Kapitel 20: Gemeinsam
Immer höher stieg die Sonne über dem Nördlichen Niemandsland und wärmte die Berge mit ihren hellen Strahlen. Und „Pinch" rannte. Sie rannte, als würde ihr Leben davon abhängen. Doch es war nicht ganz so. Es war das Leben eines anderen.
Sie konnte deutlich mehr von ihrem Weg erkennen als beim letzten Mal, als sie hier entlang gekommen war. Taylor hatte sie in ziemlich hohem Tempo durch die Dunkelheit geführt, dennoch wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Das Lager konnte nicht mehr weit entfernt sein. Doch was sollte sie tun, wenn sie dort ankam? Ihre Möglichkeiten waren begrenzt, besonders gegen einen riesenhaften Kerl wie Whitmore. Ihr Betäubungsstrahler steckte im Halfter an ihrem Gürtel. Drei Schüsse waren noch übrig, nachdem sie Sykes mit einem Hagel von Laserstrahlen zur Strecke gebracht hatte. „Pinch" fröstelte, als sie daran dachte. Nicht nur, weil sie in diesem Augenblick vollkommen die Kontrolle über sich verloren hatte, sondern auch, weil Whitmore über drei Schüsse aus dieser Waffe wohl kaum mehr als nur müde lächeln würde.
Der Rest, den sie aufbieten konnte, war kläglich. Sie hatte eines der großen Messer von Sykes mitgenommen und damit das Messer ersetzt, was sie nach der Frau geworfen hatte. Und den Gegenstand aus dem Rucksack hatte sie mittlerweile ausgepackt und vorbereitet – unter den Augen der Kinder, die dabei erstaunt und etwas besorgt zugesehen hatten. Sie konnten sich kaum vorstellen, was „Pinch" damit bezweckte. Aber das war alles, was sie an Hilfsmitteln gegen Whitmore aufbieten konnte. Es blieben sonst nur ihre Schnelligkeit und ihr Verstand.
Bald war sie in Sichtweite der bewaldeten Hügel, hinter denen das Lager der Verbrecher lag. Sie konnte bereits die Büsche sehen, hinter denen sich Taylor in der Nacht versteckt hatte. Eine dünne Rauchfahne stieg dahinter auf, die Überreste des Lagerfeuers. Und sie hörte laute Schmerzensschreie. Es war eine jugendliche Stimme, die dort schrie – sie gehörte garantiert nicht Whitmore!
„Pinch" war am Ende – der Dauerlauf mit der schweren Ausrüstung hatte sie erschöpft, und sie hatte einen langen Weg hinter sich. Doch als sie die Schreie hörte, rannte sie noch schneller und zog ihre Waffe. Egal, was hinter diesen Büschen auf sie wartete, drei Schüsse waren immer noch besser als nichts.
Entschlossen näherte sie sich der Stelle, von der sie die Schreie hörte, und hatte bald die Büsche erreicht. Direkt daneben war ein großer Felsbrocken, der ihr einigermaßen Deckung gab – es war der selbe Felsbrocken, hinter dem sie sich auch in der Nacht hatte verstecken wollen. Sie erreichte ihn mit gezogener Waffe, kauerte sich dahinter und rang erschöpft nach Atem. Ihr Herz wummerte wie verrückt, die Geräusche um sie herum wurden durch das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren übertönt. Sie brauchte einen Augenblick, um ihre Kräfte zu sammeln und sich auf das gefasst zu machen, was auf der anderen Seite des Felsens geschah. Dann hob sie den Kopf aus der Deckung und riskierte einen Blick.
Auf das, was sie dort sah, war sie nicht gefasst. Es war schlimmer als alles, was sie sich hatte vorstellen können.
Whitmore war mit Jesper alleine im Lager, Johnson war nirgends zu sehen. Jesper lag am Boden, das Gesicht blutüberströmt und vor Schmerzen verzerrt, sich mit malträtierten Händen eine Wunde in seiner Seite haltend. Whitmore stand über ihm, schlug auf ihn ein und versetzte ihm gemeine Fußtritte. „Pinch" war entsetzt, und es tat ihr unendlich weh, Jesper so zu sehen. Meine Schuld, dachte sie. Er hat mich laufen lassen. Es ist meine Schuld, dass ihm das nun angetan wird. Sie fühlte erneut die Wut in sich hochkochen, die sie auch bei dem Kampf gegen Sykes verspürt hatte. Es war nicht so, dass sie von Jesper sonderlich angetan war – zumindest hätte sie sich das niemals eingestanden. Aber er hatte sie laufenlassen. Er hatte ihr geholfen. Sie schuldete ihm etwas. Und das, was er gerade durchmachen musste, hatte er nicht verdient. Niemand verdiente so etwas.
Sie richtete den Blick auf Whitmore, und ihr Gesicht wurde finster. Der große ekelhafte Kerl schien es regelrecht zu genießen, seinem eigenen Neffen dies anzutun. Das war es! Die Grenze dessen, was „Pinch" alles still ertragen konnte, war jetzt überschritten. Die warnende Flüsterstimme in ihrem Hinterkopf erinnerte sie daran, wie sie das auch über Sykes gedacht hatte, kurz bevor sie ausgerastet war. Sie warnte sie, dass sie dieses Gefühl niemals wieder erleben wollte. Aber in diesem Augenblick war sich „Pinch" nicht ganz sicher, ob es nicht doch angebracht war, das noch einmal zu fühlen. Ihr glaubt, ihr kommt damit durch, und niemand unternimmt etwas dagegen? Allein der Gedanke daran, dass es wahr sein konnte – dass Leute wie Whitmore oder Sykes tun konnten, was sie wollten, ohne dass ihnen jemand etwas anhaben konnten – brachte „Pinch" zur Weißglut. Ihr glaubt, ihr kommt ungestraft davon? Nicht dieses Mal!
