VII
Süßliche Flüssigkeit schwappt von einer Ecke des Bechers in die andere. Volle Konzentration auf die Bewegung, die Umgebung völlig ausgeblendet. Ich versuche nicht zu blinzeln, keinen Moment zu verpassen, um nichts zu verschütten. Rechts, links, rechts, links. Unbewusst passen sich meine Bewegungen an den Bass an. Unbemerkt wippt mein Körper mit, das Getränk sicher in meiner Hand. Die Musik stoppt, reißt mich aus meiner Trance. Mit ungeheurer Plötzlichkeit erreichen mich Geräusche, Gerüche, Bilder.
Dröhnend presst sich Musik durch winzige Löcher riesiger Boxen, schwebt durch alle Räume. Jemand muss es besonders toll gefunden haben, nicht nur den Bass zu hören, sondern ihn auch spüren zu können. Der Boden zittert, veranlasst auch Couchpotatos zum wild umher tanzen.
Der Versuch sich über die Musik hinweg unterhalten zu können scheitert, bleibt jedoch nicht unversucht: „Gib mir mal den Wodka." „Tanz mit mir." „Lass uns abhauen." „Auf ex, auf ex!"
Flaschen klirren, Becher knacksen, Türen knallen, Füße tanzen. Der Geruch von Alkohol, vermischt mit Mischgetränken, Zigarettenrauch und Schweiß hängt in allen Ecken. Bunte Lichter schnellen hin und her, alles gleicht sich dem Rhythmus an. Tanzende Körper, wippende Füße, klatschende Hände, blinkende Lichter. Als würden Noten den Takt vorgeben, alles sich nach ihnen richten, als wären sie der neue Herzschlag. Es dröhnt in meinen Ohren, zitternd hebe ich den Becher in meiner Hand, nippe an ihm. Alkohol rinnt meinen Rachen hinab, warmes Gefühl breitet sich in mir aus. Kurz vernebelt er mir die Sicht, ich hatte wohl doch nicht 50/50 gemischt. Mein Körper sackt nach hinten, lehnt sich an die verflieste Wand.
Zwei verschlungene Gestalten betreten den Raum, eine der beiden lacht, stellt leere Flaschen auf eine Küchenzeile. Die andere dreht den Wasserhahn auf, hält ein leeres Glas unter fließendes Wasser. Laut verkündet die Stimme, Wasser trinken würde helfen am nächsten Morgen keinen Kater, sondern nur ein Kätzchen zu haben, trinkt in drei riesigen Schlucken die durchsichtige Flüssigkeit aus. Die Köpfe der beiden nähern sich, Geräusche eines intensiven Kusses erfüllen das Zimmer. Ich gehe. Setze einen Fuß vor den anderen, nach jedem Schritt ein erneuter Schluck, der Becher leert sich. Kaum betrete ich den eigentlichen Ort des Geschehens, wird die Musik lauter, die Menschen schriller, der Geruch intensiver. Eine einzige auf und abspringende Masse. Nie hätte ich weder solch einen Andrang erwartet, noch gewusst so viele gleichaltrige in der Umgebung zu haben.
Am falschen Platz fühlend wandern meine Augen die Wand entlang, suchen ein ruhiges Plätzchen. Ich war von Flo vor circa zehn Minuten in dieses Haus gezogen worden. Sofort hatte sie einen Freund nach dem anderen umarmt, war schließlich in der feiernden Menge einfach untergegangen. Ich war ihr hinterhergestolpert, hatte versucht sie nicht zu verlieren. Das war deutlich gescheitert, immerhin gelangte ich irgendwie in die Küche, Alkopops zu mischen konnte ich. Es war mir zu laut. Zu viele Menschen. Zu viel gute Laune. Der Alkohol hatte noch nicht seine volle Wirkung erreicht, nicht ein Stückchen der guten Stimmung war auf mich übergesprungen. Ich hätte nicht auf Flo hören sollen, die mich vor einer Stunde wie eine Irre überredet hatte die Party zu betreten.
Sie meinte es würde mir gut tun. Sie dachte ich würde Spaß haben. Sie war sich sicher, neue Kontakte wären eine perfekte Ablenkung für meine schlechte Laune. Sie sagte, Alkohol und ich wären doch immer schon wie Zwillinge gewesen. Der eine konnte nicht ohne den anderen.
