Wunden
„Es fällt uns so schwer zu vertrauen, weil es anderen so leicht fällt zu Lügen."
„Is' was?", fragte ich, da ich nicht verstand was auf einmal mit den anderen los war.
„M-Mika ... D-Da auf dei-deinem ... Rü-", stotterte Emily und deutete mit ihrem Finger auf mich. Die Jungs schienen im Gegensatz zu ihr kein Wort rausbekommen zu können. Ich verstand echt nichts mehr. Was war denn mit meinem Rück-?! Ach du Scheiße!!! NEIN!!!
Ich schaute kurz an mir hinab und bemerkte, dass ich ausgerechnet das Top aus meinem Schrank gezerrt hatte, welches am Rücken total zerrissen war. Es hatte nur lose Bänder auf der Rückseite, die es zusammen hielten. Und natürlich wurde so mein gesamter Rücken offen gelegt, mit all den Wunden. Ich hatte den Verband vorhin abgemacht, da es mich langsam nervte und mich ohnehin in meiner Bewegungsfreiheit störte. Hätte ich aber gewusst, dass mich mein Pech immer noch verfolgte, dann hätte ich wenigstens den dran gelassen. Während des Essens hatte die Strickjacke alles verdeckt, aber die hing ja nach wie vor auf meiner Stuhllehne.
Immer noch starrten mich alle sprachlos an. Panik stieg in mir auf. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Fürs Erste drehte ich mich um, sodass sie meinen Rücken nicht mehr sehen konnten. Dann stellte ich die Teller neben mir auf einen kleinen Schrank ab und lief dann vorsichtig rückwärts. Ich kam mir wie ein gejagtes Beutetier vor, total verängstigt und um sein Leben bangend.
Ich zuckte heftig zusammen als beinahe alle Jungs aufsprangen und ihr Stühle dadurch umkippten.
„Mika, was hat das zu bedeuten?!", fragte Sam. Er wirkte plötzlich so dominant und gefährlich auf mich, weshalb ich auch weiter zurück wich. Aber Sam kam trotzdem Schritt für Schritt näher, was meine Angst nur noch verstärkte. Als er dann nur noch zwei Meter vor mir stand, begann ich zu zittern und blickte eingeschüchtert zu Boden.
„Ich habe dich etwas gefragt!", brüllte Sam mir schon fast entgegen. Er baute sich bedrohlich vor mir in seiner vollen Größe auf und blickte so auf mich hinab. Mittlerweile war auch Paul näher gekommen. Er stand etwas links von mir, also rechts neben Sam.
„Das hat nichts mit euch zu tun.", gab ich kleinlaut von mir. Ich fühlte mich im Moment total unterdrückt und hilflos. Ich wollte es ihnen nicht erzählen, aber mir war klar, dass sie nicht locker lassen würden.
„Mika!", kam es nun gequält von Paul. Mein Blick huschte sofort zu ihm. In seinen Augen konnte ich die Verzweiflung und die Besorgnis erkennen. Er kam einen Schritt auf mich zu und dieses Mal wich ich nicht zurück. Nein, ich blieb stehen und hielt unseren Blickkontakt aufrecht. Es schien schon fast wie ein Rettungsring, der mich vor dem Ertrinken bewahrte.
Paul schob sich an Sam vorbei und hob langsam die Arme. Äußerst vorsichtig zog er mich in eine Umarmung. Als ich diese nach langem Zögern erwiderte, verstärkte er seinen Griff etwas. Er gab mir Halt und irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment sicher.
„Mika, erklär es uns ... bitte.", flehte er schon fast, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte nicht, ich konnte nicht. Das Waisenhaus hatte nicht nur äußerlich Narben und Wunden hinterlassen, sondern auch auf meiner Seele. Du konntest noch so stark sein, nach über zehn Jahren hatten sie dich auf jeden Fall gebrochen. Und diese gebrochene Seite an mir wollte ich nicht offen zeigen. Sie war etwas in meinem Innern was ich sehr gut versteckt hatte.
„Wer war es? Wer hat dir das angetan?", fragte er weiter, doch ich sagte nichts. Die anderen im Raum schwiegen ebenfalls beharrlich weiter. Emily hatte Sam zu sich gezogen und versuchte ihn etwas runter zu bringen. Aber sie selbst schien mit der Situation auch ziemlich überfordert.
„Mika, bitte. Sag es mir.", seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, allerdings genügte es, um meine Mauern Stück für Stück zu brechen. Aber das konnte ich nicht zulassen. Ich musste hier schnell weg, aber wohin? Niemals würden ich es bis in den Wald schaffen, ohne dass sie mich einholten. Also blieb nur eine Option übrig.
Ich drückte Paul sanft von mir und verschwand dann aus dem Wohnzimmer. So schnell es ging, rannte ich die Treppe hinauf und schloss die Tür meines Zimmers hinter mir ab. Paul war mir zwar sofort hinterher gestürmt, als er merkte was ich vorhatte, aber er konnte nicht mehr schnell genug nach meiner Hand greifen und mich zurück halten.
Erschöpft und mit den nun fließenden Tränen in den Augen ließ ich mich an der Tür zu Boden gleiten. Ich hörte wie Paul wild an die Tür hämmerte und Emily nach mir rief, aber ich konnte nicht mehr reagieren. Ich fühlte mich gerade so schwach wie schon lange nicht mehr. Und doch wollte mein Körper mir noch keine Ohnmacht gönnen. Lieber ließ er mich im wachen Zustand weiter verzweifeln.
„Süße, bitte mach die Tür auf.", bat Emily mit sanfter Stimme, aber ich hörte deutlich heraus, dass sie bestürzt war. Auch Sams wütendes Knurren nahm ich war, aber es wurde mit der Zeit immer leiser. Auch Pauls Klopfen ließ nach.
„Lasst mich doch endlich alle in Ruhe.", flehte ich unter Tränen. Ich bemerkte wie ich langsam in einen Heulkrampf geriet, aber ich konnte nichts mehr dagegen tun. Die einzige Möglichkeit war zu warten bis es vorbei ging.
Die Rufe der anderen wurden plötzlich nochmal lauter. Sie klangen beinahe schon panisch, aber mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Egal wie sehr ich es wollte, er reagierte nicht. Stattdessen fiel ich zur Seite und lag nun für lenks auf dem Boden. Ich zog die Beine so eng an meinen Körper wie es nur ging und legte dann meine Arme um diese. Insgesamt sah ich wahrscheinlich wie ein zusammengerollter Igel aus.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und nahm mir die Luft zum Atmen. Das Gefühl von Übelkeit breitete sich in mir aus, aber ich wusste dass ich mich nicht übergeben würde. Dazu war mein Körper nicht mehr im Stande. Es war eher ein unangenehmes flaues Gefühl.
Das Zittern und Schluchzen wurde immer schlimmer, bis mich endlich die ersehnte Ohnmacht in Beschlag nahm. Alles um mich herum wurde schwarz und all der Schmerz in meinem Inneren verschwand von der einen Sekunde auf die andere.
Ein neviges Gemurmel holte mich schließlich zurück in die Realität. Nur äußerst widerwillig öffnete ich die Augen. