VIII
Aus großen Augen starre ich das Mädchen an. Es ist beinahe als hätte jemand einfach all meine Gedanken weggefegt. Leere, totale Schwärze in meinem Kopf. Meine Gedanken scheinen eingefroren zu sein. Das Dröhnen der Musik wird durch die angespannte Stimmung übertönt, es scheint als würden alle nur auf meine Reaktion warten.
Es ist ja nur ein Kuss.
Zwei Lippen auf zwei anderen, auf zwei völlig fremden. Speichelaustausch, Körperflüssigkeiten. Ein intimer Moment mit jemand völlig Fremden, vielleicht ein Neuanfang. Eine neue Entwicklung, ein Anfang etwas völlig unerwarteten, Erzwungenem. Vielleicht eine Änderung in meinem Leben. Vielleicht der von Flo erhoffte, neue Kontakt.
„Komm schon." Garry sieht mir in die Augen. Er sieht mich, aber ich nicht ihn. Ich sehe nur verschwommen. Sehe Reaktionen, verschiedene Ereignisse wie Filme ablaufen.
Mein Körper erhebt sich, meine Glieder bewegen sich. Es schaukelt, verschwimmt. Köpfe drehen sich, Augen schließen sich, aus bunt wird schwarz-weiß. Unerwartet verlässt ein Kichern meinen Mund, erreicht das Mädchen, welches zu mir aufsieht. Sie sieht auf zu mir, weil ich vor ihr stehe. Sie sieht auf zu mir, weil ich zu ihr gehe. Sie sieht auf zu mir, weil sie wartet. Sie sieht auf zu mir, weil sie etwas erwartet.
Ihre Augen sind so grün. Die Farbe so intensiv, so strahlend.
Mein Kopf nähert sich ihrem, meine Lippen, denen von ihr. Ihre Wärme umhüllt mich, ihr Duft verwirrt mich. Sie schließt die Augen, lässt mein Herz stillstehen, alles so viel wichtiger, ernster wirken, als es sein sollte.
Bevor ich bemerken kann, dass unsere Lippen sich berühren, ist der Moment schon wieder vorbei, ich auf schnellstem Wege zurück auf meinem Platz. Garry klatscht, sieht mich fast stolz an, klopft mir auf die Schultern. Kühl schmiegt sich die Flasche um meine Finger, schnell dreht sie sich im Kreis, wählt ein neues Opfer aus. Wahrheit ist die Antwort, wer war dein letzter Schwarm meine Frage.
Immer noch alles schwarz-weiß. So grau, so verschwommen. Hat sie mit diesem Kuss all meine Farbe genommen?
Der Raum dreht sich, ich dreh mich um. Torkelnd, torkle ich? Verlasse ich das Zimmer. Anders, als erwartet scheint sich niemand dafür zu interessieren, vielleicht konzentriere ich mich auch nur zu sehr darauf, nicht über meine Füße zu fallen, den Türrahmen zu streifen. Die Musik schlägt um, wird von schnell zu langsam, von fröhlich zu traurig. Menschen halten inne, werden still. Das Gewitter findet ein Ende, die Ruhe nach dem Sturm tritt ein.
Ich laufe weiter, blind mit geöffneten Augen. Gerade aus, um Menschen herum. Die Zeit steht still, Bewegungen frieren ein. Es kommt mir vor, als wäre ich allein. Allein auf diesem Planeten, irgendwie aus einem unerfindlichen Grund hierhergekommen. Hatte ich eine Mission, konnte sich nur noch mein Unterbewusstsein daran erinnern?
Wieder werde ich angestoßen, die Zeit läuft weiter, viel schneller als vorher. Tanzende Paare, eng umschlungen, sich im Takt der Musik wiegend. Unnatürlich schnell ziehen sie an mir vorbei, hinterlassen bei mir nur eine Veränderung meines Standbildes, ein kurzes Vorbeihuschen, gefolgt von einem Luftzug.
„Hey! Ich hab Ficken hier lass uns bitte anstoßen, auf diese kranke Party!" Ungenau erkenne ich Augen, braun, groß, liebevoll. Ein Mund öffnet und schließt sich, Grübchen blitzen auf, wiegen mich in Sicherheit. Eine Hand auf meiner Schulter, eine kurze Frage nach meinem Wohlbefinden. Wärme huscht meinen nackten Arm hinab, bleibt liegen auf meiner Hand. Der blonde Haarschopf drängt sich jetzt vollständig vor mich, lotst mich, führt mich. Weiches Sitzpolster schmiegt sich an meine enge Hose, die angenehme Wärme verlässt mich, wird ersetzt durch kalten Marmor einer Küchenplatte. Glas klirrt, Flüssigkeit plätschert, eine Stimme bringt Aufforderungen zum Ausdruck. Heiß fließt der erste Schluck meinen Hals hinab, weit lege ich meinen Kopf in den Nacken.
Wie ein erneuter Donnerschlag prallt leeres Shotglas auf Stein, das Gewitter setzt wieder ein. Erwacht aus kurzer Trance, verknüpft mein Gehirn mit Informationen, rechnet die momentane Lage aus. Der Gastgeber Sebii neben mir, in seiner Hand eine Flasche Likör, Ficken steht auf ihr.
2 wir trinken auf ihn, darauf, dass er Alkohol liebt.
3 wir trinken auf mich, ich wäre eine solch tolle Person.
4 wir trinken auf seine Eltern, darauf, dass sie gerade auf Hawaii am Strand liegen, von nichts eine Ahnung haben.
5 wir trinken auf die Party, dass sie so groß, so bunt, so wild, so frei ist.
6 wir trinken auf die Gäste, all die verschiedenen Menschen.
7 wir trinken auf die Stimmung, die in der Luft liegende Ausgelassenheit, den puren Spaß, die unbeschwerte Liebe.
8 wir trinken auf die Liebe, darauf, dass der Schnulzsong jetzt vorbei ist, sich liebende mit einem Kuss voneinander lösen.
9 wir trinken auf Freiheit, das Glück lieben zu können.
10 wir trinken nicht mehr. Übelkeit steigt in mir hoch, übernimmt die nach neuem Alkohol greifenden Hände, lässt sie auf meinen Schoß sinken.
„Heeey, du bist Maila, stimmt's? Ich hab schon so viel von dir gehört!", die Betrunkenheit der Person ist deutlich herauszuhören, die Ungeschicktheit mit welcher sie an die Küchenzeile stolpert gibt mir bei meiner Vermutung recht. Sie scheint neben mir zu stehen, sich in meinen Gedanken trotzdem zu drehen. Sie scheint zu reden, in meinen Gedanken ein sinnloses Lied zu singen. „Du bist wunderschön!" Gänsehaut überbringt mir die Nachricht berührt zu werden, schmerzvoll schließe ich die Augen. Die Berührung brennt auf meiner Haut, löst in meinem Kopf verwirrtes Dröhnen aus. „Du machst deine Kleidung völlig selbst?" Schwer wiegt das Kompliment in meinem Herzen, grob prallt es auf, hart schlägt es auf den Boden. „Deine Augen strahlen so viel Liebe aus. Huiiii, vielleicht hab ich zu viel getrunken?"
Ein Schleier legt sich über meine Augen, verschwommen, unscharf nehme ich Bewegungen vor mir wahr. Unruhe macht sich in meinem Magen breit, überreizt grummelt er, steigert mein Unbehagen.
Feuchte Lippen liegen unerwartet, plötzlich auf meinen, hinterlassen eine nasse Spur. Geschmack von Alkohol dringt zu mir, Bier und Wodka. Schneller Atem prallt gegen meine Haut, unangenehme Wärme schnellt mir entgegen, Hitze umhüllt mich. Scharfer Schmerz rast durch meinen Körper, mit ohrenbetäubendem Getöse krachen Zähne aufeinander.