Heute war das irgendwie anders.
Unsanft bohrt sich ein Ellenbogen in meine Seite, ein gefüllter Becher mit Bier wird mir unter die Nase gehalten. Ohne zu zögern greife ich ihn mir, steure geradezu auf meine Entdeckung zu. Am Ende des Zimmers befindet sich eine Couch, zu meinem Glück ist sie leer. Von hier aus hat man trotz der Sicht auf umherspringende Beine einen guten Überblick. Erstmal alles abchecken, verstehen wie alle hier so ticken. Mein Bier ist schnell ausgetrunken, nach jedem Schluck betrachte ich ein neues Gesicht. Viele habe ich noch nie gesehen. Hinter einem Mädchen und einem Jungen mit lilagefärbten Haaren entdecke ich schwarze Haare, Rauch steigt empor. Die Art und Weise in welche die Haare in eine bestimmte Richtung liegen kommt mir bekannt vor, erst als ich mich etwas nach links lehne, erkenne ich tätowierte Arme. Lange Finger umgreifen eine selbstgedrehte Zigarette, bedächtig wird sie zu vollen Lippen geführt. Der Brustkorb des Rauchers hebt sich, Rauch gelangt in seine Lungen. Dann atmet er aus, umhüllt sich selbst in eine Wolke aus silbrigem Nebel. Zayn ist also wirklich gekommen.
Liam steht direkt vor ihm, scheint ihn zuzutexten. Seine rosa Lippen schließen sich, nur um sofort wieder geöffnet zu werden. In der Hand hält er, wie jeder andere in diesem Raum auch, einen roten Bierbecher, er sieht aus, als wäre er noch voll. Sein Gegenüber scheint glücklich zu sein. Gelassenheit strahlt er aus, als hätte er sein Leben lang nichts Anderes getan, als inmitten tanzender Menschen zu stehen um einem verrückten Jungen zuzuhören. Nur ein einziges Mal beschleicht mich der Verdacht, Zayn könnte kurz abdriften, abwesend sein.
Vielleicht hatte ein gesagtes Wort ihn zum Nachdenken gebracht, ihn an vergangenes erinnert. Vielleicht waren seine Gedanken nicht mehr auf Liams Erzählungen, sondern auf dessen Aussehen gekommen. Vielleicht hatte er für einen winzigen Moment seine Augen betrachtet, sich gefragt wie so viel Wärme und Geborgenheit in ihnen liegen könne. Vielleicht waren ihm seine großen Hände aufgefallen, welche sofort zur Stelle waren, war man dabei zu fallen. Vielleicht hatte er seine Mimik beobachtet. Die Falten auf seiner Stirn, das Zucken seiner Augenbrauen oder das Lächeln bewundert, welches dem Erlebten so viel Liebe beifügt. Vielleicht war sein Blick auf die Bekleidung meines besten Freundes gefallen. Auf das schlichte, weiße Shirt welches sich verspielt um seine Armmuskeln legte, seinen braunen Teint hervorhob. Vielleicht war er auch einfach nur abgelenkt gewesen, da er sich nach einem Aschenbecher umgesehen hatte. Vielleicht habe ich auch gerade wertvolle Lebenszeit damit verbraucht, über den Grund seiner Abwesenheit nachzudenken. Vielleicht gibt es gar keinen Grund dafür.
Wie aus dem Nichts wird meine Sicht verdeckt, eine Person drängt sich in mein Sichtfeld. Rote Haare, wild in alle Richtungen stehend ergänzen sich in verwirrender Perfektion, werden umrahmt von einem breiten Grinsen. Garry. Er streckt mir seine Hand entgegen, ohne zu zögern lege ich meine in seine. „Na, Mai. Musst du dir erstmal einen Überblick verschaffen?" Stumm nicke ich, umarme ihn kurz zur Begrüßung. Der rothaarige ist meine seelische Begleitung im Fach Latein, er ist derjenige, der mich in so manchen Situationen schon vor einer schlechten Note gerettet hat. „Wir spielen Truth or Dare. Genau du hast uns noch gefehlt! Gut, dass ich dich gefunden hab." Wie angewurzelt bleibe ich stehen, werfe ihm einen zweifelnden Blick zu. „Ich hasse dieses Spiel!" Er zuckt mit den Schultern, nimmt mir den leeren Becher aus der Hand um ihn durch einen vollen zu ersetzen. Ganz nach dem Motto, trink mehr und alles macht dir Spaß also.
