Kapitel 21 (Teil 2/2)
Der Kreidehügel ragt hinter der Stadt etwa hundert Meter hinauf in den Himmel. Dieser Platz ist sowohl bei Familien als auch Pärchen beliebt, weil er eine fantastische Sicht auf die Skyline bietet. Seitdem ich hier oben angekommen bin, sitze ich auf der Bank, nahe dem Geländer vor dem Abhang und beobachte die Kinder auf dem Spielplatz hinter mir.
Wie viele abschätzige Blicke ich heute kassiert habe, weiß ich schon nicht mehr. Wieder ohne Victor auf meiner armen Seite der Welt angekommen, trage ich bloß meine alte, kaputte Kleidung. Meine Haare sind vom Wind völlig durcheinander und meine Augenringe könnten ebensogut angemalt worden sein, so dunkel sind sie. Aber das bin ich ja gewöhnt. Wer in meinen Leben war mir bisher nicht mit Hohn oder Verachtung begegnet?
Langsam graut der Himmel. Die Wolken ziehen sich zusammen, als würde es bald zu regnen beginnen. Die Leute entschließen sich zu gehen, bevor noch ein Sturm aufkommt. Einige Jugendliche tauchen auf dem Spielplatz auf. Sie setzen sich auf die Tischtennisplatte, die Schaukel und auf das Klettergerüst. Wo vorher Kinder spielten, lassen sie nun laute Musik laufen und reichen einige Zigaretten herum, die für mich nicht nach Tabak riechen. Als sie bemerken, dass ich sie beobachte, brüllt einer von ihnen zu mir herüber: »Was glotzt du so, Penner?«
Um die Situation zu entschärfen, drehe ich mich still zum Abhang. Allerdings scheint die Gruppe auf Krawall gebürstet zu sein. Ein junger Mann von ihnen kommt zu mir. Als ich überrascht zu ihm aufsehen will, packt er auch schon meinen Kragen und zieht mich hoch. Zuerst weiten sich meine Augen, doch dann spüre ich ein gefährliches Zucken in ihnen.
»Schläfst du hier? Unter der Bank? Haha!«, lacht der Junge, der für mich gerade nichts anderes als ein kleines Kind ist. Seine stechende Alkoholfahne zieht zu mir. Geschätzt ist er gerade mal vierzehn Jahre alt. Zudem ist er sogar kleiner als ich.
»Hast du Geld, du Penner? Vom Flaschensammeln?«, lacht er erneut. Anschließend verzieht er den Mund zu einer widerlichen Grimasse. »Her damit. Dann lasse ich dich vielleicht gehen.«
Mich zu wehren bringt nichts... Es wird sich niemals etwas verändern... Jemanden zu verletzen ist unverzeihlich..., gehe ich meine jahrelangen Prinzipien durch. Unbewusst schließen sich meine Finger um sein Handgelenk an meinem Kragen.
»Was? Hä? Hast du Schiss?« Der Junge tritt mir gegen das Schienbein. Dennoch bleibt mein kalter Blick starr auf seinen gerichtet. Er wiederholt diese Aktion.
Bestimmt könnte ich ihm den Arm brechen, wenn ich wollte..., taucht ein düsterer Gedanke in meinem Kopf auf. Mein Griff an seinem Gelenk wird fester, sodass meine Knöchel weiß hervortreten. Der Junge zischt schmerzerfüllt. Die Überraschung über meine unerwartete Kraft steht ihm ins Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich würde das ausreichen, damit er sich mit seinen Freunden verzieht. Aber irgendwas in mir ist nicht befriedigt. Ich reiße seine Hand von meinen Klamotten, verdrehe sie nach rechts.
»Ah, Shit!«, keucht der Junge, beugt sich zur Seite, um die Spannung von seinem Arm zu nehmen. »Leute!«, ruft er. Seine Freunde springen auf, schauen fasziniert zu dem kleinen Schauspiel, das ich ihnen biete.
»H-Hör auf... Das tut weh...«, jammert er, als ich seinen Arm weiter drehte. Er klammert sich an meinem Gelenk fest, um mich wegzuziehen, vergeblich. Ich bin älter und stärker. Ein seltsames Adrenalin fließt durch meinen Körper. Es lässt mich größer und mächtiger als alles auf dieser Welt fühlen. Wie ein Schub purer Extase.
»Hey! Hey!«, schreit er. »Helft mir! Aua!«, schreit er zu seinen Freunden, die damit beginnen ihn im Stich zu lassen und wegzulaufen.
Plötzlich wird meine Aufmerksamkeit auf Courtney gelenkt, die am Wegrand auftaucht. Als wäre ich von einem Traum aufgeschreckt, lasse ich den wimmernden Jungen vor mir los. Sofort taumelt er zurück, fällt in den Kies. Er strampelt hilflos herum, bevor er aufspringt und in die Richtung rennt, in der seine Freunde verschwunden sind.