Die Wut gab ihr neue Kraft. Kurzentschlossen sprang sie aus der Deckung, hob ihre Waffe und feuerte.
Niemand konnte so überrascht gewesen sein wie Whitmore in dem Augenblick, als der sirrende Energiestrahl ihm in die Seite fuhr, in dem Moment, als er zu einem erneuten Schlag gegen Jesper ausholte. Im Gegensatz zu Sykes wankte er nicht einmal. Doch die Mischung aus ungläubigem Entsetzen und maßloser Verwirrung darüber, was ihn da gerade erwischt hatte, machte es wieder wett. Einen kurzen Moment dachte "Pinch", dass Whitmore jetzt vielleicht doch umfallen würde, wenn er nur fest genug daran glaubte, es hätte sich um einen tödlichen Laserstrahl gehandelt. Sie hoffte es sogar. Doch zu ihrem Bedauern war Whitmore nicht ganz so einfältig. Als er sich an die Seite griff, wo der Strahl ihn getroffen hatte, und dort kein Loch im Körper bemerkte, richtete sich sein verwirrter Blick auf "Pinch".
„Zum Teufel!", knurrte er. „Wer bist'n du?" Genau wie Sykes erkannte er sie nicht.
"Pinch" schoss erneut und traf den großen Kerl in seiner linken Schulter. Dieses Mal ließ der Treffer ihn um einen kleinen Schritt zurücktaumeln. Bei Weitem nicht das, was sie erhofft hatte, aber besser als nichts. Und es gab ihr genug Zeit, den wichtigsten Schuss vorzubereiten. Die Waffe in beiden Händen, die Füße in festem Stand auf dem Boden, die Zielvorrichtung vor ihren Augen, und ihr Ziel direkt dahinter. So, wie Jackson es ihr beigebracht hatte. Ihr Finger krümmte sich, ihre Augen hatten das Ziel mit einskalter Entschlossenheit fixiert. Am Ende der Gleichung befand sich Whitmores kahlrasierter Schädel. Und sie drückte ab.
Der dritte Strahl traf ihn direkt zwischen die Augen. Whitmore wankte sichtbar. Benommen taumelte er auf der Stelle, griff sich mit unsicheren Bewegungen an die Stirn. Für einige Sekunden schien er nicht zu wissen, wo oben und unten war. Aber er fiel nicht. Als sich seine Benommenheit legte und er sein Gleichgewicht wiederfand, stand er aufrecht und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf "Pinch". Er war wütend, das konnte man ihm ansehen. Doch es steckte noch etwas Anderes dahinter: Er konnte einfach nicht glauben, was gerade geschehen war.
"Pinch" hielt die Waffe weiter auf ihn gerichtet. Dass sie leer war, konnte er ja nicht ahnen. „Lass ihn in Ruhe, du zu groß geratenes Stinktier!", fauchte sie ihn an. „Oder du bekommst es mit mir zu tun."
Als er ihre Stimme hörte, begriff auch Whitmore, wen er dort vor sich hatte. „Du?", fragte er, nun völlig fassungslos und fast wie ein Echo von Sykes, die genau so reagiert hatte. „Das is' doch nich' wahr!"
Jesper hatte bis zu diesem Moment mit angesehen, was hier passierte, und auch er konnte es nicht glauben. Mit blutüberströmtem, angeschwollenem Gesicht, mit letzter Kraft auf einen seiner Arme gestützt, starrte er "Pinch" an. „Das kannst du nicht machen!", stieß er hervor. „Er wird dich umbringen!"
Wahrscheinlich hatte er Recht. Für einen winzigen Moment war sich "Pinch" unsicher. Sie stand einem Berg von Muskeln gegenüber, der keine Scheu davor hatte, sie zu töten. Ein flüchtiger Blick streifte das Halfter an Whitmores breitem Gürtel, in dem eine Laserpistole steckte, die mit Sicherheit keine Betäubungsschüsse abgab. Wegzurennen war in diesem Augenblick keine Schande. Zumindest sagte ihr Verstand das.
Doch der Rest von ihr... „Weg von ihm!", schrie sie. „Na los! Oder ich jage dich zur Hölle."
Er begriff nicht so schnell wie andere. Aber irgendwann verstand auch Whitmore die Situation. „Mit dem Spielzeug da?" Seine Hand glitt zum Kolben seines eigenen Lasers – vorsichtig, da er immer noch vermutete, dass ihre Waffe geladen war. „Soll ich mal zeigen, wie richtige Männer sowas machen?"
"Pinch" hob drohend ihre Pistole, doch das machte auf den Riesen keinen Eindruck mehr. Als seine Handfläche den Kolben berührte, war ihr bewusst, dass sie verloren hatte. Sie blieb standhaft, die Waffe nach vorne gerichtet, doch ihre Augen suchten fieberhaft nach etwas, das sie nun retten würde...
Und in diesem Moment bekam sie einen Geistesblitz. Ihr junges Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen. Whitmore hatte seine Kraft und seine Waffe, mit der er sie mühelos umbringen konnte. Alle Chancen standen gegen sie. Und doch wusste sie in diesem Augenblick, dass sie ihn fertigmachen würde. Sie spürte es bis in die Zehenspitzen, und diese Zuversicht strahlte ihr heller aus den Augen als alle Laserstrahlen, die sie je aus ihrer Waffe abfeuern konnte. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte.
