Kapitel 14: Rückzug!
Es gab nur einen Weg, und der ging vorwärts. Doch Vera wollte nicht. Atemlos steckte sie im Tunnel, in der Hoffnung, dass Whitmore sie dort nicht bemerkte, und lauschte den Geschehnissen in der Höhle. Was sie nicht alles gegeben hätte, um jetzt eingreifen und den Kindern helfen zu können...
Natürlich war Whitmore nicht alleine. Über die Aufregung und die Schreie der Kinder, die nun ihrerseits versuchten, den Verbrechern zu entkommen, bekam Vera auch mit, dass zumindest Sykes vor Ort war. Denn sie hörte einige schnelle Bewegungen und das Schaben von Stahl auf Stoff, das ihr kalte Schauer über den Rücken rieseln ließ. Mit allem, was sie hörte, konnte sie sich ein gutes Bild machen, was geschah. Es klang so, als würden Vanna und Thor sich wehren. Taylor hingegen, der ständig brüllte, man solle Jenny nicht anrühren, würde jedoch für die Verbrecher kein wirklich ernstzunehmendes Hindernis sein. Doch bald darauf wurde es in der Höhle sehr still, abgesehen von leisem Stöhnen der Kinder. Und Vera dachte sich, was nun geschah. Es war der Punkt, an dem Johnson die Höhle betreten hatte.
„Schau mal, Boss!", rief Whitmore dröhnend. „Kann's sein, dass wir die Göre hier kennen?"
Er muss Vanna gefangen haben, dachte sich Vera und biss sich frustriert auf die Lippe. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Vanna musste nun auch dem grobschlächtigen Kerl aufgefallen sein. Doch nach einem kurzen Augenblick der Stille kam Johnsons Antwort: „Du brauchst eine Sehhilfe, Whitmore. Das ist auf keinen Fall das Mädchen von letzter Nacht."
„Wirklich nich'?", fragte Whitmore ungläubig. Aber das verächtliche Schnauben von Sykes zeigte, dass sie wohl auch erkannt hatte, dass es nicht Vera war. Oder sie stimmte einfach nur ihrem Anführer zu. „Ich hätt' schwören können..."
„Sagen wir mal so: Sie war hier", fiel Johnson ihm ins Wort. „Du, Mädchen, wie ist dein Name?"
„Vanna", antwortete Vanna in trotzigem Tonfall und bestätigte damit Veras Vermutung.
Wieder herrschte Stille, und Vera wagte nicht, sich zu bewegen. Sie war gerade an dem Punkt im Tunnel angelangt, an dem er eine Biegung machte. Mit etwas Glück würde sie niemand sehen, selbst wenn er direkt hineinblickte. Aber was das Glück anging, so war es in Veras Augen die letzte Zeit sehr unzuverlässig gewesen.
„Vanna, du siehst ein bisschen aus wie ein Mädchen, das wir vermissen", erklärte Johnson in dem ruhigen, sachlichen Tonfall, den Vera von ihm kannte. „Vielleicht weißt du etwas von ihr oder hast sie gesehen."
Eine Zeitlang wurde es wieder still. Erdrückend still, wie Vera fand. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, es müsse außerhalb des Tunnels zu hören sein. „Nein", antwortete Vanna schließlich. „Ich habe niemanden gesehen."
Erleichtert atmete Vera auf. Doch diese Erleichterung verflüchtigte sich. „Ich weiß, dass du lügst, Vanna." Johnsons Stimme hatte sich nicht verändert – immer noch ruhig und sachlich. Aber jetzt spürte sie wieder die unterschwellige Drohung, die sie auch bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gespürt hatte. „Das ist kein feiner Zug. Und weißt du auch, woher ich das weiß?" Es kam keine Antwort, bis er Sekunden später wieder sprach. „Die Zuckerriegel, die Rationspackungen... Und diese Flasche Saft, die auf eurem Tisch steht. All diese Dinge habe ich vorher schon mal gesehen."
„Wir haben diese Sachen gefunden", rechtfertigte Vanna sich und versuchte, so unschuldig wie möglich zu klingen.
Im Tunnel biss Vera die Zähne zusammen. Bitte, haltet durch! Es tat ihr unendlich leid, die Kinder in diese Situation gebracht zu haben. Aber wenn Vanna sie jetzt verriet, dann war alles verloren.
„Gefunden?" In Johnsons Stimme klang ein Hauch Sarkasmus mit. „Ein sehr glücklicher Zufall. Aber ihr habt nicht zufällig auch ein zwölfjähriges Mädchen gefunden, das diese Sachen bei sich trug? Wie steht es mit dir, junger Mann?"