»Du Arsch...« Schnaubend überwindet Courtney den letzten Abstand zwischen uns, lässt sich auf die Bank fallen. Ihr atemloses Röcheln deutet an, dass sie den Weg gerannt sein musste. »Weißt du was ich für ein Schiss hatte, dass du nicht da sein wirst?«
Ich blinzele benommen dem Jungen hinterher, bevor ich mich neben sie setze. »Hab's doch versprochen.«
Courtney stützt sich nach hinten, um ebenfalls einen letzten Blick auf den Jungen zu erhaschen. »Was war das gerade?«
Ich schüttele den Kopf, um das Geschehene zu verdrängen. »Nichts weiter schlimmes. Wie war die Arbeit?«
»Wie schon? Anstrengend.« Courtney lässt ihren Kopf über die Lehne baumeln. »Cole hat uns heute morgen zusammengetrommelt. Er führte so eine Belehrung durch, weil wir wichtige Gäste bekommen. In in der herrscht Stadt doch gerade mega Unruhe herrscht.« Sie schielt zu mir herüber. »Er fragte mich danach, ob ich weiß wo du steckst, weil du unentschuldigt fehlst. Das hast du noch nie. Arbeit stand für dich immer an oberster Stelle. Heißt das... du hast wirklich vor abzuhauen? Hat es was mit diesem reichen Mann zu tun, von dem du mir mal erzählt hast?«
Nach unten zu den Dächern der Häuser blickend, atme ich tief durch. »Ja...«
»Sei ganz ehrlich. Die ganze Stadt spricht gerade von der Mafia, nach der Demonstration und nach dem was im Nachrichtenturm passiert ist. Hast du was mit nem Mafiosi am laufen?«
»Ja...«
Courtney zieht die Augenbrauen hoch. »Hast es sich zumindest gelohnt? Ist er gut im Bett?«
Schwärmerisch antworte ich ihr: »Ja...«
Lachend schellt sie mich am Hinterkopf. »Du Idiot. «
»Ich weiß...«
»Bereust du es?«
»Etliche Male.« Mein Herz macht einen Satz, als ich meiner Antwort hinzufüge: »Und trotzdem würde ich mich immer wieder Hals über Kopf auf ihn einlassen...«
»Du bist also verliebt?«
»Und wie...«, ächzte ich kraftlos.
»Warum hast du ihn dann verlassen?«
»Wie hätte ich sonst der alte Jesse bleiben können?«
»Kannst du es überhaupt? Das Leben und die Liebe formen uns wie eine Vase, die nie wieder zu einem runden Klumpen wird.«
Ich beiße mir schmerzhaft fest auf die Lippe. »Für eine endgültige Entscheidung bin ich zu feige.«
»Das ist tatsächlich feige«, bekomme ich um die Ohren geknallt. »Erwartet du, dass dir das jemand abnimmt? Träum weiter.«
Ich setzte mich auf, sehe Courtney vorwurfsvoll in die Augen. »Er ist ein Mörder! Vor mir hat er Menschen getötet! Du weißt nicht wie sich das anfühlt!«
»Stimmt.« Sie setzt sich ebenfalls hoch, sodass wir uns auf einer Höhe befinden. »Aber wenn du ihn liebst, dann musst du zu ihm stehen, zu seinen Entscheidungen und zu seinem Leben.«
»Macht es dir etwa nichts aus, dass er ein Verbrecher ist?«
»Bei dem was in der Stadt abgeht, konnte ich mir das denken. Er hat... sicherlich Gründe für seine Taten.«
»Sind meine Gefühle nicht verwerflich?«
»Nach der Auffassung der Allgemeinheit ist es das..« Courtney lehnt sich bei meinem sprachlosen Blick lässig zurück. »Doch wer entscheidet was richtig und falsch ist?«
»Ist das jetzt irgendein philosophischer Ansatz?«
Ohne auf meine Unterbrechung zu achten, spricht Courtney weiter: »Du allein tust das. Lediglich ein Feigling drückt sich vor der Entscheidung seines eigenen Richtig und Falsch. Jemand ohne Charakter, ohne Persönlichkeit.«
»Genauso fühle ich mich gerade...«
Courtney packt meine Schultern. »Dann sag mir was dein Richtiger Weg ist.«
Verzweifelt schüttele ich den Kopf. »Ich weiß es nicht!«
»Du bist nur ein Feigling.« Sie blickt mir nachdrücklich in die feuchten Augen. »Ich frage dich ein letztes Mal... Scheiß auf alle Konsequenzen. Was willst du?«
Ich hole tief Luft. Für diesen einen Moment versuche ich jegliche Angst aus meinem Kopf zu streichen, wie es ich vorhin bei dem Jungen von der Gruppe Jugendlichen gemacht habe. Das Kribbeln kehrt zurück. Plötzlich ist es klar...
»Ich will ihn.«
»Selbst wenn das bedeutet, dass du den Hass der Menschen auf deinen Schultern tragen wirst?«
»Sie haben mich seit jeher gehasst.«
»Selbst wenn das bedeutet, dass möglicherweise viele Personen wegen dir leiden müssen?«
»Wegen ihnen habe ich mein ganzen Leben gelitten.«
»Willst du für ihn über Leichen gehen?«
»Ich will tun, was auch immer er mir befiehlt, weil es einfach zu perfekt ist, in seinen Händen zu liegen...«
Schweigend betrachten wir uns eine Weile. Erst als ein Tropfen auf meinem Hals landet, durchbrechen wir die Stille.