Whitmore sah ihr Lächeln, und wieder zögerte er verwirrt. Vielleicht, weil es auch ihm klar wurde, dass hier etwas gegen ihn lief, obwohl er eindeutig die Oberhand besaß. Doch schließlich beschloss er, seine Zweifel beiseite zu räumen. Ohne weiteres Nachdenken riss er die Waffe aus dem Halfter.
In diesem Augenblick rannte „Pinch" los. Dabei ließ sie ihre Waffe fallen.
Sie rannte jedoch nicht weg. Sie rannte schnell genug, dass sie dem ersten tödlichen Schuss aus Whitmores Pistole mühelos ausweichen konnte, und umkreiste das Lager in einem großen Bogen. Ein weiterer Schuss löste sich, der Strahl schlug funkensprühend in den Stamm des Baumes ein, unter dem Vera ihre furchtbare Nacht verbracht hatte. "Pinch" schlug einen Haken, bewegte sich nun in äußerstem Tempo auf die Mitte des Lagers zu. Im Kopf überschlug sie ihre Chancen und die Möglichkeiten, die Whitmore noch hatte. Zwei Schüsse sind raus – bleiben noch acht. Direkt vor ihr lag das Lagerfeuer, an dem einige Stücke Holz noch schwach brannten. Dahinter die Zelte. Sie musste es geschickt anstellen, wenn sie Erfolg haben wollte...
Der dritte Schuss fiel. Dieses Mal zu tief. Knapp einen Meter von "Pinch" entfernt schlug er in den Boden ein und ließ Erde und Stein zerplatzen.
"Pinch" erreichte das Lagerfeuer und stürmte hindurch. Mit einem Fußtritt beförderte sie einige der brennenden Holzstücke in die Zelte hinein. Doch sie wurde nicht langsamer. Während die Holzstücke dicht an der Zeltwand landeten, und diese unter den Flammen in Sekunden erst braun, dann schwarz wurde, stürmte sie weiter durch das Lager, auf der Suche nach weiteren Stellen, an denen sie Chaos anrichten konnte. Die vierte Laserstrahl fauchte, aber auch dieser verfehlte sie.
„Verdammt nochmal!", brüllte Whitmore. „Bleib steh'n, Rotzlöffel!"
„Pinch" rannte immer noch. Denn dieses Mal, das wusste sie, ging es wirklich um ihr Leben. Neben einem der anderen Zelte war eine Ansammlung von Kochgeschirr und Dosen mit Vorräten aufgestapelt. Sie trampelte direkt hindurch, stieß metallene Töpfe und Pfannen zur Seite und brachte alles durcheinander, ohne langsamer zu werden. Das Chaos, das sie dann hinter sich zurückließ, würde ihr im Kampf nur bedingt helfen – aber es waren eindeutige Spuren für die Söldner und jeden anderen, der hierher kam, um die Sache zu untersuchen.
„Jetzt reicht's aber..." Als sie die geknurrten Worte von Whitmore hörte, drehte „Pinch" kurz den Kopf in seine Richtung und sah, dass er seine Pistole nun in beide Hände nahm, um sorgfältiger zu zielen. Mit Erschrecken wurde ihr klar, dass sein nächster Schuss sie nicht verfehlen würde, egal, wie schnell sie rannte. Sie schlug einen erneuten Haken, bei dem sie beinahe über ihre eigenen Füße stolperte, in der Hoffnung, dass er es zu spät merkte und wieder einen Schuss versemmelte. Doch dem war nicht so. Grimmig blickte Whitmore über das Visier seiner Waffe hinweg und wartete auf einen günstigen Moment. Und „Pinch" gingen die Ideen aus.
Doch der Moment kam nie. Plötzlich stürzte sich etwas von der Seite auf Whitmore. „Du Mistkerl!", brüllte Jesper, seine Stimme überschlug sich dabei. Mit aller Kraft klammerte er sich an seinen Onkel und versuchte, ihm die Waffe zu entreißen.
„Was... Spinnst du?" Whitmore war zu überrascht, um wirklich wütend zu sein, und obwohl er um ein Vielfaches stärker war als Jesper, gelang es ihm nicht, den Jungen abzuschütteln. Dann bekam Jesper die Waffe zu fassen und drückte Whitmores Finger auf den Abzug. Der fünfte Strahl löste sich, bohrte sich in den Erdboden direkt vor ihnen und ließ Erde durch die Gegend spritzen.
„Pinch", die bei dem Anblick kurz stehen geblieben war, rang nach Atem und starrte die Szene mit immer größer werdendem Entsetzen an. Was zur Hölle machst du da?, wollte sie schreien. Eines war klar: Ihr Plan war zum Teufel. Und sie musste dringend etwas unternehmen, sonst war die Rettungsaktion völlig umsonst. Doch was sollte sie jetzt tun?
Aufhören zu denken! Die Stimme in ihrem Kopf schrie förmlich. Setz deinen Hintern in Bewegung und mach was!
Schuss Nummer Sechs sprengte weitere Erde aus dem Boden, doch langsam gewann Whitmore die Oberhand zurück. Trotz seiner verzweifelten, wenn auch heldenhaften Versuche schaffte Jesper es nicht, sich weiterhin an ihm festzuhalten, und auch die Waffe gelangte aus seiner Reichweite, als Whitmore sich wie ein tollwütiger Bär schüttelte. Jesper versuchte, sich mit seinen Beinen anzuklammern, aber er war so schwer verletzt, dass sein Klammergriff sich fast augenblicklich löste. Dann fiel er zu Boden, und Whitmore kämpfte sich endgültig frei. „Verdammter Lümmel!", brüllte er. „Warte nur, bis ich..."