Es war unmöglich zu erkennen, wen Johnson damit ansprach. Doch Vera hoffte, dass es nicht Thor war. Nach dem Streit von eben war sie sich nicht sicher, ob er dichthalten würde. Und Taylor... Er würde alles tun, um seine Schwester zu beschützen. Wenn sie Jenny bedrohten, dann würde er sofort auspacken.
Es war Thors Stimme, die schließlich die Antwort gab. Diese Antwort überraschte Vera immens: „Nein, haben wir nicht. Wir fanden lediglich einen Rucksack, der dort draußen herumstand. Wir haben rausgenommen, was wir tragen konnten, und den Rest stehen gelassen. Wem er gehört, wissen wir nicht."
„Wo war das?", wollte Johnson wissen. Jede Spur von Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden.
Thors Antwort kam prompt: „Draußen im Wald." Es klang überzeugend. Vera war beeindruckt.
„Boss", warf Whitmore plötzlich ein. „Vergiss die Göre doch! Wir haben noch anderen Kram zu tun."
„Er hat Recht", stimmte Sykes ihm mit ihrer unangenehmen Stimme zu. „Murksen wir den Kindergarten ab und machen, dass wir weiterkommen."
Als Nächstes hörte Vera einen Wutschrei, der von Thor kam, und wieder Tumult. Dieser endete jedoch sehr plötzlich mit einem lauten Klatschgeräusch und einem Schmerzensschrei des Jungen. Vera vermutete, dass sein Gesicht gerade auf Whitmores Pranken getroffen war. Seine Freude daran, Jungen zu verprügeln, hatte er ja zuvor schon an Jesper unter Beweis gestellt. Die Aufregung legte sich damit auch ziemlich schnell. „Am Besten, wir fesseln den Burschen", schlug Whitmore vor. „Damit sowas nich' nochmal passiert."
„Ihr fesselt sie alle", befahl Johnson. „Nicht, dass eines von ihnen auf dumme Ideen kommt. Und was das Abmurksen angeht, halten wir uns immer noch an die Abmachung. Also werdet ihr beide ebenfalls nichts Dummes machen."
„Schon klar", murmelte Sykes mürrisch. Die Kinder fingen an zu protestieren, aber als Whitmore brüllend weitere Schläge androhte, wurde es still. Lediglich von Jenny hörte Vera leises Weinen, unterbrochen von einem Schmerzensschrei, bei dem sie mit dem Mädchen fühlte. Es war gemein und abstoßend, so etwas einem kleinen Kind anzutun. Die anderen stöhnten ebenfalls schmerzerfüllt auf, als sich Sykes um sie kümmerte. Vera wurde das Gefühl nicht los, dass diese tätowierte Schurkin so etwas gerne tat.
Nach ungefähr einer Minute schien es erledigt zu sein. Ein weiterer strenger Befehl, die Kinder mit in die Tunnel zu nehmen, kam von Johnson, und das geschah anscheinend auch. Das Stöhnen und Jammern der gefangenen Kinder sowie Jennys herzzerreißendes Weinen entfernten sich immer mehr aus Veras Hörweite, bis nichts mehr zu hören war. Doch sie hielt noch einmal den Atem an und lauschte, so lange sie konnte. Sie traute dem Frieden nicht. Wenn jetzt noch jemand in der Höhle war, der nur darauf wartete, dass sie sich verriet...
Es schien niemand mehr da zu sein. Gerne wäre Vera jetzt zurückgekrochen und den Kindern gefolgt, um ihnen zu helfen. Aber das war sinnlos und, wie sie sich eingestand, dämlich. Was wollte sie gegen die drei schon ausrichten? Vor allem ohne eine Waffe? Die einzige Chance, irgendwie zu helfen, die Vera nun sah, war, Hilfe zu holen. Also gab es nur einen Weg für sie: Vorwärts.
Die Sonne war bereits wieder aufgegangen, als sie an der großen Metallplatte vorbei ins Freie kroch, den Rucksack vor sich auf den Boden werfend. Die frische Luft tat ihr unheimlich gut, aber sie hatte momentan ganz andere Sorgen. Ihr gefiel Vannas Idee am Besten: Wenn sie zur Absturzstelle ging, hatte sie die beste Chance, von Leuten der Akademie gefunden zu werden. Diese konnten vielleicht mit ihr zurückgehen und ihr helfen, die Kinder zu retten. Bestimmt gab es da mindestens einen Söldner, der einen ordentlichen Laser bei sich trug, auch wenn es nur eine Betäubungswaffe war...
Als sie sich umdrehte, blickte sie in die Mündung einer solchen Waffe. Und dieses Modell war nicht zum Betäuben gedacht.
„Hände hoch!"
