Kapitel 21 (Teil 1/2)
Hektische Blicke über die Schulter werfend, stelle ich fest, dass uns niemand gefolgt ist. Hechelnd schleppe ich mich zum Geländer, auf welches ich mich ungalent fallen lasse. Der eisig-schneidende Wind schlägt mir gegen den Körper. Der Schweiß auf meiner Stirn läuft meine Schläfen hinab.
»Ha... huff... ha...« Die Schritte hinter mir werden langsamer. Er kommt neben mir an. Rücklings lehnt er sich gegen die kalten Eisenstäbe, die den Fußweg vom Abhang in den Fluss trennen. »Ich dachte, mir fällt meine Lunge aus der Brust. Das Adrenalin hat meine Schmerzen überdeckt. Fuck, jetzt da ich mich beruhige, steht mein scheiß Körper unter Strom.« Mit verzerrten Lippen betrachtet er seine aufgeschrammten Arme. Danach berührt er den dunklen Blutfleck im Hemd auf seiner Brust. Seitdem wir gerannt sind, ist die Wunde aufgerissen.
»Das ist nicht mehr meine Angelegenheit.«
Er stößt ein amüsiertes Schnauben aus, dreht sich zu mir. Ich starre auf die Spiegelungen der Stadtlichter in den Wellen.
»Ich versteh dich nicht.« Er schüttelt den Kopf.
»Ist mir egal.«
»Warum um alles in dieser fuckin' Welt hast du mich befreit? Wer bist du überhaupt?«
Meine müden Augen mustern den Mann neben mir spärlich.
»Bist du ein Agent vom Carlos Clan?«
Ich schweige.
»Hat dich mein Boss geschickt?«
Ich schweige.
»Kommst du von der Polizei?«
Ich schweige.
»Kann es sein, dass du...«
»...einfach nur Jesse bist?«, beende ich seinen Satz. »Ich bin einfach nur Jesse Carter. Ich gehöre niemandem und ich stehe auf niemandes Seite. Einfach nur Jesse...«
Den zusammengezogenen Brauen meines Gegenübers zufolge, scheint er nicht zu verstehen, was ich meine. »Obwohl ich dich töten wollte, hast dich mich aus Victor Lassinis Haus geschmuggelt. Sorry, aber du bist echt durchgeknallt. Dafür stehst du ganz oben auf seiner Todes-Liste.« Trotz seiner Worte stellt er sich aufrecht hin und reicht mir seine Hand. »Aber ich schulde dir mein scheiß Leben. Blair sagte einst, wenn – aus welchen Gründen auch immer – Jesse Carter in der Scheiße steckt, würde der Carlos Clan ihm Zuflucht bieten.«
»Blair?«, horche ich auf. Die mir angebotene Hand, lasse ich links liegen. Eilig nimmt mein Gegenüber sie wieder herunter, wischt unangenehm berührt seine Hose entlang.
»Sie ist sowas wie die rechte Hand von Mr Carlos.«
»Ich... kenne sie.«
»Keine Ahnung woher oder was sie mit dir am Laufen hat. Das ist das einzige, was sie uns eintrichterte.« Schwer keuchend, schleppt er sich in Richtung Stadtmitte. Als ich ihm nicht folge, dreht er sich nochmals zu mir. »Worauf wartest du?«
»Habe ich gesagt, dass ich zum Carlos Clan will?«
Er verzieht das Gesicht zu einer unverständlichen Grimasse. »Du willst weiter draußen rumlaufen? Hast du nicht kapiert? Für die bist du jetzt ein Verräter, die jagen dich!«
Mit der Situation abgeschlossen, wende ich mich der nächtlichen Aussicht zu. »Ich weiß.«
»Fuck, ich habe keine Ahnung warum du das gemacht hast. Machen einem ja richtig Angst, deine undurchsichtigen Absichten.« Er dreht sich weg, beginnt sich humpelnd in die Stadt zu bewegen. »Übrigens, ich heiße Ridge. Ach und... danke«, höre ich noch leise neben dem Schleifen seiner Schuhe am Boden.
Bald bin ich allein.
Ganz allein.
Was soll ich jetzt tun, ist die eine Frage, die mir im Kopf herumschwirrt. Ich habe es tatsächlich getan. Nachdem ich Victor in der Nacht verlassen habe, bin ich zum versteckten Keller geschlichen und habe diesen Verräter – Ridge wie er heißt – befreit. Die ersten Tage bei Victor wurde ich auf Schritt und Tritt verfolgt, doch heute Nacht ist niemand dort gewesen, um mich aufzuhalten.