„MOLLY!" Der Körper lässt ab von mir, wird nach hinten geschleudert, landet in den Armen eines Blonden. Sebii zerrt das Mädchen weg von mir, schimpft mit lauten Worten auf sie ein. Resigniert klammern sich meine Hände an die schutzgebende Platte, verdutzt starre ich ins Nichts, Verwirrung übernimmt mich. Wie in Trance schütten meine Hände frisches Wasser in ein Glas, mit jedem Schluck gewinne ich ein neues Stückchen meiner selbst zurück.
„Das war der schönste Kuss, meines Lebens." Die verschwörerische Stimme an meinem Ohr, lässt mich Gänsehaut bekommen. Mein Herz steht still, erneut weiß mein Kopf nicht was er will. Wirr schweben Gedanken durch den Raum, erreichen nicht ihr Ziel, wissen keinen Weg, orientierungsloses umhereilen. „Du bist so wunderschön! Glaubst du, wir haben einen gemeinsamen Freund, der uns gegeneinander vorstellt?", wird in meine Richtung gesäuselt, Nackenhaare stellen sich auf, Übelkeit kehrt zurück. Schwarze Haare kitzeln an meiner Wange, rosa lackierte Nägel streifen die meinen. War sie nicht eben noch aus dem Raum gezerrt worden? Hatte sich nicht Sebii um sie gekümmert? Lagen nicht vor einem winzigen Moment noch ihre Lippen auf meinen? War ich nicht vor kurzem noch bei mir zu Hause?
Wie Momentaufnahmen kommen mir ihre Bewegungen vor, sinnlos übertriebenen Gesten erreichen zu langsam mein Gehirn, senden in Schneckentempo nötige Signale. Gerade einen Schritt wegbewegt von ihr, steht sie wieder zwei neue vor mir, streichelt meinen Arm, bewundert meine Augen. Ihre Stimme viel zu hoch, schmerzend ist ihr Ton, laut all das Gesagte. Sie würde gerne mit mir tanzen gehen, sagt sie. Sie wolle mich ganz fest umarmen, meint sie. Sie würde mit mir bis an ihr Lebensende glücklich sein, lallt sie.
Kein einziges Wort meinerseits erreicht uns, ich bleibe stumm, mein Mund zu trocken. Vielleicht bin ich zu besoffen, hab zu viel vom Bier getrunken. Vielleicht ist mein Körper überfordert mit ihr, mit der Situation vor mir. Sehr wahrscheinlich aber, bekomm ich all das nur halb mit, bin verloren in meiner Welt, gefangen in Gedanken, versunken in Nachtmelancholie.
Das Leben ist ein Film. Jemand schrieb das Drehbuch, ich bin nur ein niemand, und spiele mich selbst. Ich bin ein einziges Buch inmitten einer unendlichen Bibliothek, eine winzige Drehbuchseite, nur ein paar mickrige Zeilen. An Armen und Beinen, hänge ich an Seilen, dirigiert von all den Leuten, der Macht einer riesigen Gesellschaft, die sich selbst auch Freiheit nennt. Aber frei sind nicht mal mehr die Vögel, denn da sind die Meere, in denen nur Plastik schwimmt. Frei sein, bedeutet ich sein um gehasst zu werden. Frei sein, bedeutet anders sein, um alleingelassen zu werden. Frei sein, bedeutet reden, um verspottet zu werden. Frei sein, bedeutet rennen, ohne die Wege zu kennen.
„Willst du mit mir tanzen? Komm Maila, wir gehen tanzen!" Hart ist ihr Griff um mein Handgelenk, lässt keine Wiederrede, keine Fluchtmöglichkeit zu. Unsanft zieht sie mich in ihre Richtung, schleift mich einige Meter mit sich, achtet nicht auf Hindernisse. Leise sind meine Protestschreie, hilflos meine Versuche mich zu wehren.
Gewitter tost in meinem inneren, Blitze zucken, Donner grollt. Jeder Schritt ein neues Feuer, ein verlorener Kampf, das Ende etwas nie Angefangenem.
