Kapitel 22 (Teil 1/3)
Wie vor ein paar Jahren sitze ich am Flussufer. Damals habe ich mir beigebracht, wie man Steine über das Wasser hüpfen lässt, was ich eine Stunde lang schon tue. Seit fünf Tagen komme ich hierher, starre auf die Wellen und lausche dem Hupen der Schiffe, die ablegen.
Als mich Courtney von der Straße gelesen hat, habe ich mir geschworen, die Obdachlosigkeit hinter mir zu lassen. Diese Woche habe ich allerdings ohne Zuhause verbracht. Die Brücke war mein Dach in der Nacht gewesen, das Kaufhaus meine Heizung. Bei Courtney liegt noch meine Reisetasche mit meinen notdürftigen Kleidern. Ich traute mich nicht zu ihr zurückzukehren. Bis mir der Kopf platzen wollte, dachte ich nach und dachte nach und dachte nach.
Warum hatte ich Ridge befreit, warum war ich gegangen? Ich hatte nicht wahrhaben wollen, dass ich mich verändert hatte. Ridges Befreiung, dachte ich, würde mein altes, liebevolles und mitleidiges Herz zurückbringen. Durch Victor habe ich jedoch erkannt, dass ich etwas wert bin und mich nicht mehr unterdrücken lassen will...
Lässig aus dem Handgelenk werfe ich einen Stein über den Fluss. Er hüpft sieben Mal, bevor er hinabfällt. Weil das Kreuzfahrtschiff, das jeden Tag um dreizehn Uhr hält, an mir vorbeifährt, weiß ich, dass es an der Zeit ist.
Ich schlendere durch die Stadt. An den Straßenseiten vor dem alten Rathaus halten Polizeiautos. Zur Vorbereitung sperren die Beamten die brüchige Straße ab. Auf den Balkonen der Häuserblöcke ringsherum spähen allerlei interessierte Köpfe hinaus. Von meinem Platz aus habe ich das alte Rathaus gut im Blick. Ich setzte mich auf die Treppenstufe einer Wohnung setze.
Seit ich mich von meinem alten Leben verabschiedet habe, reden die Leute vom heutigen Tag. Wenn ich an ihnen vorbeilief, wenn ich zu den Werbetafeln sah, wenn ich den Nachrichten durch ein offenes Hausfenster lauschte.
»Hey du!«
Automatisch dreht sich mein Kopf nach hinten. Eine Frau im Hoodi hält mir ein Plakat auf einer Tafel hin. Im Überfliegen kann ich darauf den Namen Lassini erkennen.
»Du siehst aus, als hättest du ebenso 'ne schwere Zeit hinter dir. Machst du bei der Demo mit? Dann nimm das. Wir haben genug vorbereitet«, sagt sie, drückt mir das Schild in die Hand und läuft zu der Gruppe Menschen, die sich am Rathausplatz sammelt.
Für eine Zukunft. In Gedenken an die Neunziger Jahre, als alles besser war. Lang lebe der Lassini-Clan, steht auf dem Schild in fetter, roter Schrift. Ich drehe es in meiner Hand. Dann lege ich es neben mich auf den nassen Stein. Sowas brauche nicht. Ich muss jemanden finden.
Seit rund dreizig Jahren war das alte Rathaus nicht mehr in offiziellem Gebrauch. Damals – so habe ich es zumindest mal von meinen Kollegen gehört – wurde es von der Mafia belagert. Aus diesem Grund entschied sich der Staat nach Rückzug der Banden ein Zeichen zu setzen und ein neues Rathaus in der Stadtmitte zu bauen. Eine Verschwendung. Die Farbe der Backsteinwände ist verblasst. Die Straßen, die zum Rathaus hin immer breiter werden, verfehlen ihre dramatische Szenerie jedoch nicht. Hinzu kommt, dass der Rathausplatz ausladend und mit Springbrunnen und gepflegten Rasenstücken angelegt ist. Heute residieren dort einige private Unternehmen.
