Kapitel 34 (1/3)
»Was nun? Victor wird nicht kommen, oder?«, frage ich, nachdem wir seit dreieinhalb Stunden in diesem Raum gefangen sind.
»Ich hoffe es nicht«, ist Adrians Antwort. »Nichts für ungut, Mr Carter, aber das Leben des Bosses steht an erster Stelle.«
Ich seufze. »Was wird mit Courtney passieren, wenn er nicht kommt?« Ihre müden Augen legen sich auf mich. Durch die Anspannung fallen ihr die Lider zu.
»Sollte ich es nicht schaffen, uns hier herauszubringen, wird sie mit uns sterben.«
Ich falle im Stuhl zurück. Wenn Victor uns hätte retten wollen, hätte er schon angekommen sein müssen. Das heißt, er wird nicht kommen. Er wird uns in den Händen seiner Feinde lassen. Es ist richtig. Das ist er einzige Weg. Warum verkrampfe ich dann meine Hände zu Fäusten? Weil ich sauer bin, dass er mich im Stich lässt? Weil ich mir wünsche, er würde sein Leben aufs Spiel setzen, um meines zu retten? Lessiko hat es vor einigen Stunden gesagt: Das hier ist kein Roman. Erst recht keine Liebesschnulze.
»Sollten wir hier sterben... dann muss ich eines wissen.« Ich nicke Adrian ernst zu, was er ebenso ernst erwidert. »Wie lange bist du schon mit Elliot zusammen?«
Die Röte schießt ihm in die Wangen. »Mr Carter... das ist ein wenig...«
Ich verdrehe die Augen. »Komm schon! Wir sterben wahrscheinlich in ein paar Stunden. Wenn wir uns jetzt nicht unsere schmutzigsten Geheimnisse verraten, wann dann?«
»Ich hab mal...«, beginnt auf einmal Courtney. »...mit meiner besten Freundin geknutscht.«
Ich blinzele ein paar Mal, bevor ich pruste. »Siehst du, Adrian? Was wir uns auch erzählen, den Raum verlässt es nicht mehr. Sie hat es verstanden.«
Ich tausche mit Courtney ein Lächeln aus. Solange wir das können, haben wir noch Hoffnung. Es mag sinnlos sein, sich in solcher Lage aufheitern zu wollen, doch es war der einzige Weg, nicht aufzugeben.
»Lasst mich überlegen...« Ich schließe die Augen und lege meinen Kopf in den Nacken. »Als ich acht war, hab ich für zwei Jahre Ballett getanzt. Wir hatten da mal einen kleinen Auftritt. Die Lehrerin sagte uns allen, dass wir nochmal auf Toilette gehen sollten, trotzdem hab ichs verschlampt und mir vor Aufregung in die Hose gemacht. Danach habe ich nie wieder den Tanzkurs besucht.«
Courtney lacht. Selbst Adrian verkneift sich ein Grinsen. Ich seufze. »Macht euch ruhig über mich lustig. Meine arme Seele hält das durch...«
»Elf... seit elf... Jahren...« Ich schaue zu Adrian, der seinen beschämten Blick von uns abwendet. »Er... ist der erste und letzte, für den ich... so empfinde. Wir haben jeden Tag... miteinander verbracht. Wir... wissen alles voneinander.«
Fast gleichzeitig horchen wir drei auf, denn Nikolai betritt den Speiseraum. Unser Wohlgefühl erstirbt auf der Stelle, als er sich vor uns aufbaut. Viel interessanter ist die Person, die hinter ihm hervortritt. Während der Carlos-Boss irgendwas von Rachegelüsten und Macht prahlt, weiten sich meine Augen, als sie auf ein unverkennbares Gesicht treffen.
Lila.
Ich reiße meinen Mund auf. Schnell legt sie sich schnell den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelt den Kopf. Zwar ballen sich meine Fäuste, dennoch höre ich auf ihre stille Bitte.
Wieso war sie hier? Mein Herz rast. Es fühlt sich an, als würde eine alte Wunde aufgerissen werden, die ich mühsam geflickt hatte. Wenn ich keine Fesseln tragen würde, hätte ich mich in die Brust gekrallt. Ich habe doch gerade mit ihr abgeschlossen. Wieso musste ich immer wieder von meiner schmerzhaften Vergangenheit eingeholt werden?
Adrian bemerkt meinen sonderbaren Ausdruck und wirft mir einen besorgten Blick zu. Wie Lila zuvor schüttele ich minimal den Kopf, weshalb er mitspielt und unserem Geiselnehmer lauscht.
»Oh, wie habe ich auf diesen Moment gewartet!« Nikolai starrt an einen unbestimmten Punkt an der Decke. »Sobald beide Clans mir gehören, bin ich der mächtigste Mann des Landes. Und Victor, der meine Mutter getötet hat, wird spüren, wie es ist, die wichtigste Person im Leben zu verlieren.« Er tritt einen Schritt vor und packt mich am Kinn. Mühsam unterdrücke ich das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu spucken. »Ein wenig musst du aber noch leben.«
Er macht kehrt und verlässt den Raum mit der Anweisung an Lila: »Gib ihnen das Trinken – nicht zu viel. Und beeil dich. Deine unfähige Mutter schafft es nicht die Nahrung der Männer zu rationieren.«
Mit dem Zuknallen der Tür heften sich meine verengten Augen an das Mädchen, das mich vor anderthalb Jahren an den Feind verkauft hatte. Ihre Haare sind deutlich kürzer, dafür ist sie um ein gutes Stück gewachsen. Aus ihren Augen ist der kindliche Glitzer erloschen. Sie wirkte nicht wie ein Kind, das gerade sieben sein sollte.
Lila kommt mit dem Tablett näher. Sie setzt das Wasserglas an meine Lippen an, doch ich drehe den Kopf weg. »Was machst du hier... Lila?«
»Sie kennen das Mädchen?« Adrian runzelt die Stirn.
»Ist sie eine Freundin?«, fragt Courtney hoffnungsvoll.
Lila lässt das Glas sinken. Dann beugt sie sich vor, um in mein Ohr zu flüstern: »Der Lassini-Clan ist hier. Sie haben das Haus umzingelt. Ich soll Ihnen ausrichten, mitzuspielen und nichts zu unternehmen.«
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