außer dir hätte schon an dieses alte Gebiet geglaubt?«
Ich grinse stolz in mich hinein. Als mich Victor damals zum Leiter der 19ten erklärte, war es mein Ziel gewesen, einen Ort zu schaffen, der denjenigen half, die kein Geld hatten, um sich selbst zu helfen. Und jetzt... stehe ich mittendrin, in diesem wunderbaren Ort.
Auf unserem Rückweg bitte ich Victor bei einem bestimmten Haus zu halten, das mir während meiner damaligen Flucht Obdach geboten hat. Meine heimliche Vermutung bestätigt sich, als ich ein kleines Mädchen mit lila Zöpfen mit ihrer Mutter durch das Fenster sehe. Sie hatten den ganzen Schutt beseitigt und die Couch hatten sie auch ausgetauscht. Zusammen hielten sie zwei Pinsel in der Hand und kämpften darum, wer den letzten offenen Fleck streichen darf.
»Kennst du sie?«, fragt Victor und folgt mir, als ich die neu gepflasterte Straße weiterlaufe. »Wer sind sie?«
»Nur ein Mädchen und ihre Mutter.«
Die 19te ist nicht unser einziger Zielpunkt an diesem Tag. Was Victor auch so abenteuerlustig hat werden lassen – wir unternehmen eine Menge. Zuerst lädt er mich zum Essen ein, bevor wir mit dem Schiff über den Fluss fahren und anschließend einen Abstecher zum Winstor-Archer-Hotel machen, in dem ich auf Courtney treffe. Zuerst wandern ihre ehrfürchtigen Augen den großen Lassini-Boss auf und ab. Spätestens, als ich ihr ein Geschenk überreiche, ist sie jedoch mit mir im Quatschen versunken. Es ist eine Perlenkette aus dem Internet, von der sie mir tagelang vorgeschwärmt hatte. Sie tänzelt freudig herum und plappert mich mit allen möglichen Details aus ihrem neuen Liebesleben zu.
Nach den Ereignissen im Ferienhaus besuchte ich sie sofort im Krankenhaus, in das sie Kay gebracht hatte. Sie war so aufgelöst gewesen, dass sie meinen halben Besuch nur auf der Toilette verbrachte. Doch sie war stark und rappelte sich bald wieder auf. Was Kay betrifft – Von ihr hatte niemand mehr etwas gehört, ebensowenig von Nikolais privatem Safe in seinem Hauptsitz. Wahrscheinlich war sie längst im Ausland bei ihrer kranken Tante.
Auf dem Weg zu unserem letzten Ziel an diesem Tag – es ist schon neunzehn Uhr und langsam senkt sich die Sonne – verbindet mir Victor die Augen. Die Fahrt lang meckert er über mein unaufhörliches Gekicher, das nicht mal verstummt, als wir halten und er mir aus dem Wagen hilft.
»Bereit?«, fragt er hinter mir.
Wie ein kleines Kind vor Weihnachten, nicke ich heftig. »Komm schon, komm schon, ich will gucken!«
Seine großen Finger öffnen den Knoten an meinem Hinterkopf. Dann fällt die Augenbinde herab.
Das erste Mal sehe ich wo wir uns befinden. Mein begeistertes Grinsen schwindet, als ich begreife, was das für ein heruntergekommener Wohnblock vor mir ist.
»Warum hast du mich hergebracht?«
»Weil ich dachte, dass du es noch einmal sehen wolltest. Weil es hier begonnen hat.«
Langsam, fast schon ehrfürchtig, setze ich einen Fuß vor den anderen. Ich laufe durch den unebenen Eingang mit den verbogenen Fahrradständern vor dem vertrockneten Rasen. Als ich die eingeschlagene Glastür öffne, deren Schloss noch immer nicht repariert wurde, liegt noch genau derselbe ausgefranste Fußabtreter dahinter, wie vor zwei Jahren. Gefolgt von Victor überwinde ich das beschmierte Treppenhaus, bis ich vor meiner alten Wohnung stehe.