Ein lautes Pfeifen lässt mich aufblicken. Hinter mir kommen scheinbar noch mehr Demonstranten. Ihre Hände gefüllt mit Tröten, Mikrofonen und Plakaten. Auf die misstrauischen Blicke der Polizisten schreien sie: »Weg mit euch!«
Nach und nach erreichen die Vorbereitungen ein Ende. Mittlerweile streiche ich die Straße entlang, suche die Nebengassen ab. Aufmerksam erhasche ich einen Blick auf viele Gesichter. Rund fünfhundert Leute haben sich versammelt.
Ich rechne nicht damit Victor persönlich anzutreffen. Eher, dass er jemanden Vertrauten geschickt hat, um die Situation zu überwachen. Jemanden, den ich kennen sollte...
Die Demonstration beginnt. In enger Formation rückt die kreischende Meute voran. Schilder werden über die Gruppe gehalten, Tröten werfen Echos durch die Straße. Dem Krawall schenke ich keine Aufmerksamkeit. Stattdessen fliegt mein Kopf von rechts nach links, um wieder und wieder alles abzusuchen.
Auf einmal erkenne ich eine einzelne Person auf dem Dach eines Graffiti-bemalten Hauses. Meine Augen beginnen zu leuchten.
Voller Freude über die Entdeckung renne ich zur eingeschlagenen Tür. Gerade verlässt eine ältere Dame das sonst verschlossene Gebäude. Die Chance nutzte ich, um mich hineinzustehlen. Rasch sprinte ich die Stufen hinauf. Oben angekommen, trete ich zurück an die Luft. Dann gehe ich zu der rauchenden Person, die am Rand des Daches sitzt.
»Elliot!«
Überrascht wendet sich Victors direkter Untergebener um. Als sich unsere Blicke treffen, klappt ihm der Kiefer herab. Ohne ein Wort zu sagen, dreht er sich zurück zur Straßenseite. Er steckt sich die Zigarette in den Mund. Dann nimmt er einen so langen Zug, dass ich schon befürchte, er will das Ding in einem Stück verschlingen. Als ich einen weiteren Schritt auf ihn zugehen will, wirft er den Stummel lieblos nach unten.
Plötzlich springt er auf. Ich zucke zurück, da stürzt er sich auf mich. Mit einem heiseren Keuchen knalle ich rücklings aufs den Beton. Mein Körper wird durch Elliots Gewicht zu Boden gepresst. Sofort greifen seine rauen Hände nach meinem Hals.
»Lass mich erklä...« Ich kann nicht weitersprechen, da Elliot mich zu würgen beginnt.
»Fuck! Wieso bist du hergekommen, du kleiner Bastard?«, brüllt er mit verzerrtem Gesicht. »Du hättest einfach verschwinden sollen! Ist dir überhaupt klar, dass ich dich jetzt töten muss, du Hosenscheißer!?«
Aus Reflex reiße ich an seinen Händen. Dennoch fange ich mich wieder, lasse meine Arme neben den Köper fallen. Er soll sehen, dass ich mich nicht wehren würde. Obwohl ich kaum Luft bekomme, halte ich meinen Blick standfest auf Elliots gerichtet.
Aus seiner Kehle entweicht ein Knurren. »Wieso reizt du Victors Geduld immer bis zum Übermaß?« Seine Augen scheinen, als würde er mir tatsächlich den Rest geben wollen. Zeitgleich lockert sich der Griff um meine Kehle. Gierig schnappe ich nach Luft.
»Nur einmal werde ich fragen. Und wenn mir die Antwort nicht gefällt, lasse ich dich an deiner eigenen Spucke verrecken.«
»Ich freue mich drauf...«, krächze ich grinsend.