Jespers Augen starrten sie über die Mündung der Waffe hinweg an. Der schüchterne Junge von letzter Nacht stand zwar immer noch vor ihr, aber der Ausdruck in seinen Augen sagte ihr, dass er es todernst meinte. Vera sah außerdem seinen Zeigefinger direkt auf dem Abzug liegen. Ob er wirklich auf sie schießen wollte, oder ob es ihm niemand richtig beigebracht hatte, konnte sie nicht sagen. Sie wollte es auch nicht herausfinden.
Langsam hob sie die Hände. „Ist das OK so?", fragte sie vorsichtig. Sie wollte mit Jesper nicht auf dem falschen Fuß stehen.
Für einen kurzen Augenblick blitzte in Jespers Augen etwas auf. Etwas, das sie an letzte Nacht und ihre Unterhaltung erinnerte. „Ja, ist OK so", antwortete er. Er schien sehr unsicher in dieser Situation zu sein.
„Und was willst du jetzt mit mir machen?", fragte Vera dann neugierig. Sie sah sich um. „Wir sind hier ziemlich alleine."
Jespers Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Willst du mir etwa vorschlagen..."
Er brauchte den Satz nicht zu beenden – Vera wusste sofort, was er meinte, und verzog angewidert das Gesicht. „Igitt, nein! Sowas ist eklig!" Sie wurde wieder ernst. „Aber was hast du jetzt genau vor?"
„Ich bringe dich zu den anderen", antwortete Jesper. „Johnson war nicht sehr glücklich, als du letzte Nacht verschwunden bist. Mein Onkel hat ziemlichen Ärger bekommen."
Den er dann an dir ausgelassen hat. Vera sah in Jespers Gesicht. Sie hatte es in der Nacht nicht richtig betrachten können da es zu dunkel gewesen war. Aber die Blutergüsse, die sein Gesicht übersäten, waren nicht alle älteren Datums. „Tut mir Leid, wenn du wegen mir Schwierigkeiten hattest."
Wieder blitzte es in Jespers Augen, und der Zeigefinger auf dem Abzug entspannte sich sichtlich. „Du musst mit mir mitkommen. Bitte."
„Ich kann nicht." Vera schüttelte den Kopf. „Wenn es nur um mich ginge, wäre das etwas Anderes. Aber ich kann nicht zulassen, dass ihr den anderen Kindern etwas antut."
Verwirrt blickte Jesper sie an. „Andere Kinder?"
„Ausreißer", erklärte Vera. „Sie haben mir geholfen. Ich schulde ihnen etwas."
„Nein." Dieses Mal war es an Jesper, den Kopf zu schütteln. „Ich habe keine Wahl. Ich muss dich zu Johnson bringen."
Sie hatte so sehr gehofft, dass ihre Unterhaltung letzte Nacht gefruchtet hatte. Aber Jesper schien so sehr unter der Kontrolle seines Onkels zu stehen, dass es unmöglich war, ihn zu überzeugen. „Bitte", flehte sie ihn an. Sie musste es zumindest versuchen. Mit allem, was ihr kindlicher Charme hergab, blickte sie ihm tief in die Augen. „Bitte, du musst mich gehen lassen."
Für einen kurzen Augenblick schien sie Erfolg zu haben. Unsicher ließ Jesper die Pistole ein Stück sinken, sein Blick gefangen in ihren Augen. Doch dann war dieser Moment vorbei, und er richtete die Waffe wieder auf ihr Gesicht. „Los, beweg dich!" Der Befehlston kam bei Vera absolut nicht an.
„Wenn ich es nicht tue", fragte sie vorsichtig, „wirst du mich dann wirklich erschießen?"
Das Zögern von Jesper war eindeutig. Doch seine Antwort gab er mit aller Überzeugungskraft: „Wenn es sein muss..."
Sie hatte ihn bereits durchschaut. Sie legte ihren Kopf schief. „Ich glaube dir nicht."
„Ich werde es tun, glaube mir." Jespers Stimme konnte jedoch seine Verzweiflung nicht verbergen. Es war klar, dass er die ganze Situation nicht unter Kontrolle hatte. Und dass er am Liebsten woanders gewesen wäre.
Daher nahm Vera ihre Hände wieder herunter und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann schieß!"
Sie wandte ihren Blick nicht von seinen Augen ab, ignorierte die Mündung der Waffe direkt vor sich, die immer mehr zu zittern begann. Der Abzugsfinger zuckte ebenfalls immer mehr, als ob Jesper Mühe hatte, sich selbst zu kontrollieren. „Bist du verrückt?", stieß er hervor. „Willst du sterben?"
„Nein", antwortete Vera nüchtern. „Ändert das etwas?"