Er hat mir vertraut... Es tut mir leid. Unsere Welten sind zu verschieden, flüstere ich in Gedanken.
Das einigst vernünftige, das ich gerade tun könnte, wäre die Stadt oder gar das Land zu verlassen. Doch ich kann nicht. Weder das Geld noch den Mut hätte ich. Gerade pochert mein Herz und ich würde am liebsten schreien und weinen und um mich schlagen...
Kraftlos sinke ich am Geländer herab, halte mich schwach am Eisen fest. Ich presse meine Lippen aufeinander.
Ah... Das ist also Liebeskummer... haha...
An das nervige Kreischen der Türklingel dieser Wohnung bin ich schon gewohnt. Heute muss ich es mir mehrmals antun, weil ich Courtney aus dem Tiefschlaf zu reißen scheine.
Augenreibend öffnet sie die Tür, bevor mich ihre dicken, blau-umrandeten Augen verwirrt von unten nach oben mustern. Ihre Haare stehen vom Kopf ab und ihr Pyjama ist zerknorckelt, als hätte sie sich über den Boden gerollt.
»Je...sse...?«, fragt ihr dösige Stimme. »Wie spät... ist es?«
»So gegen zwei Uhr morgens.«
»Was... Warum... Ah...« Ein lautes Gähnen übermannt sie.
Demonstrativ halte ich meine gepackte Reisetasche hoch, die ich vor wenigen Minuten hastig zusammengewürfelt habe. »Kann ich diese Nacht bei dir schlafen? Morgen bin ich auch gleich wieder weg«, sage ich, füge gedanklich an: Nicht, dass du noch mit reingezogen wirst. Aber ich ein wenig Schlaf, sonst komme ich nicht weiter.
Courtney blinzelt absolut überfordert mit der Situation. Dann tritt sie neben den Eingang und lotst mich in die Wohnung. »Erstmal raus aus dem Treppenhaus.«
Ich folge ihr ins Wohnzimmer, das ähnlich wie meins, zwar jede Sekunde auseinanderzubrechen scheint. Im Moment verschafft es mir allerdings ein beruhigendes Gefühl der Vertrautheit. Courtney zieht den Bettkasten der Couch auf, aus welchem sie lieblos eine Decke und ein Kissen nach oben schmeißt. taumelt sie zum Schlafzimmer.
»Erzähl mir morgen was passiert ich. Jetzt haue ich mich erstmal wieder auf's Ohr.«
»Danke...«, kann ich gerade noch loswerden, bevor Courtney winkend hinter der Schlafzimmertür verschwindet.
Die Reisetasche schmeiße ich in den abgefransten Sessel. Dann falle ich auf die Couch und rolle mich zusammen. An Schlaf ist nicht zu denken. Zur Ablenkung schalte ich den Fernseher ein – ganz leise, damit Courtney nicht gestört wird. Durch die Kanäle klappernd, bleibe ich bei den Nachrichten hängen. Gerade läuft eine Wiederholung eines Interviews mit der Sicherheitsministerin für innere Angelegenheiten.
»Wie wollen Sie gegen die neu aufblühende Wirtschaft des organisierten Verbrechens vorgehen?«, fragt die Reporterin. »In letzter Zeit häufen sich die oftmals tödlichen Vorfälle der verfeindeten Banden.«
Sie reden über Victor, huscht mir direkt durch den Kopf.