Weiter kam er nicht. Ein kleiner Fuß in einem stabilen Wanderstiefel traf ihn wuchtig vor sein linkes Schienbein. Whitmores Worte endeten in einem schmerzhaften Aufheulen, und ohne zu überlegen, krümmte er sich und tastete mit einer Hand nach seinem Bein, während die andere immer noch die Waffe hielt. Seinen Kopf senkte er dabei erheblich – tief genug für „Pinchs" Reichweite.
Jesper kam wieder auf die Beine und warf sich mit einem letzten verzweifelten Versuch auf die Waffe in Whitmores Hand.
„Pinch" drehte sich auf Whitmores anderer Seite um, holte aus und schmetterte ihm mit aller Gewalt ihren Ellenbogen gegen die Wange.
Das Zelt explodierte.
In gewisser Weise musste Whitmore ja damit gerechnet haben, dass die beiden Jugendlichen ihn mit aller Kraft, die sie hatten, bekämpften, und tatsächlich waren die Angriffe von beiden Seiten keine wirkliche Überraschung für ihn. Doch dass das Zelt mit einem lauten Knall in die Luft flog, und brennende Flüssigkeit in mehrere Richtungen spritzte, das schockierte ihn in diesem Moment gewaltig. So gewaltig, dass „Pinch" einen zweiten Treffer mit ihrem Ellenbogen landete und Jesper es tatsächlich schaffte, Whitmores Hand so sehr zuzusetzen, dass die Waffe herunterfiel. Erst dann reagierte der große Kerl, beförderte erst Jesper mit einem kräftigen Fußtritt zu Boden, dann packte er „Pinch" am Kragen ihrer Jacke und warf sie. Sie flog in hohem Bogen über das Lager und stürzte mindestens fünf Meter entfernt zu Boden. Der Aufprall war so hart, dass sie benommen liegenblieb und sich fragte, ob sie sich dabei etwas gebrochen hatte.
Ein weiterer Knall ertönte, und eine erneute Feuerwolke stieg aus den Überresten des Zeltes auf. Whitmore starrte voll ungläubigen Entsetzens darauf. „Das war'n meine Vorräte", murmelte er entgeistert. „Was hast du da angerichtet, du Mistkröte?"
„Pinch" richtete mühselig den Kopf auf. Doch als sie den großen Kerl ansah, schaffte sie es, ein schwaches Lächeln zu zeigen. „Ich habe gerade allen Söldnern im Umkreis verraten, wo du bist, du dreckiger Halunke."
Whitmore starrte sie an. Auch er hatte Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass sie das gleiche Mädchen war, das ihm vor zwei Nächten begegnet war. Doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und zeigte das volle Ausmaß seines Zorns. Wer auch immer sie war, es war ihm nun egal. Mit schweren, bedrohlichen Schritten stapfte er auf sie zu. Sie hatte keine Zeit, sich hochzurappeln und zu entkommen, bevor er bei ihr war und sie erneut am Kragen packte. „Eigentlich wollt' ich dich am Leben lassen...", knurrte er sie an. Sein widerwärtiger Atem blies ihr dabei ins Gesicht, und „Pinch" wandte sich angeekelt von ihm ab. Kurz fragte sie sich, ob es vielleicht einen Vorteil brächte, wenn sie ihn vollkotzte. „Aber weißte was? Ich glaub', es würd' viel mehr Spaß machen, dich umzulegen, während mein missratener Neffe zugucken muss."
„Nein!", schrie Jesper voller Panik. „Tu es nicht!" Er schien noch verängstigter zu sein als vorher, als er selber Opfer dieses Kerls war. Fast so, als würde ihm das Leben von „Pinch" mehr bedeuten als sein eigenes. „Pinch" fand diese Vorstellung... eigenartig, um es milde auszudrücken.
Sie ließ sich von dieser Drohung jedoch keineswegs einschüchtern. „Wenn du meinst", stöhnte sie und verzog angewidert das Gesicht, als sie eine neue Wolke von Whitmores Mundgeruch einatmete. „Aber tu der Galaxis einen Gefallen und putz dir die Zähne, Mann!"
Anscheinend hatte sie damit einen Nerv getroffen. Es blitzte zornig in Whitmores Augen, und ohne Zögern hob er seine freie Hand und verpasste ihr eine gewaltige Ohrfeige. Der Knall, als seine Handfläche ihr Gesicht traf, klang für sie lauter als die Explosion des Zeltes, ja fast lauter als die Explosion der Tunnel vorhin. Ihr Kopf ruckte zur Seite, als wollte er ihr von den Schultern fliegen. Es tat nicht weh – nicht in der ersten Sekunde. Dafür war sie viel zu benommen. Doch dann begann ihre Wange zu glühen und zu brennen. Zudem war ihre Lippe aufgeplatzt, und sie schmeckte salziges Blut in ihrem Mund.
