Kapitel 16: Es ist noch nicht vorbei
Im Familiengleiter auf dem Weg zur Akademie dauerte es nicht einmal fünf Minuten, bevor Igor den Autopiloten aktivierte und sich in seinem Sitz zu Vera umdrehte, die auf dem Rücksitz saß. „Also schön, Vera. Was sollte das gerade?"
„Das erkläre ich, wenn wir da sind", gab Vera kurzentschlossen zurück. „Sonst muss ich alles nochmal erzählen."
„Nein, du erklärst es mir jetzt", beharrte Igor, und er schien wirklich wütend zu werden. „Was soll der Unsinn mit der Rettungsaktion und den gefangenen Kindern? Und dass du weißt, wer euch abgeschossen hat?"
„Wieso Unsinn?" Auch Vera merkte, wie sie langsam die Geduld verlor. Das konnte doch wirklich alles nicht wahr sein! „Wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, werden diese Kinder umgebracht. Wieso begreift das hier keiner?"
„Beruhigt euch, alle beide!" Helen drehte sich im Kopilotensitz ebenfalls um und beschwichtigte die beiden Streithähne mit entsprechenden Handbewegungen, bevor sie sich Vera zuwandte. „Liebes, wir sind uns einfach nicht sicher, ob das, was du uns da erzählen willst, auch wirklich passiert ist. Du wurdest in der Nähe des Shuttles gefunden..."
„Nachdem ich den Verbrechern entkommen und wieder zurückgelaufen bin, ja." Vera starrte trotzig ihre Mutter an. „Was wollt ihr damit andeuten?"
Helen seufzte tief. Es fiel ihr wohl schwer, das zu sagen, was sie sagen wollte. „Du wurdest mit einer Gehirnerschütterung eingeliefert. Der zuständige Arzt meinte, dass du mit so etwas nicht weit gekommen sein kannst."
„Du bist aus dem Shuttle geklettert", fuhr Igor brummend fort. „Dann bist du in Richtung der Wälder. Und dort hat man dich gefunden. Ohne einen Hinweis darauf, dass irgendwas anderes passiert ist."
Veras trotziger Gesichtsausdruck wandelte sich in Entsetzen, als sie begriff, worauf ihre Eltern hinaus wollten. „Du glaubst... ich habe das alles nur geträumt? Meint ihr das ernst?"
„So eine Kopfverletzung kann schwerwiegende Folgen haben, wenn man sie nicht behandelt, Vera", erklärte Helen dann in einem sehr beruhigenden Tonfall. „Man verliert die Orientierung, bildet sich Dinge ein... Es kann dir alles echt vorkommen, was du angeblich erlebt hast, aber nur, weil deine Gehirnerschütterung nicht behandelt worden ist."
Als Igor bekräftigend nickte, wusste Vera einfach nicht, was sie sagen sollte. Es konnte einfach nicht sein! Die Begegnung mit Johnson, Whitmore und Sykes; die Zeit, die sie als Gefangene verbracht hatte; die Rettung durch Taylor und die Aufnahme durch die anderen Kinder und den Hund... „Wartet mal!", rief sie, als ihr ein Gedanke kam. „Wenn ich das alles geträumt haben soll... woher kommt dann das Anti-Allergie-Mittel, das ich gerade im Blut habe? Und woher wusste Chris, der Pfleger, dass es gegen Hundeallergie wirken sollte?" Sie richtete ihren Blick auf ihre Eltern und wurde jetzt richtig wütend. „Und warum habt ihr jahrelang behauptet, dass es kein Mittel gegen Hundeallergie gibt?"
Ihre Eltern tauschten vielsagende Blicke aus. „Es gibt aber keines", erklärte Igor dann. „Es gibt höchstens Mittel, die gegen die Auswirkungen von Allergien wirken, aber das ist keine dauerhafte Lösung. Sagte zumindest der Doktor, bei dem wir damals waren."
„Das beantwortet nicht meine Frage. Und es ist eine billige Ausrede." Vera stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Wisst ihr was? Ich glaube eher, dass ich das hier gerade träume! Denn wenn ihr beide wirklich meine Eltern wärt, würdet ihr mir glauben. Wenigstens würdet ihr mir zuhören, denn ich kann beweisen, dass ich die Wahrheit sage."