Mehr oder weniger freiwillig werde ich in einen anderen Raum gezogen, auch hier versteht man fast sein eigenes Wort nicht mehr. Die Wand ist mit Bandpostern aller Art geschmückt, auf dem Boden stehen volle oder leere Flaschen gefüllt mit verschiedenstem Alkohol. Dafür, dass es nichts zu feiern gibt, wird aber groß gefeiert. In der Mitte sitzen angetrunkene Teenager in einer Kreisform auf dem Boden, drehen immer wieder eine leere Flasche, amüsieren sich köstlich, ganz egal wohin sie anschließend zeigt. In mir sträubt sich alles. Liebend gern würde ich mich einfach umdrehen, Hals über Kopf nach draußen in die laue Nacht stürmen. Nur weg von möglichen Peinlichkeiten, weg von der Möglichkeit gedemütigt zu werden. Der Druck als Loser abgestempelt zu werden drückt mich hinab auf den Boden, lässt mich neben Garry Platz nehmen. Gewisse Erleichterung macht sich in mir breit, als ich nur wenige bekannte Gesichter entdecke. Hoffentlich würde ich einfach nicht drankommen. Der Zufall mochte mich sowieso noch nie.
Und es sieht tatsächlich so aus, als würde das Schicksal mich mögen. Ungehindert bekomme ich ungewollte Küsse, strenggehütete Geheimnisse und schwererfüllbare Pflichten zu sehen. Anders wie all die anderen kann ich jedoch keine Sekunde genießen oder auch nur eine der Aufgaben feiern. Zu oft geht mir die Frage durch den Kopf, was genau eigentlich der Sinn des Ganzen sein soll. Die Tatsache, dieses Spiel nur mit Alkohol spielen zu können, verrät jedoch schon alles. Das Gefühl anderen Unwohlsein zu bereiten und ihnen dabei auch noch zuzusehen, sich darüber lustig zu machen, bringt mich beinahe um. Ohne nur eine Aufgabe lösen zu müssen, bin ich wohl diejenige mit dem meisten Alkoholkonsum, Mut muss ich mir also schon mal nicht mehr antrinken.
Ich zucke regelrecht zusammen, als der Flaschenhals dann auf mich zeigt. Garry neben mir kichert, irgendwo aus dem Raum wird laut „uhhhh", gerufen. Bitte nicht. Gequält setze ich ein Lächeln auf, straffe die Schultern. Ja nicht verängstigt rüberkommen. Die riechen sowas und nutzen es nur aus, um eine noch schlimmere Pflicht auszusuchen. „truth or dare?" Die grünen Augen des Mädchens blitzen, sofort fällt mir ihre Schönheit ins Auge. Sie sieht nett aus. Ob sie allerdings auch angetrunken und inmitten verrückter, größenwahnsinniger ihre Nettigkeit beibehält wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht, und das kann ich nur hoffen, habe ich einen Vorteil die Aufgabe von einem Mädchen gestellt zu bekommen. „dare", murmle ich, verstecke meine zitternden Hände hinter meinem Rücken. Kurz wird es lauter, Getuschel erfüllt das Zimmer. Jeder scheint über mögliche Aufgaben zu diskutieren, alle scheinen die anderen übertreffen zu wollen.
Ich seufze. Wo würde das noch hinführen? Wie von selbst greife ich nach meinem Becher, leere ihn bis auf den letzten Tropfen. Augen zu und durch. Anders würde ich den Abend sowieso nicht überleben. Irgendwann, und das wusste ich, wäre ich betrunken genug um ungehemmt alles genießen zu können. Wie lang es bis dahin noch ist, würde ich erst wissen, wenn ich schon mitten drin im Genießen wäre.
„Pflicht also", das Mädchen legt vor Anstrengung die Stirn in Falten, überlegt jedoch nur kurz „küss mich."
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