Die hohe Beamte überschlägt ihre Beine. »Die Stadt und die Polizei hat alles bestens im Griff. Momentan ermitteln wir direkt gegen die Köpfe dieser Gruppen.«
»Die Gerüchteküche brodelt. Es heißt, dass blanke Korruption die oberster Führungsriege dieser Stadt im Griff hat. Demzufolge soll die Regierung sogar mit den Clans gegen ein gutes Sümmchen zusammenarbeiten. Was sagen Sie dazu?«
Sichtlich unangenehm berührt, räuspert sich die Ministerin. »Gerüchte werden immer nur Gerüchte bleiben werden. Das stimmt natürlich nicht.«
»Aha...«, entweicht der Reporterin unprofessionell. Sie scheint an der Glaubwürdigkeit ihrer Gesprächspartnerin zu zweifeln. Mithilfe einer schmalen Fernbedienung schaltet sie den Bildschirm hinter ihnen ein. Darauf zu sehen sind Bilder eine Demonstration. Etwa dreihundert Menschen habe sich auf einer Straße versammelt, halten Schilder hoch und scheinen die postierten Polizisten vor ihnen anzuschreien. Dem angefügten Datum zufolge ist diese gerade mal zwei Wochen her. »Wie stehen Sie zu den aufkeimenden Auflehnungen dem Staat gegenüber? Wissen Sie, dass sich immer mehr Bewohner aus der unteren Einkommensklasse wünschen, dass die Mafia die Kontrolle über die Stadt übernimmt, wie es vor einigen Jahrzehnten der Fall war?«
Ihre feuchten Hände aneinander reibend, lacht die Ministerin nervös auf. »Das ist eine Minderheit. Leider macht Dummheit gefährlich. Wie bereits gesagt: Die Regierung hat alles im...«
Plötzlich unterbricht ein lautes Brüllen die Ministerin: »Wen nennen Sie hier dumm!?« Die Kamera schwenkt zur Zuschauertribüne, bei der ein Mann aufgesprungen ist. Alle Anwesenden drehen sich überrascht zu ihm. Wutentbrannt ballt er die Fäuste. »Vielleicht hab ich keine Protzkarre oder 'ne Villa, aber ich bin 'nen Scheiß Mensch mit Gefühlen, klar? Ich stehe dazu: Auch ich war auf der Demonstration.« Er verzieht angewidert das Gesicht, schüttelt den Kopf. »Und wissen Sie was? Ich habs genossen.« Die Menge beginnt entrüstet zu raunen, als der Mann auf die Treppe nach unten spuckt. »Als der Lassini Clan noch die Stadt geführt hat, war ich zwar erst acht gewesen, aber es war die beste Zeit meines Lebens gewesen! Fahren Sie dahin wo der Pfeffer wächst! Ich will die Führung der Mafia wieder!«
»Ja, was machen Sie schon?«. Auf einmal steht eine Frau aus den Reihen auf. »Seitdem Sie Sicherheitsministerin sind, hat sich die Situation nur verschlimmert!«
Plötzlich entbricht eine hitzige Debatte. Leute springen auf, brüllen durch das Studio, beschimpfen sich. Einige beginnen sogar, aufeinander loszugehen. Im purem Chaos versuchen Bodyguards die Reporterin sowie die Ministerin in Sicherheit zu bringen. Doch die Leute beginnen sie mit Schuhen, Essensresten oder ihren Getränken zu bewerfen, während sie zusammen in die Kabinen flüchten.
Dann unterbricht die Übertragung. Der Bildschirm flackert erst, bevor zurück ins Nachrichtenstudio geschalten wird. Der neue Moderator beurteilt die eben gezeigte Situation mit einigen Worten, bevor es mit den allgemeinen Neuigkeiten weitergeht.
Ich drehe mich auf den Rücken, starre gegen die bröselige Zimmerdecke. Dass diese Stadt unter der Mafia leidet, war mir vor meiner Begegnung mit Victor klar, aber dass sich die Situation so zuspitzt... Obwohl „leiden" das falsche Wort ist. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie die Leute Victor bewundern, hätte ich es möglicherweise nicht geglaubt. Und jetzt... liege ich doch auch nur in einer Bruchbude. Die Armut umgibt mich. Ich kann verstehen, dass man sich eine drastische Veränderung wünscht, die drastische Maßnahmen verlangt, wie die... Mafia.
Meine Augen schließend, frage ich mich, ob Victor wohl schon mitbekommen hat, dass ich nicht mehr bei ihm bin.
»Warum muss ich eigentlich fahren«, jammere ich, der Straße Richtung Stadtmitte folgend. Wir halten an der roten Ampel hinter einigen Autos. Die Kreuzung ist schon um fünf Uhr voll von Gedränge.
»Vielleicht weil ich dich bei mir übernachten lasse?«, erwidert Courtney zynisch. Sie sitzt hinter mir auf dem Gepäckträger des Fahrrads und zieht jetzt beleidigt an meiner Jacke. »Du schuldest mir noch eine Erklärung.«
»Kann ich die überspringen?«
Ein schmerzhaftes Schlagen gegen meine Schulter zeigt mir, dass Courtney mich da nicht aus der Schlinge lassen wird.
»Schon gut, schon gut... Hau' mich nicht.«
Die Ampel springt auf Grün. Sofort steige ich richtig auf das Fahrrad. Zwar versuche ich Gas zu geben, aber mit Courtney ist es um einiges schwerer voranzukommen.