„Dann raus damit!", bellte Igor. „Wir würden dir zuhören, wenn du endlich mal den Schnabel aufmachen würdest."
„Also schön!" Vera brüllte diese Worte fast, so angefressen war sie gerade, aber dann beruhigte sie sich. „Aber nur unter einer Bedingung: Wenn ich dir erzählt habe, was passiert ist, kontaktierst du Hank und lässt umgehend einen Trupp bewaffneter Männer für eine Rettungsmission zusammenstellen."
Igor sah sie skeptisch an. „Das hängt ganz davon ab, was ich gleich zu hören kriege. Also leg los!"
Und sie erzählte. Sie fasste sich kurz, hob sich die Einzelheiten für später auf. Sie beschrieb jedoch Johnson und seine beiden Gehilfen in all den Details, die sie noch im Kopf hatte, und sie erzählte auch von Thor, Vanna und den Zwillingen. Vor allem auch von Butter, dem Hund. Abschließend meinte sie noch: „Wenn die im Medizentrum gründlich genug gescannt haben, dann haben sie auch die Beweise, dass ich die Wahrheit sage. Die Verbrecher hatten mich an Händen und Füßen gefesselt, und sie haben mir zu essen gegeben. Und die Allergie-Pille habe ich von den Zwillingen bekommen. Das hat Chris sogar direkt auf den Scans erkannt. Er hat sogar das Entgiftungssystem dafür umprogrammiert, dass das Mittel weiter wirkt."
Sie beobachtete die Gesichter ihrer Eltern. Helen war bei den Ausführungen blass geworden – anscheinend glaubte sie ihr. Igor ließ sich nichts anmerken, aber sein grimmiger Gesichtsausdruck konnte bedeuten, dass er Vera kein einziges Wort abkaufte – oder dass er ihr doch glaubte und sich entsprechend ausmalte, was er mit Johnson anstellen würde, wenn er ihn in die Finger bekam. Doch beide blieben still. Sie verarbeiteten wortlos die Geschichte, die Vera ihnen erzählt hatte. Nach einem kurzen Moment drehte sich Igor wieder zum Steuerpult um und schaltete den Kommunikator ein: „Bodderias-Akademie, hier spricht Igor Lippson. Ich brauche eine Verbindung zu Eric Waestergaard von der Eingreiftruppe..."
Sie setzten Helen zu Hause auf der Farm ab. Sie wäre gerne zur Akademie mitgekommen, aber Igor bestand darauf, dass sie sich nach all den Sorgen und Strapazen ausruhte. Aber als sie wieder losgeflogen waren, meinte Igor zu Vera, er hielte es außerdem für besser, wenn das eine Sache zwischen Söldnern blieb. Helen hätte nur unnötige Unruhe in die ganze Sache gebracht. Vera war sehr überrascht von seiner Sichtweise. Nicht, dass sie ihm nicht zustimmte. In ihrer Besorgnis um ihre Tochter konnte Helen manchmal sehr irrational sein.
Als sie die Akademie endlich erreichten, war es bereits dunkel. Das mehrstöckige Hauptgebäude war jedoch hell erleuchtet, und auf dem Gelände waren die Angestellten geschäftig unterwegs. Auf dem Landefeld konnte Vera den großen Transportgleiter der Akademie erkennen, der beladen und startbereit gemacht wurde. Zufrieden nickte sie. Die Eingreiftruppe machte sich bereit, zur Rettung zu eilen. Und sobald sie dieses blöde Verhör hinter sich gebracht hatte, würde sie mit ihnen gehen.
Igor landete vor dem Haupteingang, und ohne groß abzuwarten öffnete Vera die Gleitertür und sprang hinaus. „Hey, warte mal!", rief ihr Vater ihr hinterher, doch sie hörte nicht. Sie eilte zum Hauptgebäude. Sie kannte den Weg zum Besprechnungsraum. Je eher sie damit fertig wurden, desto besser.
