Kapitel 23 (1/2)
Ich kann mir mein Stöhnen nicht verkneifen, als ich Lila absetze und mich aufs Gemäuer fallenlasse. Wir befinden uns im äußeren Kreis der 19ten. Nachdem wir den letzten Tag damit verbracht haben Lilas Mama zu suchen, habe ich für heute geplant, einkaufen zu gehen. Mit dem Jackenärmel über meine Stirn wischend, denke ich: Wie kann etwas so kleines so viel wiegen?
»Nochmal! Nochmal!«, ruft Lila, breitet die Arme aus und läuft wie ein Flugzeug im Kreis.
Darauf entweicht mir lediglich ein panisches Lachen. Lila die ganze Zeit Huckepack zu tragen halte ich nicht durch. Aber sie trägt keine Schuhe. Sie so durch den Schutt laufen zu lassen wäre unmenschlich gewesen. Leider waren ihr meine Schuhe viel zu groß gewesen, um überhaupt damit laufen zu können.
Aus meiner Jackentasche hole ich das restliche Geld heraus: 150 Dollar. Wenn wir ihr Schuhe kaufen, gehen gut und gerne nochmal vierzig Dollar drauf. Zudem können wir nicht überall die Geschäfte betreten. Zum einen sehen wir aus, wie frisch aus der Kanalisation gekrabbelt, zum anderen verstecke ich mich nicht ohne Grund.
»Ist das alles dein Geld?« Lila hält vor mir. Ihre Augen weiten sich erstaunt.
»Das ist im Nu weg«, erkläre ich mit dem Pessimismus eines Erwachsenen, stecke die Scheine zurück.
Schon wieder bei einem ganz anderen Thema, greift Lila plötzlich in meine linke Jackentasche. »Kriege ich den blauen Stift?« Als sie ihre kleinen Finger herauszieht, hält sie allerdings etwas anders fest.
Während sie den Kopf fragend schief legt, färben sich meine Wangen knallrot. Augenblicklich reiße ich ihr das schwarze Lederband weg. Beschämt drücke ich es an meine Brust, kralle meine Nägel in meine Haut.
»Was ist das?«
»Nichts.« Meine Stimme bricht, weshalb ich mich räuspere. Obwohl ich das Band lediglich berühre, beschleunigt sich mein Herzschlag. Der Wunsch Victor wiederzusehen verstärkt sich mit jeder Stunde. Jetzt, da ich wieder alleine bin... fühlt sich alles so schwer an. Dieses Band ist das einzige, das ich von ihm behalten habe. Seit ich ihn verlassen habe, trage ich es bei mir. Doch ich habe es niemals angesehen...
Meine Arme verkrampfen sich. Warum gerade jetzt?, schießt es mitsamt der schrecklichen Bilder durch meinen Kopf. In meiner Brust bildet sich ein Knoten, der mich am Atmen hindert. Ich schnappe nach Luft. Mein Körper spürt, dass ich genug Sauerstoff bekomme, aber mein Kopf will nicht auf ihn hören. Das Leben lastet auf mir wie eine Tonne voller verbrannter Emotionen.
»Jesse...?«
Mein Kopf wirbelt hoch, als ich eine Fingerspitze an meinen zitternden Händen spüre. Meine tränenden Augen legen sich auf Lila. »Lass mich!«, brülle ich. Ehe ich schalten kann, schlage ich ihren Arm weg, stoße sie von mir. Sie taumelt zurück und fällt auf ihren Hintern.
In meinen Ohren hallt mein Atem stoßartig wider, als wäre ich kilometerweit gerannt. Ich starre nach unten zu dem kleinen Mädchen, das ich gestoßen habe. Benommen rutsche ich vom Gemäuer, krabbele zu Lila. »T-Tut mir leid...«
Im Gegensatz zu meiner Vermutung, weicht sie nicht zurück, sondern schlingt ihre Arme um meinen Hals. Das verschlimmert meinen Schmerz nur weiter. Diesmal habe ich mich allerdings unter Kontrolle.
»Hast du gar keine Angst?«, flüstere ich. Bestimmt sehe ich aus, als wäre ich verrückt geworden. Die Arme schlaff an meinen Seiten hängend. Das Gesicht in wenigen Augenblicken voller Tränen. Am ganzen Körper zitternd.
»Mami macht das auch manchmal.« Lila hält mich weiterhin umschlungen. »Sie sagt, dass ich sie ganz lieb umarmen soll. Dann wird alles gut.«
»Wirklich...?«
»Bestimmt.«
Ist sie die Erwachsene, oder ich...?, frage ich mich innerlich, ohne eine Antwort darauf zu finden. Mein Hals wird schwer. Ich lege mein Kinn auf ihre Schulter.
»Können wir noch ein bisschen so bleiben?«
»Mh-hm«, flötete Lila.