Als die Benommenheit nachließ und sie wieder einigermaßen klar sehen konnte, blickte sie Whitmore störrisch ins Gesicht. Sie grinste, was ihr mit der angeschlagenen Lippe ein gespenstisches Aussehen verlieh. „Ist das alles, was du kannst?", fragte sie hämisch. Sie zeigte keinerlei Furcht. Sie empfand auch keine. Was Whitmore hier tat, war niederträchtig und verachtenswert. Er mochte stärker als sie sein – viel stärker, wie sie sich selbst eingestehen musste. Sogar Igor hätte bei ihm im Kampf Mann gegen Mann schlechte Karten gehabt. Aber seine Stärke für mehr einzusetzen als dafür, auf Schwächere einzudreschen, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen.
Johnson hätte dich nicht alleine lassen sollen, dachte sie bei sich. Dann hättest du noch eine Chance gehabt.
„Lass sie in Ruhe, du mieses Schwein!", schrie Jesper, völlig außer sich. Er lag nach dem Fußtritt immer noch am Boden und hatte Mühe, wieder hochzukommen. Doch seine Schreie und seine Versuche, „Pinch" zu beschützen, gingen ihr langsam auf die Nerven.
„Halt dich da raus, Jesper!", rief sie ihm zu, energisch und wütend, ohne den Blick von Whitmore abzuwenden. „Das hier ist eine Sache zwischen Erwachsenen."
Whitmore zog die Augenbrauen hoch. „Du hältst dich für erwachsen? Im Ernst?"
Sie hatte ihn fast soweit. Sie musste nur noch ein wenig nachhaken. Innerlich machte sie sich auf das gefasst, was als Nächstes folgen würde. Dann schleuderte sie ihm die nächste Beleidigung frontal in seine Visage. „Im Gegensatz zu dir weiß ich wenigstens, wie man sich wäscht..."
Whitmore holte aus und schlug wieder zu, dieses Mal mit dem Handrücken. Aber auch wenn „Pinch" darauf vorbereitet war, der Schlag war so heftig wie der erste. Die nächste Gehirnerschütterung ist gleich soweit, dachte sie sich. Immerhin, dieses Mal blieben wenigstens ihre Lippen unbeschadet. Seine Augen waren voller Hass und wandten sich kein bisschen von ihrem Gesicht ab. So konnte sie mit ihrer linken Hand nach ihrem Gürtel tasten, ohne dass er es bemerkte... „Das ist gemein", meinte sie in gespielt mauligem Tonfall. „Wenn ich gleich ohnmächtig werde, dann weiß ich nicht einmal, ob das von deinen Ohrfeigen kommt, oder von deinem Gestank!"
Wieder holte Whitmore zum Schlag aus, um sie dafür zu strafen. „Pinch" sah, wie sich die Hand auf Höhe ihres Gesichtes hob. Gleich ist es soweit...
Als er zuschlug, riss sie ihren linken Arm hoch. Die Handfläche erreichte ihr Gesicht nie. Stattdessen traf sie auf die Spitze von Sykes' Kampfmesser, welches „Pinch" in diesem Augenblick zwischen sie und ihr Gesicht hielt, und rammte sich selbst ungebremst bis zum Heft auf die Klinge.
Whitmore heulte auf. Sein wildes, schmerzerfülltes Geheule hallte über die ganze Ebene und in den Bergen wider. Er ließ „Pinch" in diesem Augenblick los, und sie fiel wieder zu Boden, immerhin einen halben Meter tief. Dabei ließ sie das Messer los, das nun fest in Whitmores Hand steckte. Unsanft kam sie unten auf, landete schon wieder auf ihrem Hintern, blieb aber dieses Mal aufrecht sitzen und sah nach oben. Whitmore schien sie völlig vergessen zu haben – er jaulte wie ein verwundeter Wolf und hielt sich die durchbohrte Hand, während ihm Tränen in den Augen standen. Gut so, dachte „Pinch" mit enormer Genugtuung. Das kommt davon, wenn man Kindern ins Gesicht schlägt. Karma kann auch richtig fies sein. Sie tastete nach ihrer verletzten Lippe und betrachtete das rot schimmernde Blut auf ihren Fingerspitzen. Noch nie hatte ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Wenn es nach ihr ging, würde es auch niemals wieder jemand wagen.
„Vera!", rief Jesper. „Komm weg da! Schnell!" Sie sah zu ihm hinüber und stockte. Er lag noch immer am Boden. Doch dieses Mal hatte er die Waffe aufgehoben, die sein Onkel fallengelassen hatte. Und richtete sie nun auf ihn.
Auch wenn er vor Schmerzen den Verstand zu verlieren schien, bemerkte Whitmore dies. Er drehte sich langsam um, sich noch immer die verletzte Hand haltend. Das Messer herauszuziehen schaffte er jedoch nicht. „Vergiss es, Junge", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das Ding is' leer. Ich hab' die letzten sechs Schuss abgefeuert."
Er ließ „Pinch" einfach auf dem Boden liegen und stapfte mit schnellen Schritten auf Jesper zu, der nun unsicher auf die Waffe blickte. Als er ihr den Rücken zudrehte, fiel „Pinch" etwas ein: der Gegenstand, den sie bei sich trug... Sie griff unter ihre Kampfjacke. Hoffentlich funktioniert es noch... „Er blufft nur", rief sie Jesper alarmiert zu. „Das ist ein Trick. Schieß!"
Jesper tat es nicht. Nicht, bevor Whitmore über ihm war und ihm die Waffe aus der Hand trat. Der Laser flog in hohem Bogen davon, weit außerhalb der Reichweite von Jesper oder „Pinch". Der große Kerl beugte sich zum Boden, packte seinen Neffen mit einer Hand und begann, ihn hochzuzerren. „Ich hab' den Kanal jetzt endgültig voll", grollte Whitmore wütend. Jesper leistete nun keinen Widerstand mehr. Er stöhnte immer noch, aber war zu erledigt, um etwas gegen seinen Onkel zu unternehmen. Und mit Erschrecken wurde „Pinch" klar, dass in der Richtung, in die sich Whitmore langsam bewegte, der Berg zu Ende war. Die Klippe, mit der er ihr schon vorher gedroht hatte, war nur wenige Meter vom Lager entfernt, und der Abgrund dahinter war beängstigend tief.
