Kapitel 34 (3/3)
Blair winkt ihren Boss zu sich heran. Unter Victors wachsamen Blick nährt er sich seiner Liebhaberin, die ihm ins Ohr flüstert. Dann nickt er und befiehlt seinen Leuten: »Verlasst den Raum.«
Denselben Befehlt gibt auch Victor, der in der Zwischenzeit der Wendeltreppe nach unten folgt. Nikolai bietet seinem unerwünschten Gast einen Sitzplatz vor uns drei Gefangenen an, auf den sich Victor setzt. Der Carlos-Boss zieht einen Stuhl neben mich, um ihm gegenüber Platz zu nehmen. Blairs Waffe hängt an meinem Kopf, Victors zielt auf den seines Halbbruders.
Er überschlägt die Beine und lehnt sich zurück. »Haben sie dir wehgetan?«, fragt er mich mit kalter Stimme.
»Nein...«, ist meine ehrliche Antwort. Wie gerne würde ich in seine Arme laufen.
»Wie lösen wir dieses Dilemma nun?«
Victors Augen legen sich auf Nikolai. »Du könntest aufgeben.«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Ich nehme Jesse und meine Leute und ziehe mich für heute zurück. Keiner muss sterben.« Innerlich frage ich mich, ob es eine große Überwindung für Victor ist, diesen Waffenstillstand auszuhandeln. Ohne mich hätte er Nikolai getötet. Ich bin nichts als eine Hürde für ihn, sodass er selbst seinen Stolz herunterschlucken muss. Und dieser Mann ist der Stolz in Person.
»Damit du mich morgen in Überzahl besiegen kannst? Denkst du ich bin dumm?«
»Du hast es endlich verstanden?«
Nikolai mahlt mit den Zähnen. »Überschreib mir die Firmen und den Clan. Dann lasse ich dich und deinen kleinen Liebling am Leben. Du hast mein Wort.«
Victor lacht kalt. »Denkst du in der Position zu sein, um Forderungen zu stellen? Es wäre ein Fingerschnipp an Mühe, dich auszulöschen.«
Blair zieht meinen Kopf zurück, drückt mir den Pistolenlauf so fest in den Hals, dass ich husten muss. »Wie wäre es, wenn wir deinem Süßen hier eine Erinnerung ins Gesicht ritzen.« Sie setzt ihren Zeigefinger an meiner Wange an. Dann drückt sie den spitzen Nagel in meine Haut. Ich zische.
Victor springt auf. »Wag es dir noch ein Stück weiter zu gehen und ich vergesse mich.«
Ich kneife die Augen zusammen. Egal was wir tun, wir würden kein Stück vorankommen, denn Verhandlungen sind aussichtslos.
»Wusstest du, dass innere Blutungen allein selten reichen, um ein Kind zu verlieren?« Die Blicke der Anwesenden legen sich auf Adrian, der seine Finger emotionslos betrachtet. »Zum Glück kennt sich Lessiko mit Giften aus. Es war zu leicht, dich in Narkose zu versetzen und die befruchtete Eizelle zu entfernen.«
Blairs Augen weiten sich. Ihre langen Finger krallen sich in den Ledergriff der Pistole. »Was... erzählst du da...?«
»Was wohl? Du wolltest es die ganze Zeit hören. Da hast du es: Du hast dein Kind durch mich verloren. Das Schlafmittel mischte ich dir in die Suppe und das Gift für die Blutung in den Wein.«
Ich ziehe scharf die Luft ein, suche Victors Blick, der sich schlagartig erhellt. Das ist die Art von Ablenkung, die er sich erhofft hat, um einen Vorteil zu erhalten. Aber... das darf nicht wahr sein. Adrian lügt, er muss einfach. Victor hat es mir versprochen, er hat... Ich stocke, als ich mich daran erinnere, dass er meiner damaligen Frage ausgewichen ist. Meine Schultern sinken herab.
»Ist... ist es wahr, was er sagt, Victor?« Blairs Stimme zittert. Ihre Konzentration nimmt mit jeder Sekunde ab. Bald könnte sich eine Chance für uns ergeben.
»Beruhige dich, du verdammte Idiotin!«, will Nikolai seine Liebhaberin beschwichtigen.
Doch diese baut sich auf und brüllt aus voller Lunge: »Antworte mir, du Arschloch!«
Victor verschränkt die Arme vor der Brust. »Denkst du, ich hätte dieses Kind auf die Welt kommen lassen? Denkst du, es hätte länger als ein Jahr überlebt? Damals führte noch der alte Carlos den Clan. Wir waren in großer Gefahr. Du nennst mich ein gefühlskaltes Monster, doch du wolltest unüberlegt Kinder in die Welt setzen, die keine Zukunft hatten. Und du hast auch nicht mit dir reden lassen. Das Ding in deinem Bauch war lediglich eine Eizelle. Kein Lebewesen, kein–« Weiter kommt er nicht, denn Blair reißt mit tränenden Augen die Waffe auf Victor. Im letzten Moment kann er zur Seite springen, der kreischenden Kugel ausweichen, in der hinteren Wand einschlägt.