Nach mehrmaligen ruhigen Atemzüge, drücke ich das kleine Mädchen von mir. »Du solltest nicht so offenherzig mit Fremden umgehen.«
»Warum?«
»Weil die Menschen böse sind.« Ich stehe schwankend auf, wische mir die Tränen aus den Augen. Dann ziehe ich Lila auf die Beine.
»Bis du auch böse?«
»Ja...« Herunterhockend deute ich Lila an, wieder auf meinen Rücken zu steigen. Sie krabbelt auf, schlingt die Arme um meine Schultern. Dann laufe ich aus dem Bezirk.
»Du siehst aber nicht böse aus.«
Beinahe über einen Haufen Ziegelsteine stolpernd, wird meine Aufmerksamkeit auf die Straße gelenkt. Eine Gruppe aus mehreren schwarzen Fahrzeugen bewegt sich Richtung Stadtmitte. Keine zwanzig Meter von uns entfernt fahren sie mit schnellem Tempo durch die Pfützen des letzten Regens. Um nicht bespritzt zu werden, laufe ich eilig weiter. Die Fenster sind verdunkelt. Ich kann nichts vom Inneren erkennen.
»Gehen die auch zu dem Fest?«, fragt Lila, zeigt begeistert auf die schwarzen Autos.
»Welches Fest?«
»Wo es wieder Bonbons und Tröten gibt.«
Ich brauche einige Momente, um zu verstehen, dass sie mit Fest eigentlich die Demonstrationen meint, die sich allmählich in der gesamte Stadt ausbreiten.
»Das ist kein Fest. Das ist... ein Kampf«, stelle ich richtig. Ich bleibe bei einem Graffitikunstwerk stehen, das jemand an die Außenwand einer verlassenen Garage gesprüht hat. Durch die Perspektive sehen die Buchstaben, die das Wort Perfect bilden, wie eine Skyline aus. Es riecht noch nach Chemie. Lila steckt ihre Finger in die noch frische Farbe. Dann zieht sie lachend einen blauen Strich über meine Wange.
»Ah, nicht...!«, jammere ich, ziehe ihre Hand aus meinem Gesicht, was sie erneut lachen lässt. Kopfschüttelnd laufe ich weiter, versuche mit dem Ärmel die Farbe abzurubbeln.
»Was ist ein Kampf, Jesse?«
»Das ist sowas wie ein Streit.«
»So wie wenn Mami sauer ist, weil ich das Essen fallengelassen habe?«
»Ein wenig. Die meisten Kämpfe sind sinnlos, sie tun Menschen nur weh. Manchmal muss man aber für die Gerechtigkeit kämpfen.«
»Kämpfst du, Jesse?«
»Ich habe es vor.«
»Wirst du auch jemandem wehtun?«
»Wenn es sein muss.«
Lila beginnt mit einigen meiner Haarsträhnen zu spielen. »Mami hat immer gesagt, dass wir gehorchen müssen, sonst würde uns Mr Carlos wehtun.«
Augenblicklich stoppe ich, blicke zu dem Kiosk, der keine hundert Meter mehr von uns entfernt ist. »Deine Mama gehört zum Carlos Clan?«
»Sie redet auch immer von einem Can. Aber ich weiß nicht was das ist. Manchmal geht sie weg, um Sachen zu verkaufen. Jetzt braucht sie so lange... Das mag ich nicht.«
Sie gehören zu Victors Feinden..., denke ich schluckend. Dabei muss ich mich doch vom Carlos Clan fernhaften. Wenn das jemand bemerkt, dann...
»Wirst du uns jetzt auch wehtun?«, unterbricht Lila meine Gedankengänge.
Ich verrenke meinen Hals, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Du magst Mr Carlos doch nicht. Das hast du zu deinem Freund gesagt, ich hab gelauscht... Und Mami sagt immer, wenn jemand Mr Carlos nicht mag, wird er uns töten.«
Meine Augen weiten sich. Ich ziehe Lila höher auf meinen Rücken. Dann wuschele ich ihr kurz durch die Haare. »Hast du Angst vor mir?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Das brauchst du auch nicht. Vielleicht gehöre ich zum Lassini Clan, aber ich würde niemals einem Kind und seiner Mutter wehtun. Das schwöre ich dir bei meinem Leben.«
»Mr Lassini kenne ich auch. Mami sagt er mag Mr Carlos gar nicht. Gibt er dir Aufgaben, wie Mr Carlos Mami?«
»So... in der Art.«
»Und er will nicht, dass du uns wehtust?«
Tief durchatmend setze ich mich wieder in Bewegung. Immerhin sind wir doch zum Einkaufen hergekommen. Mit Überzeugung antworte ich Lila: »Das würde Victor niemals wollen.«
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