Herzschlag für Herzschlag beobachtete sie Jespers Gesicht hinter der Waffe, und einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob er es vielleicht doch tun würde. Ob er den Mut dazu aufbringen würde, jemanden zu töten. Nicht einfach nur jemanden – vielleicht sogar die einzige Person, die in einem langen Zeitraum jemals freundlich zu ihm gewesen war. Er erinnerte sie an Taylor – auch ein Junge, der bei einem Onkel leben musste, mit dem er nicht auskam. Nur dass Jesper es tausendmal schlimmer hatte.
So beschloss sie, noch eine letzte Sache zu sagen: „Wenn du es tust... dann rette bitte die anderen. Denn du bist einer von ihnen."
Sie konnte sehen, wie Jespers Augen sich mit Tränen füllten, wie der Laser in seinen Händen mittlerweile so zitterte, dass er sie vielleicht sogar auf diese kurze Entfernung verfehlen würde. Schließlich, mit einem tiefen Seufzer, nahm er ihn herunter. „Du bist gemein", warf er ihr vor.
Vera bedachte ihn mit einem ernsten Blick. „Alles, was ich gesagt habe, meine ich ehrlich."
„Jesper!" Der Ruf kam aus einiger Entfernung, dennoch konnte Vera die durchdringende weibliche Stimme von Sykes mühelos erkennen. Jesper vor ihr wurde blass. Das konnten sie jetzt am wenigsten gebrauchen.
„Ich muss hier weg", stieß Vera hervor und griff nach ihrem Rucksack. Aber Jesper packte sie am Arm.
„Ich kann dich nicht einfach gehen lassen." Panisch blickte er sich um, ob Sykes schon in Sichtweite war. Dann wandte er sich wieder Vera zu. Und sagte etwas, womit sie im Leben nicht gerechnet hätte:
„Schlag mich!"
Vera war völlig perplex. „Was?"
„Du sollst mich schlagen." Jespers Augen wurden wild, er wurde immer panischer. „Das ist die einzige Möglichkeit. Schlag zu, so fest du..."
Den Satz brachte er nicht zu Ende. Mit voller Wucht hatte ihm Vera ihre Faust unter den Kiefer gerammt. Der Schlag war heftig genug, dass Jesper nach hinten kippte und der Länge nach hinschlug. Die Waffe polterte aus seiner Hand zu Boden. Aber auch Vera spürte diesen Fausthieb. Au, verdammt! Wie ein glühend heißer Messerstich fuhr der Schmerz von ihren Fingerknöcheln den gesamten Arm hinauf. Nie wieder schlage ich jemandem mit der Faust ins Gesicht. Nie wieder!
Dann schnappte sie sich ihren Rucksack und rannte los. Hinter ihr wurde ein Ruf laut: „Hey! Stehenbleiben!" Doch sie rannte, so schnell sie konnte, und ließ Jesper hinter sich. Sie blickte nicht zurück, ob ihr jemand folgte, sie rannte einfach weiter. Sie hörte einen weiteren lauten Ruf hinter sich, den sie aber nicht mehr verstehen konnte. Danach hörte sie nichts weiter außer ihrem Atem und ihrem klopfenden Herzen.
Später wusste sie nicht mehr, wie weit sie gelaufen war, oder welche Richtung sie genommen hatte. Sie rannte, bis ihr Atem so schwer ging, als wäre sie auf den höchsten Berg des Planeten geklettert. Sie rannte, bis ihr Herz so schnell schlug, als wäre es ein galoppierendes Pferd. Sie rannte, bis ihr vor den Augen die Sterne flimmerten und ihr, wie schon seit längerer Zeit nicht mehr, schwindlig wurde. Doch trotz allem hörte sie nicht auf zu rennen. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, als sie schließlich doch stehenblieb und erschöpft nach Atem rang. Dabei merkte sie, wie ihre Kopfschmerzen wieder zurückkehrten und jeder Herzschlag eine neuen Schmerzwelle durch ihren Schädel schickte. Das Schwindelgefühl war noch immer da, jetzt aber viel schlimmer als vorher.
Und dann sah sie die Gestalt. Eine große, in dunklem Grau gekleidete Gestalt, die ihr den Rücken zugewandt hatte. Vera versuchte, diese Gestalt genauer zu betrachten, aber je mehr sie sich konzentrierte, desto verschwommener wurde ihr Blick. Sie merkte, wie ihre Hand zitterte, mit der sie sich an einem Baum neben ihr abstützte, und das Rauschen ihres eigenen Blutes klang in ihren Ohren. Und dann wurde es dunkel. Sie drehte die Augen zum Himmel. Wie kann es dunkel werden? Es ist doch hellichter Tag...
Dass sie zu Boden stürzte, merkte sie nicht einmal mehr.
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