Ich strecke meine Hand aus, um über das morsche Holz zu streichen. Eisige Gänsehaut überkommt mich und ich hole einen zittrigen Atemzug.
»Wollen wir reingehen?«, schlägt Victor vor. Er kramt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, den er vor meiner Nase baumeln lässt.
»Aber das...« Ich nehme den Schlüssel an mich. »Woher hast du das? Nachdem ich damals einfach verschwunden bin, müssen sie die Verträge gekündigt und die Wohnung neu vermietet haben...«
»Bis heute hat sich kein neuer Mieter gefunden«, erklärt Victor mit einem sanften Lächeln. »Also habe ich sie für dich gekauft.«
Mein Kopf schnellt hoch. »Du bist verrückt! Ich sag es immer wieder! Du kannst nicht einfach alles kaufen!«
Meine Augen wandern ein weiteres Mal über die Tür. Einerseits erfüllt mich der Wunsch, aufzuschließen und hineinzuschauen, andererseits erfüllt mich dieser Wunsch auch mit Furcht. Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal hier war... Und es fühlt sich noch so viel länger an. Es ist, als hätte ich eine lange Reise angetreten und wäre nun ein anderer Mensch.
Ich umschließe Victors Hand, was er mit einem amüsierten Schnauben kommentiert. Dann schließe ich die Tür auf und trete mit ihm hinein.
Der Flur sieht genauso aus, wie ich ihn verlassen habe. Sogar meine ausrangierte Jacke hängt noch an der Garderobe. Als ich das Loch in ihrer Tasche bemerke, überkommt mich ein melancholisches Lachen. Was ich gerade am Körper trage ist dreifach so teuer wie meine gesamte damalige Einrichtung. Und diese Jacke hatte auf dem Flohmarkt mal fünf Dollar gekostet. Mein Leben hat sich nicht nur verändert, es ist ein gänzlich neues.
Es kommt mir wie ein Museumsbesuch vor, als ich durch meine alte Wohnung schleiche und jede Ecke erkunde. Immer wenn ich etwas entdecke, das ich schon lange vergessen hatte, springe ich auf und quieke: »Ah! Victor, schau nur!«, bevor ich meinem großen, bösen Partner die Geschichte hinter meiner Waschmaschine, der abgefallenen Tischkante oder allem möglichen Krimskrams erzähle. Mit unterhaltener Mine hört er mir zu, lässt sich von einem Raum zum nächsten schleppen und erfährt alles über meinen Teppich, natürlich alles über meine staubige Lampe und erstrecht über meinen klemmenden Kleiderschrank. Ich fühle mich wie auf einem Abenteuer. Alles hier ist so vertraut und trotzdem so viel fremder als jemals zuvor.
Nachdem wir schließlich meinen kleinen Rundgang im Schlafzimmer beenden, atme ich tief durch. »Ich kann mich noch erinnern, wie du im Traum vor meinem Bett standest«, lache ich bei der Erinnerung. »Und jetzt bist du wirklich hier. Nur ohne Wischmopp.«
Victor runzelt die Stirn. »Welcher Wischmopp?«
Aus vollem Herzen lachend falle ich aufs Bett, das laut quietscht und eine Staubwolke aufleben lässt. Ich strecke die Glieder von mir.
»Hat es dir gefallen?«
Ich nicke. »Zuerst habe ich mich etwas gefürchtet. Aber jetzt fühlt es sich wie ein fantastisches Buch an, das ich ausgelesen habe und nun zuklappe.«
Victor setzt sich neben mich, was eine zweite Staubwolke zu unseren Füßen ausbreitet. Er streicht mir die Haare aus dem Gesicht. »Ein Buch?«
»Ja, ich habe das Gefühl, dass eine Geschichte meines Lebens hier zu Ende geht.« Ich grinse schief. »Klingt das sehr melancholisch?«
»Ja«, antwortet Victor trocken, ganz mein gefühlloser Boss. »Du interpretierst zu viel in eine Wohnung.«
Ich schmiege mich an seine große Hand. »Victor?«
»Hm?«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Meine großen, runden Augen treffen auf Victors schelmisches Grinsen. Es ist das erste Mal, dass er seine Gefühle für mich aussprach. Ein wohliger Schauer wandert meinen Rücken hinab.
