Kapitel 24 (1/2)
Als ich am Morgen des nächsten Tages aufwache, suche ich vergebens nach Lila. Im Haus, zwischen den engen Gassen, an ihrem gewohnten Malplatz... selbst im Kiosk, in dem wir ihre Schuhe gekauft haben – Sie ist spurlos verschwunden.
Wie kann man ein Kind verlieren?, rasen meine Gedanken gleichzeitig mit meinem schweren Atem. Zurück an unserer Baracke, bleibe ich erfolglos. Alles was ich fand waren streunende Katzen und Müllsäcke. Es ist bereits acht Uhr. In zwei Stunden soll Victors Ansprache beginnen. Lila ist unauffindbar.
Gegen eine nahe Ziegelwand presse ich meinen Rücken. Ich schnappe verzweifelt nach Luft. Vergebens. Schmerzhaft fest kneife ich die Augen zusammen. Ich halte den Druck nicht mehr aus. Es ist zu viel. Alles ist zu viel. Meine Brust bebt wie ein Gewitter.
Ich kann das nicht mehr... Ich will weglaufen, sie alle zurücklassen, verzweifle ich. Meine Fingernägel vergraben sich in den bröseligen Stein. Es schmerzt. Gleichzeitig hilft es meine Gedanken zu ordnen.
Ruckartig stoße ich mich von der Wand weg. Erneut suche ich die gesamte 19te ab. Erst, als allenfalls fünfzig Minuten bis Victors Ansprache verbleiben, kehre ich zu unserer Baracke zurück.
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Das kleine Mädchen steht am südlichen Fenster. Sofort laufe ich zu Lila, knie mich hin und ziehe sie in meine Arme.
»Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht! Ohne dich war ich verloren!«, jammere ich, meinen Kopf wie eine Katze an ihre Schulter schmiegend.
Mir wird ihr Schweigen bewusst, darum schiebe ich sie von mir. Ihre matten Augen legen sich auf mich. Ich streichele über das Köpfchen. »Alles gut?«
Sie schweigt. Meine Umarmung wird nicht erwidert. Lilas Arme hängen schlaff an ihren Seiten. Weil die Zeit unser schlimmster Feind ist, nehme ich ihre Hand und ziehe sie zum Ausgang der Baracke. Wir müssen zu Victor.
»Hast du mich lieb, Jesse?« Lila bleibt stehen,
Ich bin gezwungen ebenfalls anzuhalten. »Ja, schon... lass uns schnell zur Demo. Dort können wir reden.«
Lila regt sich nicht, als ich sie mit mir ziehen will. »Ich dich auch«, sagt sie freudlos lächelnd. Mich überkommt Gänsehaut. »Lass uns zum Spielplatz.«
»Wir müssen zur Demo. Schnell«, drängele ich, ziehe fest, damit mir das Mädchen widerwillig folgen muss.
Lila reißt sich los. »Ich will aber nicht. Ich will spielen.«
Ich kräusele die Lippen. »Du bist wie ausgewechselt. Hast du Schmerzen? Ist dir etwas zugestoßen?«
»Nein. Ich will zum Spielplatz.«
»Warum gerade jetzt?«
»Das darf ich nicht sagen.« Sie zuckt mit den Schultern.
Stirnrunzeln nähere ich mich dem Kind. »Wie meinst du das, Lila? Heute verwirrst du mich, dabei bin ich nervlich am Ende.«
Lila greift meine Hand mit ihren dünnen, kleinen Fingern. »Ich weiß wo Mami ist. Beim Spielplatz!«
Mein Kopf wirbelt hastig zwischen ihr und dem Weg Richtung Zentrum hin und her, etliche Male. »Woher weißt du das? Hast du sie gesehen?«
»Ja.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Da stimmt etwas nicht. Es ist eine Frage von Minuten, bis meine Chance vergeht. Zögerlich lasse ich Lilas Hand los, schreite rückwärts. Victor geht vor. Sie findet schon allein zu ihrer Mama, ich muss...-
»Bitte.« Lilas weinerliche Stimme lässt mich anhalten. Sie umklammert mein Bein. »Hilf mir, bitte. Bitte!«
Eine Hand über mein hämmerndes Herz im Stoff verkrallend, realisiere ich, dass keine Zeit übrig ist. Entscheide ich mich für Victor, verlasse ich Lila, die mich um Hilfe anfleht. Fällt meine Entscheidung auf Lila, bleibt unmöglich Zeit, Victor rechtzeitig zu erreichen, bevor die Rede beginnt.. Entweder ich lasse Lila leiden oder ich leide selbst, wie ich es jahrelang habe.
Ich weiß, dass du fertig bis, aber Lila ist deine Freundin, oder? Sie ist lieb, unschuldig und hat dir geholfen, als es dir schlecht ging. Sie ist nicht wie die anderen. Lass sie nicht allein. Das hat sie nicht verdient.
»Wir werden jemand verpassen, der mir viel bedeutet.«
»Vertraust du mir?«, piepst sie.
Vertrauen hört sich gut an. Mehr will ich gar nicht. Nur jemanden, dem ich vertrauen kann – weil die bittere Last in meinem Nacken zu schwer wird, um sie selbst zu tragen.