»Wieso hast du den Mistkerl vom Carlos Clan befreit? Wieso bist du abgehauen? Und wieso um alles in dieser beschissenen Welt bist du jetzt hier?«
Der Versuch eines Lachens geht im Röcheln unter. »Haha... Das waren aber mehr als eine Frage.«
Elliot rammt meinen Kopf schmerzhaft fest nach hinten. Von neuem beginnt er mit dem Würgen. »Antworte, du Hurensohn!«
»Ah...« Krampfhaft halte ich mich davon ab, dem reinen Menschenverstand zu folgen und mich zu wehren. »Wenn du...« Ich huste. »...Kann... nicht... sprechen...«
Sichtlich mit seiner Geduld ringend, lässt mir Elliot wieder Luft. Keuchend antworte ich: »Ha... ha... Würdest du gerne hören, dass ich vom Carlos Clan komme? Dass ich auf Rache für irgendeine Kindheitserinnerung aus bin? Solch hohe Absichten hatte ich nicht. Ich wollte es tun, also habe ich es getan.«
»Bist du dumm?«
»Frag ich mich jeden Tag.«
»Was hat dir das verdammt nochmal gebracht?«
»Im Grunde nichts«, gebe ich zu. »Dadurch ist mir jedoch bewusst geworden, was ich wirklich will.«
Elliot schüttelt fassungslos den Kopf. »Weißt du was das einzige war, das Victor zu uns sagte, nachdem du abgehauen bist?«
»Dass ihr mich umlegen sollt?«
Überraschenderweise lässt Elliot mich los, fällt zurück auf seine Knie. »Er befahl uns, dich nicht zu suchen.«
Meine Brust beginnt zu schmerzen.
»Was denkst du, warum wir dich nicht sonst längst aufgespießt hätten? Diese Stadt gehört uns, du Wichser! Wir hätten dich innerhalb von wenigen Stunden gefunden.«
Ich schaffe es nicht, meinen festen Blick aufrechtzuerhalten. Also senke ich ihn reumütig, kralle mich über die Stelle an meiner Brust, die nervös puckert.
Elliot steigt von mir herunter, zündet sich eine neue Zigarette an. »Der Boss hatte schon so viele... Sie waren alles Arschlöcher gewesen, haben auf Adrian und mich geschissen, als ihnen die Macht zu Kopf stieg. Shit...« Er wischt sich angestrengt über seine Stirn. »Ich dachte, du wärst anders. Der Boss wohl auch...«
»Es tut mir leid.«
Elliot wedelt mit seiner Zigarette vor meiner Nase herum. »Bild dir bloß nichts ein, du Hosenscheißer! Ich könnte dich jederzeit in Stücke reißen.« Er nimmt einen Zug, pustet den Rauch aus. »Will mir nur nicht die Hände an Abschaum wie dir schmutzig machen. Also verpiss dich, bevor ich's mir anders überleg.«
»Das geht nicht.« Ich krabbele zu Elliot, setze mich neben ihn. »Ohne Victor kann ich nicht mehr leben.«
Elliot lacht hysterisch. Er packt meine Haare, zieht mich mit einem Ruck heran und hält seine Faust drohend neben mein Gesicht. »Hast du 'n Todeswunsch, du kleiner Hosenscheißer? Erst Verrat begehen und dann plötzlich die große Liebe im Boss sehen? Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du gar nicht mehr leben!«
»Ich weiß, das klingt wahnsinnig. Du kannst mich auch verprügeln, wenn dich das glücklich macht. Aber ich muss Victor wiedersehen.«
Elliot nimmt einen Zug und pustet mir den Rauch seiner Zigarette direkt ins Gesicht. Dadurch kneife ich die Augen zusammen. »Bist du komplett gestört? Selbst wenn er dir innerlich verzeihen würde... Denkst du, dass sein Stolz als Boss es zulässt, dass du nach dem Verrat weiterlebst?«
»Ich bezahle auch den Preis, der dafür nötig ist. Selbst wenn es mein Leben kostet.« Vollkommen überzeugt erwidere ich Elliots argwöhnischen Blick. »Ich muss ihn sehen.«
»Seinen Befehl, dir nicht zu folgen, hat der Boss Adrian und mir im absoluten Vertrauen gegeben. Wie würde er vor seinen Leuten und vor allem vor seinen Vorgängern dastehen, wenn er einem Verräter vergibt? Wenn du vor ihm auftauchst, lässt du ihm gar keine andere Wahl, als dich zu töten. Willst du ihm das etwa auch noch antun?«
Zittrig atme ich ein. »Es tut mir leid... Ich bin zu selbstsüchtig, um es nicht zu tun.«
Elliot stößt mich von sich, womit ich nach hinten kippe. Dann rümpft er die Nase, sieht Richtung Demonstration. »Vielleicht wird er es auch genießen dich bezahlen zu lassen. Ich würde es jedenfalls.«
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