Ihre Hand tastete unter der Jacke, bevor sie endlich fand, wonach sie gesucht hatte. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Riese mit Jesper den Klippenrand erreicht hatte. „Hey!", schrie sie zu ihnen herüber. „Wir sind noch nicht fertig hier."
„Halt deinen dummen Schnabel, Drecksgör'!", brüllte Whitmore zurück. „Du kriegst noch dein Fett weg, das versprech' ich dir."
Ob er es ihr übelnahm, dass sie ihm das Messer in die Hand gerammt hatte? „Pinch" hätte gegrinst, wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre. Doch sie musste unbedingt verhindern, dass er seinen Plan ausführte und Jesper hinunterstieß. Da fiel ihr etwas ein... „Genau das hat Sykes auch behauptet", rief sie Whitmore herausfordernd zu. „Nicht, dass es ihr viel gebracht hätte."
Es wirkte. Whitmore hielt inne und sah sie zweifelnd an. „Quatsch!", rief er, als er begriff, was sie da sagte. „Das is' Quatsch, was du da redest. Sykes lässt sich von so Gör'n wie dir nich' besiegen."
„Ach ja?" „Pinch" stand vom Boden auf. „Dann erklär mir mal, wo ich das Messer her habe!"
Ihre Jacke war nun halb offen, der Gegenstand darunter bereit... Whitmore drehte sich vollends zu ihr um, ließ Jesper am Klippenrand liegen, der sich kaum noch bewegte. Doch während Whitmore die Messerklinge in seiner Hand genauer betrachtete, blickte sich „Pinch" suchend um. Eine Sache fehlte noch, mit der sie es zu Ende bringen konnte... Sie fand sie, nur zwei Schritte entfernt auf dem Boden. Diese Schritte machte sie in dem Augenblick, als Whitmore das Messer erkannte – und verstand, dass sie die Wahrheit sagte. „Zum Teufel, wie...?" Er bemühte sich, seine Fassung zu bewahren. „Sie is' eh nich' ganz dicht", redete er sich laut ein. „Is' wohl nich' schwer, sie umzuhau'n."
„Wirklich?" „Pinch" schnaubte. „Und was ist mit dir? Kein Hirn, nur Muskeln. Und genau wie Sykes drischst du gerne auf Leute ein, die sich nicht wehren können. Eins will ich dir sagen, du ekliger Haufen Pferdemist, den nicht mal die Dawn Serpents anheuern würden: Du glaubst, ich bin wegen Jesper hier? Er bedeutet mir nichts." Sie hielt kurz inne, damit Whitmore ihren Worten auch wirklich folgen konnte. „Du bist der Grund, weshalb ich hier bin, du riesiger stinkender Müllhaufen!"
Whitmore war vielleicht nicht der Hellste, aber er begriff, was sie da sagte. „Du willst mich alle machen?", fragte er gröhlend. „Du? Mich? Im Ernst?" Mit einem kurzen Seitenblick zu Jesper, um sicher zu gehen, dass er nichts Dummes versuchte, trat er einen Schritt auf sie zu. „Dann komm her und versuch es doch, du halbe Portion! Zeig mir, was du drauf hast! Na los!"
Mit Vergnügen! „Pinch" hob den Gegenstand vom Boden auf – einen dicken Ast, der für sie die richtigen Ausmaße eines kräftigen Knüppels hatte. Dann begann sie, auf ihn zuzulaufen. Erst langsam, dann immer schneller. Whitmore grinste höhnisch. „Na los, komm schon!", brüllte er ihr entgegen. „Zeig es mir, Kleine! Mach schon!"
„Pinchs" Schritte beschleunigten sich immer mehr, den Knüppel in einer Hand, aber bereit, damit zuzuschlagen. Sie kam vom Laufen ins Rennen, dann ins Stürmen. Der Abstand zwischen ihr und ihrem riesenhaften Gegner wurde immer kleiner. Sie sah, wie Whitmore seine unverletzte Hand zur Faust ballte, sah, wie Jesper ihren Angriff entsetzt beobachtete und machtlos war, ihr in irgendeiner Form zu helfen. Sie sah, wie er die ganze Szene betrachtete – ein unaufhaltsames Objekt, das auf ein unbewegliches Hindernis zuraste, und niemand würde den Ausgang vorhersehen können. Genau wie Whitmore musste Jesper eine Vorstellung davon haben, was passierte, wenn sie aufeinander trafen, und diese Vorstellung gefiel ihm nicht. Denn was er nur sehen konnte, war, wie das Mädchen, das er gefüttert und mit dem er geredet hatte – das Mädchen, das er hatte laufen lassen, weil sie ihm im Gegensatz zu allen anderen Personen in seinem Leben doch etwas bedeutete – ungebremst und ohne Zögern in ihr eigenes Verderben rannte. Auch Whitmore musste diesen Eindruck haben – er grinste nur breit und wartete ab. Völlig arglos.