„Hey, weißt du, wo Liam ist?" Braune Augen blicken in meine Richtung, wandern dann fragend von mir zu ihr und wieder zurück. Still bleibe ich stehen, schüttle den Kopf, versuche ohne Worte mit ihm zu reden. So viel, dass er Gästen Wünsche von den Augen ablesen kann, weiß auch mein betrunkenes Ich noch. Er scheint zu verstehen, will aber auch vielleicht einfach nur jemanden um sich haben, den er kennt. Ohne zu zögern nähert er sich mir, nimmt meine andere, freie Hand, wirft Molly einen einzig, intensiven Blick zu. Protestierendes Brummen ihrerseits, hilfloses Summen meinerseits. Der Druck verschwindet, lässt pure Erleichterung zu mir durch, bringt mich dazu in Zayns Armen zu versinken. Intensiv ist sein Duft. Nicht wie erwartet nach Zigaretten, Alkohol oder Partyschweiß. Nein, frisch, markant, minzig, vermischt mit dem typischen Geruch einer Lederjacke. Gleichmäßig pocht sein Herz, versetzt mich in eine Art Ruhe, welche mich genau im Richtigen Zeitpunkt auffängt. Seine Wärme versetzt mich in einen Schlummerzustand, der Stoff seines Shirts schmiegt sich an mich, unser Herzschlag wird eins. Sanft, entspannend fahren warme Finger meinen Rücken auf und ab, ziehen kleiner werdende Kreise.
Und plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung wird es mir klar, fällt mir wie Schuppen von den Augen. Kraft fließt in meine Muskeln, Energie übernimmt alkoholisierte Knochen. Das Gewitter ist nun direkt über mir, der letzte Blitzschlag schlägt ein, tut seine Wirkung, bringt Erkenntnis mit sich. Kindlich gute Laune stürzt auf mich ein, befreit atme ich, befreie mich aus rettenden Armen. Jemand hat mit einem Mal all meine Last von mir genommen, ich habe Verständnis bekommen, Bewusstsein erlangt.
Ungläubig kommen die neuen Worte über meine Lippen, finden scheu ihren Weg hinaus, gelangen vorsichtig nach draußen in die gefährliche, noch unentdeckte Welt. Langsam beginnen sie sich zu entfalten, zu wachsen, an Größe zu bekommen. In winzigen Schritten gedeihen sie, keimen auf, reifen heran. Allmählich nehmen sie Gestalt an, werden zu dem was sie sind, erreichen ihre volle Breite.
Dann beginnt es zu brennen. Der Blitzschlag ist vorbei, hinterlässt ein unüberschaubares Feld der Zerstörung. Was zuerst so leicht, so unbeschwert scheint, zeigt erst nach genauerem Hinsehen die Wahrheit. Flammen steigen empor, umgreifen Gemäuer, züngeln sich empor. Knisterndes Flackern, rauchendes Lodern. Lautstarkes Krachen kündigt Verwüstung an, zunehmende Hitze zeigen die Katastrophe, dann. Was so lange brauchte, um realisiert zu werden, kracht nun nach und nach ein, wird eingenommen von brennenden Flammen. Illusionen, stürzen ein, Geschichten verlieren ihre Bedeutung, Wahrheiten werden voller Lügen.
Sind ausgesprochene Worte automatisch wahre Gedanken?
Noch nie konnte ich Probleme offen aussprechen, mit anderen darüber reden. Für mich waren sie immer noch Hirngespinste, Täuschungen meiner Gedankenwelt. Unechte Gefühle, nicht bewiesene Tatsachen, übertriebene Schwierigkeiten. Ich wusste genau, würden aus Einbildungen Worte werden, wäre auch der Schmerz nicht länger zu entschuldigen. Er würde ohne Halt auf mich zu rasen, wie ein tonnenschwerer Meteorit einschlagen, wirkliches Leid verursachen.
Ist das eben Gesagte nun also eine bewiesene, sichere Wahrheit? Was ausgesprochen ist, kann nicht geleugnet werden. Was gesagt wurde, ist vorbei, aus Vergangenheit kann nichts ausradiert werden. Und ich bin nicht mal allein, wir sind immer noch zu zweit, auch er wird meine Worte gehört haben.
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