Ich nehme Lilas Hand. »Schnell. Geh vor. Ich bringe dich zu deiner Mami, anschließend treffe ich Victor. Wir... schaffen das.«
Gefrorener Kies knarzt unter meinen Füßen. Schluckend laufe ich mit Lila über den ausgestorbenen Spielplatz. Es riecht nach abgestandenem Regen und Gullywasser. Die Schaukel kreischt im letzten Herbstwind, der sie anschuppst. In der zerfurchten Rutsche schläft ein verschimmelter Plüschhase. Auf diesem Spielplatz hat schon lange kein Kinderlachen mehr gehallt. Wir sind eine Viertelstunde hierhergelaufen. Diese Gegend gehört nicht mehr zur 19ten, dennoch kommt sie mir ebenso traurig vor.
»Wo ist deine Mami?«
Lilas Kopf dreht sich in alle Himmelsrichtungen. Die Gänsehaut auf meinem Körper wird jede Sekunde stärker. Diese Situation fühlt sich falsch an, nur kann ich es nicht deuten.
Wir laufen ziellos herum. Außer der Mülldeponie einhundert Meter entfernt und einem Holzschuppen, gibt es hier nichts.
»Hier ist niemand.« Weil es mir wie die einzige Möglichkeit erscheint, bewege ich mich Richtung Schuppen – einzig dort kann Lilas Mama noch verbleiben.
Auf einmal dringt Schluchzen an meine Ohren. Lilas kleine Schultern beben. Sie wischt sich über die tränenden Augen. Um sie zu trösten, will ich eine Hand zu ihr ausstrecken, da ruft sie plötzlich mitten ins Nichts: »Ich habe ihn hergebracht! Ich will jetzt zu Mami! Bitte!«
Das Blut gefriert mir in den Gliedern. »...Was...?«
Unverhofft öffnet sich die klapprige Tür des Schuppens. Zuerst sehe ich den Zipfel eines dreckigen Hemdes, dann Seile... eine Frau, die nach draußen schwankt. Ihre Handgelenke gefesselt, mit einem Messer an der Kehle. Sie wird von einem fremden Mann auf die Knie gezwungen. Ihre angstverzerrten Augen treffen Lila, die zu ihr stürmt.
»Warte...!« Ich strecke die Hand nach dem Mädchen aus. Lila vergisst mich. Sie fällt der Frau – ihrer Mutter – um den Hals. Aus dem geknebelten Mund der abgemagerten Frau dringt qualvolles Wimmern.
»Lila...«, entweicht mir ohnmächtig.
Rückwärts schwankend stoße ich gegen ein Hindernis, das kein Gerät vom Spielplatz sein kann. Erschrocken nach vorne zu flüchten ist zwecklos. Mir wird eine Hand auf den Mund geschlagen und mein rechtes Handgelenk hinter dem Rücken verdreht. Stöhnend reiße ich an dem schweißigen Arm, der mich am Schreien hindert. Ich ringe chaotisch gegen den eisernen Griff, trete um mich, fuchtele mit den Ellenbogen.
Gerade, als ich einen Blick ins Gesicht des fremden Mannes werfen kann, tritt ein weiterer um mich herum. Aus einer Lederscheide in seinem Rucksack zückt er ein Messer, mit dem er meinen Ärmel aufschneidet. Der kalte Zugwind peitscht gegen meine nackte Haut.
Im Austausch des Messers holt er eine durchsichtige Schatulle hervor. Als meine Augen die glänzende Nadel einer Spritze erfassen, brülle ich unter der Hand auf. Ich winde meinen Kopf und beiße dem Fremden in den Finger. Obwohl ich den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spüre, regt der Kerl sich keinen Millimeter. Gleichzeitig packt der Mann vor mir meine Schulter und setzt die Spritze an.
Was passiert hier? Nicht! Lila!, rasen meine Gedanken unkontrolliert. Ich blicke hilfesuchend um das breite Kreuz des Typen. Doch Lila sieht mich nicht einmal an. Sie hängt weinend an ihrer Mama. Bitte, das kann nicht sein! Warum hast du das getan?
Ein greller Schmerz wie eine Verbrennung schießt unvermittelt durch meinen Arm. Der Kerl schiebt die Kanüle weit in meine Haut und drückt mit dem Kolben die durchsichtige Flüssigkeit in meinen Körper. Durch mein wildes Kämpfen verschlimmere ich den Schmerz. Die umliegende Haut reißt auf, Blut läuft aus der gewöhnlicherweise kleinen Einstichstelle. Gleichgültig zieht der Kerl die Kanüle aus meinem Arm und steckt sie zurück in seinen Rucksack. Anschließend werde ich vom Spielplatz gezerrt.
Meine Augen hängen an Lila. Ihre Mutter wird von den Seilen an ihren Handgelenken befreit. Daraufhin reißt sie sich den Knebel aus dem Mund und zieht ihre Tochter fest in die Arme. Die Farben verschwimmen, je weiter ich brutal hinter den Männern hergezogen werde. Ich kann Lila nicht mehr erkennen, weil mir schwindelig wird.
Das verdunkelte Auto, in das ich gestoßen werde, erinnert mich an Victors Fahrzeuge. Mir werden Handschellen hinter dem Rücken angelegt und ein Stück Stoff in den Mund geschoben. Kaum sperren sie die Türen zu, kippe ich mit dem Oberköper zur Seite.
Wieso kann ich mich nicht mehr halten...?, frage ich mühsam mit dem Schwindel kämpfend. Wo bringen sie mich hin? Victor... Ich muss..., lauten meine letzten Gedanken, bevor das Auto losfährt und ich das Bewusstsein verliere.
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