Es geschieht alles ganz schnell. Victor folgt ihrem Beispiel und zielt mit dem Lauf nicht mehr auf Nikolai, sondern seine ehemalige Geliebte. Einen Augenblick versteifen sich seine Muskeln und er zögert. Wahrscheinlich fliegen Erinnerungen durch seinen Kopf. Irgendwann in seinem Leben hat er sie vielleicht so geliebt wie mich. Doch als Blairs wutentbranntes Schreien durch das Esszimmer hallt, verengen sich seine Augen.
Er betätigt den Abzug.
Ein glatter Durchschuss führt durch Blairs Kopf, ehe sie reglos umfällt. Während Courtney sich auf ihren Schoß übergibt, breitet sich eine Lache an Blut unter Blairs Leiche aus. Mit zitternder Brust atme ich tief durch.
Seinem Werk bereitet Victor einen Schlussstrich, indem er ein letztes Mal die Waffe hebt. Diesmal zeigt sie auf den flüchtenden Nikolai, der sofort aufgesprungen und zur Tür gerannt war. Kurz bevor er den Türgriff umschließen kann, bohrt sich eine Kugel durch seinen Hinterkopf. Der Körper fällt gegen die Holztür, hinterlässt eine Blutspur, während er an dieser heruntergleitet.
Victor steckt seine Waffe zurück an den Gürtel, dann kommt er zu mir, hockt sich herunter, sodass wir auf einer Höhe sind. Er streichelt meine Wange entlang. »Es ist vorbei.«
Mein Nicken ist bedächtig.
Weil Courtney neben mir unaufhörlich röchelt und ihr letztes Essen hochwürgt, mustert Victor sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Wer ist das?«
»Eine Freundin. Mach mich erstmal los!«
»Wo sind die Schlüssel?«
»Blair hat uns gefesselt. Sie muss ihn haben.«
Victor stürzt sich auf den Knien hoch. Er will zu der toten Frau laufen, doch bei der Hälfte gerät er ins Taumeln. Mit einem Ausfallschritt kann er sich mühevoll auf den Beinen halten. Er legt sich eine Hand an den Kopf, als hätten ihn schwere Schmerzen erfasst.
»Hahahah, sie haben sich exakt verhalten, wie du es berechnet hast, unfassbar. Vielleicht bist du doch nicht so nutzlos, kleine Made!« Hektors Lachen.
Mein Kopf wirbelt zur Empore, auf der Victors ehemaliger Stellvertreter zusammen mit Lessiko steht. Sie tragen einen Schutzanzug mit passenden Gasmasken. Der junge Arzt hält eine Apparatur, die einem Nebelwerfer gleicht. Aus ihr dringen gelblich schimmernde Dampfwolken, die so schwer sind, dass ich beobachten kann, wie sie zu Boden fallen und sich unter der Luft sammeln.
Knurrend zielt Victor mit der Waffe auf die Verräter. Seine Arme schwanken, sodass der Schuss ein gutes Stück über Lessikos Kopf in die Wand fliegt.
Erschrocken weicht der Arzt hinter seinen älteren Cousin. »Ich hab ja gesagt, wir sollten warten, bis das Gas sie ausgeschaltet hat.«
Genervt zieht Hektor ihn von sich, stößt ihn gegen das Geländer. »Halt die Klappe. Nur weil du einen winzigen Erfolg erzieltest, heißt das nicht, dass du irgendwas wert bist.«
»Stimmt... tut mir leid.«
Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln, danach wird meine Brust schwer. Liegt das an dem Sauerstoffmangel? Weil Victor als einziger steht und das Gas somit als erster eingeatmet hat, schwinden seine Kräfte am schnellsten. Obwohl er ein weiteres Mal schießen will, fällt ihm die Waffe aus der Hand. Seine Knie geben nach, sodass er auf sie stürzt.
Adrian und Courtney scheinen es ebenfalls zu spüren. Ihre Augen fallen zu, sie werden stiller und stiller. Oder bin das ich? Alles summt leise, wie ein leichtes Nachtlied. Vor meinen Augen vermischen sich die Farben zu einem pastellenen Bild, das mir plötzlich jegliche Angst nimmt. Das fühlt sich alles andere als schlecht an. Ist das ein Traum? Es riecht nach feuchtem Gras, auch wenn es etwas metallisches hat.
So könnte ich ewig bleiben...
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