Doch eines hatte sie in ihrem Eifer vollkommen vergessen: wie schnell ihr Vater sich bewegen konnte. Bevor sie die Eingangstür erreicht hatte, packte eine starke Hand sie von hinten und stoppte sie aprupt. „Was glaubst du, was du hier machst?", fragte ihr Vater und drehte sie zu sich um, um ihr streng ins Gesicht zu blicken.
„Wir haben keine Zeit." Vera versuchte, sich aus dem Griff ihres Vaters zu befreien. „Wenn wir noch länger warten..."
„Das liegt nicht länger bei dir, Vera." Igor sah ihr fest in die Augen – ging sicher, dass sie ihn genau verstand. „Die Eingreiftruppe ist schon längst dort."
Vera verstand. Nur glauben konnte sie es nicht. „Was... was sagst du da?"
Dann tat ihr Vater etwas, das er ihr gegenüber noch nie getan hatte. Er ließ sich auf ein Knie sinken, sodass er auf Augenhöhe mit ihr war. Der strenge Blick in seinem Gesicht wurde plötzlich weicher, aber nicht weniger ernst. „Hör zu", sagte er. „Wenn das, was du gesagt hast, alles stimmt... dann willst du nicht dorthin zurückkehren. Die Eingreiftruppe ist bereits vor Ort gewesen, als ich die Akademie gerufen habe. Sie wollten das Wrack auf Hinweise untersuchen. Jetzt haben sie die Anweisung erhalten, nach den Verbrechern und den Kindern Ausschau zu halten."
„Aber ich weiß, wo sie sind", beharrte Vera. „Ich kann ihnen helfen."
„Das könntest du bestimmt", gab Igor zu. „Aber du bist nicht bereit für das, was dort auf sie wartet."
Vera starrte ihn herausfordernd an. „Ich kann auf mich aufpassen, Paps."
„Das meine ich damit nicht." Igors Stimme war eine Spur schärfer geworden. „Ich rede nicht davon, dass du dich nicht verteidigen könntest. Aber was wäre, wenn du zu spät kommst?" Die nächsten Worte brachte er nur schwerfällig hervor: „Wenn du die Kinder nicht mehr retten könntest?"
Er sprach zu ihr nicht wie ein Vater zu seiner Tochter. Er sprach wie mit einem anderen Söldner, einem jüngeren, unerfahrenen Söldner, aber trotzdem einem Gleichgestellten. „Ich habe es erlebt", erzählte er. „Ich habe gesehen, wie Menschen, mit denen ich zu tun hatte, neben mir starben. Ich konnte nichts tun, um sie zu retten. Und ich habe es wirklich nur schwer verkraftet. Ich möchte nicht, dass du das Gleiche durchmachen musst. Du bist hier auf diesem Planeten aufgewachsen, einem sicheren Ort. Ich habe das Leben dort draußen gesehen. Ich weiß, wozu Menschen fähig sein können. Und du bist nicht bereit dafür, was passiert, wenn sie es tun."
Bei diesen Erklärungen blieb Vera der Mund offen stehen. Sie hatte von Tammy gehört, was ihr Vater in den Komm-Kriegen erlebt hatte – dass dies wohl der Grund war, weshalb er ein Leben als Söldner geführt und sie auf Geshtachius Prime zurückgelassen hatte. Er selbst hatte jedoch nie darüber gesprochen, was in dem Teil der Galaxis, in dem er sein Geld verdient hatte, wirklich passiert war. Jetzt wusste sie, warum. Tammy hatte sie vor den Übungsgefechten gewarnt, die sie an der Akademie abhielten – dass die Schusswechsel mit den Söldnertruppen der Teil des Jobs war, den keiner von ihnen mochte. Doch das waren nur Übungskämpfe. Igor Lippson hatte dies in der Realität durchgemacht.
Doch mehr als die Erkenntnis, was diese Kämpfe aus ihrem Vater gemacht hatten – umso mehr verstörte sie in diesem Augenblick, wie falsch er mit seinen Vermutungen lag. „Das kannst du alles nicht wissen!", warf sie ihm vor. „Du tust ja so, als könnten sie nicht mehr gerettet werden. Als wären sie schon tot." Sie spürte, wie ihr bei diesen Worten die Tränen kamen. Vanna, Jenny, Taylor... Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein.