»Es beginnt zu regnen«, erklärt Courtney das Offensichtliche, hält ihre Handfläche gen Himmel, um die kalten Tropfen aufzufangen.
»Woher wusste du, welche exakten Worte du zu sagen hast?«, frage ich mit gerunzelter Stirn.
»Habe ich dir jemals von meinem kleinen Bruder erzählt?«
»Ich wusste gar nicht, dass du Geschwister hast.«
Allmählich beginnt es zu nieseln. Courtney nickt mit einem traurigen Lächeln. »Sagt dir Die 19te etwas?«
»So heißt in den Reihen der Mafia der Stadtteil einige hundert Meter hinter dem alten Rathaus.«
»Dort bin ich aufgewachsen.«
Die Falten auf meiner Stirn werden tiefer. »Hast du mir nicht damals erzählt, du seist aus einer ganz anderen Ecke des Landes gekommen?«
»Das war gelogen...«, flüstert sie.
»Was? Aber wieso...?«
»Du weißt selbst wie schlimm Vorurteile sein können. Hab ich mich nicht getraut zu erzählen, dass ich im ehemaligen Gebiet der Mafia aufgewachsen bin.«
Ich atme tief durch, erstmal realisierend, dass meine beste Freundin mich belogen hat.
»Unsere Mutter kannten wir nicht. Unser Vater war krank. Als ich zweiundzwanzig war, verstarb er.«
»Das tut mir leid.«
»Es ist lange her.« Courtney fährt sich durch die Haare, die durch den Niesel langsam nass werden. »Um es kurz zu halten: Mein sechzehnjähriger Bruder trat dem Lassini-Clan bei, weil er keinen anderen Ausweg sah. Innerlich wollte ich ihn unterstützen. Allerdings war ich ein zu großer Feigling, um zu meinem Bruder zu stehen. Schließlich trennten wir uns, weil ich zu große Angst vor den Konsequenzen hatte. Heute weiß ich, dass es genauso schlimm ist, niemals eine Entscheidung zu treffen, als die falsche. Man sollte zumindest versuchen, die richtige zu fällen.«
»Deswegen wusstest du, wie ich mich fühle.«
»Bist du mir böse, dass ich dich angelogen habe?«
»Ich verstehe dich.«
Courtney legt ihren Kopf schief. »Wäre es seltsam, wenn ich dich frage, ob ich dir über die Wange streicheln dürfte?«
»Tu dir keinen Zwang an.«
Ihr Handrücken an meinem Gesicht fühlt sich im Regen heiß an. Aus dem Niesel entwickelte sich allmählich ein Sturm. Meine Haare kleben an meiner Stirn und die Hose an meinen Beinen.
»Für 'ne Weile werde ich nicht nicht wiedersehen, oder?«
Ich zucke mit den Schultern. »Jetzt bleibt die Frage, ob er mich zurück will. Immerhin habe ich ihn verraten und einen seiner Gefangenen befreit.«
»Klingt echt mies.«
»Musstest du das extra einwerfen?«
Courtney kichert, lehnt sich zurück. »Wenn er dich genauso liebt, wie du ihn, wird er dir verzeihen können.«
»Und was wenn nicht?«
Das breite Grinsen meiner besten Freundin verschafft mir einen Schauer. »Na dann rest in peace, mein Freund.«
Erst stoße ich sie mit dem Ellenbogen an, dann falle ich ihr um den Hals. »Mach's gut. Ich bin dir eine Menge schuldig.«
Courtney krallt ihre Finger in meine Jacke. »Ich mag diesen Abschied nicht.«
»Irgendwann kann ich alles dir zurückzahlen.«
»Es reicht, wenn du eines Tages wohlbehalten bei mir vorbeischaust.« Langsam streicht sie mit ihrem Daumen über die Träne an meinem Auge. »Nicht wahr, mein Kleiner?«
Um es uns beiden nicht noch schwerer zu machen, löse ich mich von meiner besten Freundin und laufe Richtung Abstieg des Hügels.
»Jesse!«
Im strömenden Regen drehe ich mich herum.
»Sag mir seinen Namen!«, schreit Courtney durch das laute Plätschern der eiskalten Tropfen.
Die Hände zu einem Dreiecke faltend rufe ich ihr aus meinen vollen Lungen zu: »Victor! Ich liebe Victor Lassini!«
Genüsslich winkend beobachte ich Courtneys Gesicht. Zuerst zieht es sich fragend zusammen, dann entgleiten ihr alle Züge, als sie begreift, dass ich eine Affäre mit dem wohl mächtigsten Mann des ganzen Landes begonnen habe. Auf ihre Erschütterung antworte ich lediglich mit einem letzten traurigen Lächeln, ehe ich mein altes Leben hinter mir lasse.
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