»Da wir mit den Zärtlichkeiten durch sind, wie wäre es, wenn wir das Bett von dem Staub befreien?« Victor kniet sich über mich und stiehlt einen Kuss von mir, den ich gern erwidere.
Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken, das Gefühl genießend völlig allein mit ihm zu sein. Egal wie sehr sich das Leben um uns herum verändern würde, es gäbe nichts, was uns trennen könnte. Denn er ist meine Welt.
Abschlusswort
Am 11.11.2020 startete „Unlimited" als eine der zwei Geschichten, die ich zu dieser Zeit schrieb. Der Prolog bekam drei Empfehlungen und einige liebe Kommentare. Damals hatte ich nicht gedacht, dass diese Geschichte einen solchen Erfolg haben wird und nun sind wir hier und haben 150 Empfehlungen geknackt.
Ich liebe das Setting. Jesse ist ein gutmütiger junger Mann, der sein Leben für Fremde geben würde, doch Victor hat nur sich selbst im Kopf. Zusammen haben sie so viel erlebt und sich ineinander verliebt, bis sie nicht mehr ohne einander konnten. – Unlimited ist ein riesiges Herzensprojekt, das jetzt vervollständigt ist. Als ich den letzten Satz schrieb, zitterten meine Hände. Über zwei Jahre haben und Jesse und Victor uns nun begleitet und jetzt ist ihre Geschichte beendet. Oh ja, ich war den Tränen sehr nahe und jetzt in dem Moment, in dem ich dieses Abschlusswort schreibe, kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Erleichterung, Stolz und auch Trauer erfüllen mich. Erleichterung, weil ich diese Arbeit zu einem für mich perfekten Ende führen konnte. Stolz, weil ich sehe, wie euch und mir diese Geschichte gefällt. Und Trauer, weil wir nun ein Buch zuschlagen, das mir furchtbar schwer ans Herz gewachsen ist.
Ich hoffe, dass ihr diese Geschichte genauso genossen habt wie ich. Dass sie euch vielleicht durch einen anstrengenden Tag bringen oder ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte, wenn alles Kopf stand. Bei mir hat es funktioniert, sodass ich eine Menge Freude während des Schreibens erfuhr.
In Zukunft werde ich mir weiterhin größte Mühe geben, tolle Geschichten auf die Beine zu stellen, um mich und euch ein wenig glücklicher zu machen.
Nach diesem Ende geht es natürlich bei Adrian und Elliots Sidestory „Unbalanced" weiter. Denn auch wenn „Unlimited" zu Ende ist, ist noch lange nicht alles erzählt worden.
Als Nächstes widme ich mich natürlich meiner neuen Hauptstory „Austeritas". Falls ihr sie noch nicht kennt, hier einmal die Kurzbeschreibung: Der 27-jährige Felix arbeitet an der Stadtgrenze des Militärstaats Austeritas, um sich mit Müh und Not über Wasser zu halten. Die herrschenden Lebensumstände sind entsetzlich, die Menschen verhungern auf der Straße oder schuften sich in der Armee oder dem Goldbergbau zu Tode. In den dunklen Stuben des Volkes schmieden viele Leute den Plan, aus dem Land zu fliehen. Eines späten Abends trifft Felix auf einen vermeintlichen Ausreißer. Anstatt ihn wie dem Protokoll nach zu erschießen, gibt er ihm Geld und bittet ihn, sein Leben nicht wegzuschmeißen. Doch das Chaos beginnt erst, als Felix erfahren muss, dass er niemandem geringeres als dem Sohn des Staatsgenerals Almosen angeboten hat...
Zuletzt möchte ich mich noch einmal bei allen bedanken, die diese Geschichte verfolgt haben. Jedes Sternchen, jeder Kommentar und jeder Aufruf haben mich enorm motiviert und diese Story vorangebracht. Lasst und auch in Zukunft weiter so machen!
Vielen Dank, dass ihr Unlimited gelesen habt.
09.06.2022, Goldkirsche
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