Doch bevor es geschah, hatte „Pinch" noch ein anderes Gefühl, was Jesper anging. Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Eindruck, als ob er tatsächlich verstand... als ob er wusste, was sie plante, oder es zumindest fühlte, dass in den nächsten Sekunden mehr geschehen würde als das, was ihm seine Augen prophezeiten. Als hätte er das gleiche Gefühl, das „Pinch" zu Beginn des Kampfes gehabt hatte: Sie würde Whitmore fertig machen, egal, wie schlecht die Chancen für sie standen, und sie konnte sich dessen absolut sicher sein. Er spürte vielleicht etwas von dieser Zuversicht, die sie ausstrahlte, auch wenn diese momentan unter dem Zorn, den sie Whitmore gegenüber empfand, fast gänzlich verschwand. Nein, in diesem kurzen Augenblick schien Jesper die Wahrheit zu begreifen – in dem Moment, in dem „Pinch" Whitmore erreichen würde, konnte genauso gut das gesamte Universum explodieren.
„Pinchs" Kampfjacke öffnete sich nun ganz, als sie drei Meter von Whitmore entfernt war. „Pinch" wünschte sich fast, dieser Moment würde ewig andauern. Damit sie den verdutzten Gesichtsausdruck von Whitmore genießen und sich darin sonnen könnte.
Dann riss sie an dem Verschluss der Sprengweste.
Sie selbst merkte kaum etwas davon. Die Blendgranaten blitzten auf, entfalteten ihre verheerende Wirkung aber nur nach vorne in Whitmores Richtung. Auch der Knall, den die Weste von sich gab, als die Ladung zündete, wurde als Schallwelle in alle Richtungen geworfen, während sie selbst davon verschont blieb. Ihr tat Jesper leid, der ebenfalls von der Detonation der Blendgranaten betroffen war, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Wichtig war, dass es Whitmore mitten ins Gesicht traf. Jeder Söldner, der an der Akademie die Prüfung vermasselt und die Explosion der Blendgranaten abbekommen hatte, hatte seine Orientierung und die Beherrschung all seiner Sinne verloren. Und der riesenhafte Schurke war da keine Ausnahme.
„Aaaargh!", brüllte er auf und schlug sich die unverletzte Hand vors Gesicht. Beinahe hätte er auch die Hand benutzt, in der das Messer steckte. Leider bremste er sich in diesem Augenblick.
Das spielte keine Rolle. Als die Weste explodiert war, hatte „Pinch" genug Zeit, ihren Knüppel in beide Hände zu nehmen und auszuholen. Dann schlug sie mit voller Härte zu.
Der erste Treffer ging in Whitmores rechte Kniekehle und ließ ihn einknicken. Unfähig, sich überhaupt dagegen zu wehren, kassierte er kurz darauf den zweiten Treffer vor die Brust. „Pinch" schwang den Knüppel mit aller Kraft, die sie aufbieten konnte, und schlug immer wieder zu. Sie traf die verletzte Hand, was Whitmores panischen Schrei in ein gequältes, schmerzerfülltes Heulen verwandelte und ihn noch mehr zusammensacken ließ. Dann prallte der Ast auf seinen Kopf. Erst von links, dann von rechts. Er versuchte, auf die Beine zu kommen und vor den Angriffen zu fliehen, da er nicht länger wagte, sich mit den Händen zu wehren. Doch dadurch erreichte er nur, dass er bei den Schlägen durch „Pinch" und ihren Knüppel Schritt für Schritt rückwärts taumelte. In Richtung des Abgrunds.
Jeder Schlag, der ihn auf die Kante zutrieb, wurde begleitet von einem wütenden Schrei von „Pinch", der ihr für jeden Schlag mehr Kraft zu geben schien. „Nenn. Mich. Nicht. Klein!"
Und mit dem letzten Schlag, den sie frontal in Whitmores Gesicht pfefferte, verlor der große Schurke den Halt... und stürzte schreiend ab. Sein Schrei endete in einem lauten, unangenehm klingenden Plumpsen und erstarb. Danach säuselte nur der Wind um die Klippen. Und neben „Pinch" lag Jesper am Boden und atmete schwer.
Ihr rasendes Herz beruhigte sich langsam wieder. Das wurde bei ihr allmählich zu einem Dauerzustand. Und sie spürte erneut, wie sie zitterte. Den Knüppel ließ sie achtlos fallen. Doch sie selbst blieb für einen Augenblick an der Klippe stehen, regungslos, den Blick in die Ferne gerichtet, ohne richtig zu sehen. Ihre Gedanken tobten durch ihren Kopf, ohne ihr einen einzigen klaren Moment zu geben, während sie an ihrem eigenen schnellen Atem merkte, wie erschöpft sie nun eigentlich war. Was hier gerade passiert war, hatte ihr eine Menge abverlangt. Erst nachdem das Zittern in ihren Armen und das Wummern in ihrer Brust etwas nachgelassen hatte, fand sie den Mut, über den Rand der Klippe nach unten zu blicken.
Der Anblick war nicht schön. Dennoch war sie erleichtert. Whitmore war mehrere Meter tief gefallen und auf felsigem Untergrund gelandet. Jeden normalen Menschen hätte dieser Sturz wahrscheinlich getötet – Jesper hätte nicht die geringste Chance gehabt. Doch Whitmore war kein normaler Mensch. Er blickte zu ihr auf, sein Mund verzog sich, als er etwas sagen wollte. Doch er brachte kein einziges Wort hervor. Sich zu bewegen kam für ihn überhaupt nicht in Frage – seine Arme und Beine waren wie die Glieder einer schlaffen Puppe zwischen den Felsen ausgebreitet, und auch wenn seine Finger sichtlich zuckten, würde er nicht mehr schaffen als das. Er starrte nach oben, mit einem von Schmerzen überschatteten Gesichtsausdruck, aus dem sie erkennen konnte, wie sehr ihn seine eigene Niederlage beschämte. So lange sie ihn ansah, atmete er jedenfalls weiter, gab ein lautes Stöhnen von sich, ohne jedoch ein hörbares Wort zu sagen. Da wusste sie, er würde durchkommen. Das beruhigte sie.