Igor schüttelte den Kopf. „Es ist nicht länger deine Aufgabe, sie zu retten. Du hast getan, was du tun konntest. Jetzt halte dein Versprechen und beantworte die Fragen der Sicherheitsleute! Mehr können wir beide nicht tun."
Damit deutete er auf die Eingangstür der Akademie und erhob sich wieder zu seiner vollen Größe. Vera fügte sich zögernd und drehte sich um. Sie war die beste Chance, die die Kinder hatten. Ihr Vater wollte das aber nicht einsehen. Auch wenn die Eingreiftruppe aus guten Leuten bestand – immerhin wurde sie von Eric Waestergaard, oder auch „Waesti", wie Vera ihn zu nennen pflegte, kommandiert – niemand würde der Rettung der Kinder so viel Bedeutung beimessen wie sie. Aber es hatte keinen Sinn, sich jetzt dagegen zu wehren. Sie ging mit ihrem Vater in das Gebäude und machte sich auf den Weg zum Besprechungsraum.
Dort saßen die beiden Sicherheitsbeamten. Außerdem war Hank Bodderias anwesend, und zu Veras Überraschung fand sie auch Jackson dort. Bis ihr wieder einfiel, dass Jackson einen guten Grund hatte, hierbei anwesend zu sein. Neben seinem technischen Verständnis und seiner Tätigkeiten an der Akademie war vor allem Tammy der Grund für seine Teilnahme am Gespräch. Vera hatte schon desöfteren mitbekommen, dass zwischen den beiden etwas lief. Sie fand es irgendwie süß, solange sie sich nicht in Veras unmittelbarer Nähe küssten. Jackson war wohl mehr als alle anderen daran interessiert, herauszufinden, wer für den Absturz verantwortlich war.
Auf Hanks Geheiß nahm Vera am großen Tisch Platz, und die beiden Sicherheitsleute begannen ihre Fragerunde. Vera erzählte die ganze Geschichte und ließ dieses Mal nichts aus. Sie erwähnte jedes Detail, das ihr in den Sinn kam, antwortete auf jede Zwischenfrage, beschrieb die gesamte Mission und alles, was danach kam. Doch die Fragen gingen für sie in eine merkwürdige Richtung. Lieutenant Garrett war es, der die meisten Fragen stellte, und sie drehten sich alle um den Absturz. An den drei Verbrechern schien er kein Interesse zu zeigen. Bis sie die Geduld verlor:
„Was ist mit den Kindern?", fragte sie und knallte die Faust auf den Tisch. Igor runzelte missbilligend die Stirn, während Jackson zusammenzuckte. „Was ist mit Johnson und seinen Leuten? Wollen Sie da gar nichts unternehmen?"
Garrett sah sie lange schweigend an. Dann beugte er sich zu seinem Kollegen hinüber und tauschte einige flüsternde Worte mit ihm, bevor er sie ansprach: „Ich finde es bewundernswert, wie du dir Sorgen um diese Kinder machst, Vera. Aber wir haben deine medizinischen Berichte gelesen, und wir sind ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob sich das wirklich..."
„Das habe ich alles bereits mit meinen Eltern durchgekaut", fiel ihm Vera ins Wort. „Im medizinischen Bericht sind die Beweise, dass das alles wirklich passiert ist. Sie sollten vielleicht genauer lesen."
„Da steht aber nichts drin", erwiderte Garrett und zeigte wieder dieses falsche nachsichtige Lächeln. „Du sagst, sie hätten dich gefangengehalten und dir zu essen gegeben. Es gab keinen Hinweis darauf, dass du etwas Anderes zu dir genommen hast als das, was du als Proviant selbst dabei hattest. Und es gibt auch keine Spuren davon, dass dich jemand misshandelt haben soll."
„Ach ja? Und was ist mit dem Allergie-Mittel?" Vera starrte ihn an. Es war das gleiche Gespräch wie auf dem Weg hierher, nur jetzt redete sie wie mit einer Wand. „Das Mittel, das ich im Blutkreislauf habe?"