»Puh...«, keuche ich mich abstrampelnd. »Hast du zugenommen?«
»Spinnst du?«, kreischt sie, begleitet von einem weiteren Schlag gegen meine arme Schulter. »Sag noch einmal sowas und ich schmeiß dich runter!«
»Schon gut, tut mir leid!«, versuche ich sie zu besänftigen. Wir biegen am alten Rathaus ab. Unwillkürlich erinnert mich dieser Ort an die Nachrichtenwiederholung von letzter Nacht. Vor wenigen Tagen hatte hier erst ein Kampf der verfeindeten Clans stattgefunden – mit großen Opfern.
Elliot war auch hier gewesen, fällt mir ein. Er hatte mir im Kaufhaus erzählt, dass er stolz darauf war, seine Familie beschützen zu können...
Mit einem Schlag reißt mich ein grölendes Hupen aus den Gedanken. Kaum trifft mein verträumter Blick wieder auf die Straße, sehe ich auch schon einen monströsen LKW vor mir. Mit aufgerissenen Augen reiße ich das Lenkrad herum, sodass wir gegen den Bordstein stoßen. Das Rad bleibt am Stein hängen. Mitsamt dem Fahrrad fallen wir auf den angelegten Rasen vor dem Fußgängerweg, während wir in der letzten Sekunde vom LKW verpasst werden.
»Scheiße...«, höre ich Courtney, die ihr Bein unter dem Gestell hervorzieht. Ihre Arbeitshose ist an den Knien aufgerissen. Darunter erkenne ich mehrere Schürfwunden. »Fuck, Jesse! Bist du nicht mehr ganz dich! Wir wären fast von diesem scheiß Wagen überrollt worden!« Obwohl einige Leute um uns herum stehenbleiben und neugierig schauen, hilft uns doch keiner. Courtney krabbelt zu mir heran und packt meinen Kragen. »Du stehst völlig neben dir, Mann!«
Erst sehe ich mit feuchten Augen auf meine aufgeschürften Hände und dann zu Courtney. »I-Ich weiß...«
Obwohl ihr wütendes Gesicht wirkt, als würde sie mich gerne gegen die nächste Hauswand klatschen, rappelt sie sich auf. Den Dreck von der Hose klopfend bestimmt sie: »Komm, ist jetzt egal. Dafür mache ich dich später zur Schnecke. Erstmal müssen wir zur Arbeit.
»Ich setze dich doch nur ab...« Ihr nach oben folgend, ziehe ich das Fahrrad hoch. Ich werfe den Schaulustigen einen bösen Blick zu, wodurch sie sich langsam wieder im Stadtleben zu verteilen beginnen.
»Hä, was? Du hast das vorhin ernst gemeint?« Bevor ich mich auf den Sattel setzen kann, reißt sie mir das Lenkrad brutal weg und verweist mich auf den Gepäckträger.
Ich deute mit beiden Händen meinen Oberkörper herab. »Siehst du Arbeitskleidung an mir? Ich kann nach heute nicht mehr zum Hotel kommen. Das wäre zu gefährlich.«
Courtney lässt verwirrt die Schultern hängen. »Wovon sprichst du? Hat das was mit deinem fluchtartigen Einzug bei mir zu tun?«
»Ja. Dafür bin ich dir auch eine Erklärung schuldig. Das weiß ich. Aber danach können wir uns nicht mehr sehen.«
»Was hast du vor?« Ihre Stimme überschlägst sich. Sie packt stürmisch den Ärmel meiner Jacke.
Sanft berühre ich ihre Hand. »Keine Angst. Es ist nicht das, was du gerade denkst. Ich habe nicht vor, mir etwas anzutun.«
»Aber was hast du dann vor?«
Resigniert schüttele ich den Kopf. »Das weiß ich jetzt noch nicht. Im Moment stehe ich völlig in der Schusslinie dreierlei Seiten. Wenn ich bei dir bleibe, wirst du ebenfalls unter Beschuss geraten.«
»Jesse Carter...«, beginnt ihre klagende Stimme. »Was hast du angerichtet?«
Ich gebe Courtney einen sachten Schubs zum Fahrrad. »Wir treffen uns nach deiner Schicht auf dem Kreidehügel. Dort werde ich dir alles erklären.«
»Wenn ich jetzt gehe, werde ich dich nie wiedersehen, oder?«, fragst sie mit geweiteten Augen.
»Doch. Ich gebe dir mein Wort, dass ich dort auf dich warten werde. Bevor ich dir nicht richtig gedankt habe, werde ich nicht einfach verschwinden.«
Courtney schluckt, blickt mich lange an, schätzt meine Glaubwürdigkeit ab. Dann steigt sie auf das Fahrrad und fährt los.
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