Sie warf einen Blick auf Jesper. Er sah nicht viel besser aus als sein Onkel in diesem Augenblick. Aber zumindest brachte er ein schwaches Lächeln zustande. „Du hast es geschafft", flüsterte er, als wolle er es immer noch nicht glauben.
„Pinch" nickte. Sie sagte aber nichts. Es gab dazu nichts zu sagen. Prüfend blickte sie sich um. Das Zelt mit Whitmores Vorräten brannte noch immer, der Rest des Lagers war ein einziges Chaos. Sie hatte ganz schön herumgetobt. Achselzuckend wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Jesper zu. „Es wird bald Hilfe kommen", erklärte sie ihm. „Ich gehöre zur Söldner-Akademie. Meine Leute sind schon auf dem Weg hierher."
Jesper hörte ihren Ausführungen erstaunt zu. Er sagte kein Wort, aber die gemischten Gefühle darüber konnte „Pinch" in seinen Augen ablesen. Dass sie zu den Söldnern gehörte, überraschte ihn natürlich. Aber er fragte sich auch, was nun aus ihm selbst werden sollte. Und „Pinch" hätte ihm darauf keine Antwort geben können. Außer der, dass sich jemand um seine Verletzungen kümmern und er weiterleben würde. Wo und wie auch immer das sein sollte.
Außerdem war sie noch nicht fertig. „Jesper, wo ist Johnson?", fragte sie ihn schließlich. „Wohin ist er gegangen?"
Jespers Ausdruck wandte sich in Besorgnis. Er begriff, was sie vorhatte. „Zu seinem Schiff", stieß er kraftlos hervor. „Lass ihn gehen! Du kannst ihn nicht aufhalten."
„Pinch" schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln. „Doch, das kann ich", erwiderte sie. „Ich bin bis hierher gekommen. Und du weißt jetzt, dass ich nicht alleine bin. Welche Richtung?"
Mit einem Kopfnicken deutete Jesper die Richtung an. Mit äußerster Anstrengung versuchte er außerdem, sich aufzurichten. „Nicht alleine", meinte er. Sie war nicht sicher, ob er damit nur ihre Worte wiederholte oder etwas anderes sagen wollte. Seine nächsten Worte beantworteten dies für sie: „Ich gehe mit dir."
„Vergiss es!" „Pinch" drückte ihn energisch zu Boden. „Du bist nicht in der Verfassung, mitzugehen. Dann hole ich ihn nie ein. Du bleibst hier!"
Er konnte ihr nichts entgegen setzen. Er musste sich fügen. „Dann... nimm meinen Laser!" Er deutete mit einer schwachen Handbewegung auf einige der Kisten, die am Rand des Lagers aufgestapelt waren und den Kampf tatsächlich unbeschadet überstanden hatten. „Die Kiste... rechts oben. Er hat volle Energie."
„Pinch" nickte dankbar. Diese Hilfe konnte sie tatsächlich gebrauchen. Sie musterte den Jungen. Er hatte sehr viel abbekommen, aber es sah nicht so schlimm aus wie bei Tammy nach dem Absturz des Shuttles. Er würde mit Sicherheit überleben, bis die Söldner da waren und ihn zum Medizentrum brachten. Egal, wer er war und was er getan hatte, die Ärzte würden sich schon aufgrund seines Alters sorgfältig um ihn kümmern und ihn wieder auf die Beine bringen. Danach... das würde man dann schon sehen.
Es gab noch so vieles, was sie ihm hätte sagen können, und in seinen Augen standen viele Fragen. Doch es gab keine Zeit dafür. Mit einem sanften Lächeln zum Abschied erhob sich „Pinch" und ging in Richtung der Kisten, die Jesper ihr gezeigt hatte.
„Warte!", rief Jesper schließlich, als er für einen kurzen Augenblick seine Schüchternheit überwand. „Was du vorhin gesagt hast... Dass ich dir nichts bedeute. Dass du nur wegen meinem Onkel hier bist. Ist das wahr?"
„Pinch" drehte sich zu ihm um. Sie hatte befürchtet, er würde diese Frage stellen. Er hatte sie gehen lassen und dafür seinen Hals riskiert. Dafür hatte sie ihn retten wollen. Weil es das Richtige war, und weil sie das Gefühl hatte, dass sie es ihm schuldete. Sykes lag wohl mit ihrer Vermutung, er hätte in gewisser Weise etwas für sie übrig, nicht ganz falsch. Sein Verhalten während ihres Kampfes mit Whitmore hatte diese Vermutung bestätigt. Sie sah Hoffnung in seinem Gesicht, als er ihre Antwort abwartete.
Es tat ihr leid, diese Hoffnung zerstören zu müssen. Aber wenn er eine Sache von ihr verdiente, dann war es Ehrlichkeit. Sie empfand nichts für ihn, was sie nicht auch für Vanna und die anderen Kinder empfand. Auch wenn es sie schmerzte, er verdiente die Wahrheit.
„Es ist wahr", sagte sie schließlich und zuckte bedauernd die Achseln. „Tut mir leid."
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