Garrett wich ihrem Blick nicht aus. „Im Medikit des Shuttles war ein solches Mittel. Ich nehme an, du hast es eingenommen, in der Hoffnung, deine Schmerzen nach dem Absturz lindern zu können, und hast es dann einfach vergessen. Bei deiner Kopfverletzung kann sowas leicht passiert sein."
„Das ist doch alles totaler Schwachsinn!", entfuhr es Vera. Frustriert schüttelte sie den Kopf. „Sie behaupten also, ich hätte das alles nur geträumt, während ich mit einer Gehirnerschütterung im Wald lag? Das würde Ihnen sicher richtig gut in den Kram passen, oder? Was spielen Sie hier eigentlich, Herr Sicherheitsbeamter? Kriegen Sie Geld für..."
Der Gedanke traf sie wie ein Blitz. Sie unterbrach sich selbst, als es ihr dämmerte. Es gab noch etwas, das ihr an diesem Beamten nicht gefiel. Nicht nur sein falsches Lächeln, nicht nur seine Ablehnung gegenüber allem, was sie ihm erzählte. Da war noch etwas: ein kleines, unscheinbares Detail, das ihr schon im Medizentrum aufgefallen war, aber dem sie keine Beachtung geschenkt hatte...
„Vera, das reicht!" Igor rief sie in dem Augenblick zur Ordnung, in dem ihr dieser Gedanke kam. Sie fand es normalerweise unheimlich lästig, wenn er das tat. Nur dieses eine einzige Mal war sie dankbar dafür. „Lieutenant, ich entschuldige mich für das Verhalten meiner Tochter. Sie verstehen sicher, dass sie eine Menge mitgemacht hat."
„Absolut", antwortete Garrett gönnerhaft. „Ich denke, mit ihr sind wir auch soweit fertig. Vera, wenn du so gut wärst, draußen zu warten, dann würden wir mit deinem Vater und Mr. Bodderias gerne noch einige Dinge klären."
Vera warf ihrem Vater einen bedeutsamen Blick zu. Igor erwiderte ihn, aber was er mit seinem Blick ausdrücken wollte, vermochte sie nicht zu deuten. Vielleicht war er einfach nur sauer darüber, wie sie sich gerade verhalten hatte. Mit verkniffener Miene stand sie vom Tisch auf und ging ohne ein weiteres Wort nach draußen. Es gab vielleicht eine erwachsene, höfliche Methode, den Raum zu verlassen. Aber jetzt war ihr das kindische Verhalten gerade recht. Hauptsache, dieser Garrett schöpfte keinen Verdacht.
Auf dem Flur war es still. Die Söldner waren alle anderweitig beschäftigt. Nur zwei kamen an Veras Sitzplatz vor dem Besprechungsraum vorbei, und Vera hörte mit halbem Ohr, wie sie darüber sprachen, dass die neue Reiterstaffel mit der Eingreiftruppe draußen war. Da sie Pferde unheimlich gerne mochte, hätte sie diese Nachricht unter anderen Umständen in Aufregung versetzt. Doch sie hatte wirklich andere Dinge im Kopf. Die Beine vor Langeweile baumelnd, den Kopf gesenkt, wartete sie darauf, dass die Erwachsenen in dem Raum endlich fertig wurden.
„Bist du nicht Vera?"
Die Frage ließ Vera aufschrecken. Sie sah auf und blickte in das Gesicht einer Frau, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Dann sah sie das Emblem... und wusste Bescheid. „Sie sind die Chefin der Unicorn Riders", stellte sie erstaunt fest.
„Ja, wir hatten schon einmal miteinander zu tun", meinte die Frau mit einem freundlichen Lächeln. „Ich hatte mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Kate."
„Hi!" Vera war eigentlich gar nicht nach Reden zumute. Zumindest nicht mit einem Erwachsenen. Die konnten ihr immer mehr gestohlen bleiben. Doch mit einem verschmitzten Grinsen ließ sie noch einen vom Stapel: „Und, haben Sie es geschafft, noch weitere Kinder in die Luft zu sprengen?"
Kate ließ sich davon nicht beeindrucken. „Im Gegenteil, ich konnte sogar zwei retten. Na ja, zusammen mit meinem Team." Sie warf einen prüfenden Blick auf das Mädchen. „Was ist mit dir? Du scheinst mir nicht sehr glücklich zu sein."
„Ach, es ist irgendwie alles zum Kotzen", regte sich Vera auf. „Egal, was ich sage, mir will niemand zuhören. Ich hatte gedacht, wenn man größer wird, reagieren die Großen anders auf einen, aber es hat sich nicht das Geringste geändert."
„Willst du vielleicht mit mir darüber reden?", bot Kate an und nahm bereits auf einer Sitzbank ihr gegenüber Platz.
Vera schenkte ihr nur ein grimmiges Lächeln. „Nichts für ungut, Lady, aber Sie sind auch nur eine von den Großen."
„Verstehe. Mehr als anbieten kann ich es dir nicht." Dennoch blieb die Frau ihr gegenüber sitzen. Und nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten, sprach sie erneut: „Aber hast du was dagegen, wenn ich dir mal eine Frage stelle?"
Vera winkte müde ab. „Klar, warum nicht?", antwortete sie gelangweilt.
„Du wirst hier von allen auch Pinch genannt, oder?"
Das wollte sie im Moment überhaupt nicht hören. Aber Kate hatte diese Frage so unschuldig gestellt, dass die aufkochende Wut in Vera nur von sehr kurzer Dauer war. Vielleicht war sie aber nach allem auch einfach zu müde, um darauf mit einem Tobsuchtsanfall zu reagieren. „Ja, den Namen hat sich mein Vater ausgedacht. Aber ich hasse ihn."
Kate sah sie verständnislos an. „Warum? Was bedeutet er denn?"
„Mir hat es mal jemand erklärt", erzählte Vera mürrisch. „In einer alten terranischen Sprache soll es wohl soviel heißen wie 'kneifen' oder 'zwicken'. Für mich klingt es aber wie ein Hund. Mit so einem Namen wird man von niemandem für voll genommen."
„Hmm..." Kate schürzte die Lippen und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Vielleicht siehst du es einfach falsch. Wenn ich den Namen so verstehe, dann verstehe ich darunter eine Person, die nicht viel Kraft hat, aber trotzdem viel Ärger machen kann. Jemand, den man gerne unterschätzt, und der deswegen aus Kämpfen siegreich hervorgeht, die andere als verloren betrachten." Sie lächelte. „Immerhin besser als der Name, den ich mit mir rumschleppe. Seit meiner Zeit beim Militär nennt man mich Beast. Ich habe für den Namen auch nicht viel übrig."
Vera sah die Frau mit neu gewonnenem Interesse an. Dass sie eine solche Gemeinsamkeit hatten, hatte sie nicht erwartet. Vielleicht hatte sie Kate falsch eingeschätzt. „Kämpfe, die andere als verloren betrachten, sagen Sie? Zum Beispiel jemanden zu retten, von dem alle glauben, dass er nicht mehr gerettet werden kann?"
Da war sich Kate nicht ganz so sicher. „Das kommt darauf an. Auf die Umstände, meine ich. Wenn es nicht in deiner Hand liegt, dann kann es auch auswegslose Situationen geben."
„Leider liegt es nicht in meiner Hand", meinte Vera bedauernd. Doch in diesem Augenblick sprangen all ihre Gehirnwindungen an, als ihr die entsprechende Idee kam. Und wenn es doch in meiner Hand liegt? Denn sie war sich sicher, dass Igor mit seinem Vortrag einen entscheidenden Denkfehler gemacht hatte.
Ihr Gehirn lief auf Hochtouren, formte bereits einen Plan. Aufgeregt sprang sie von ihrem Sitz. „Danke!", hauchte sie noch in Kates Richtung, bevor sie begann, den Flur hinunter zu rennen.
„Gern geschehen!", rief Kate ihr hinterher. „Und viel Glück!"
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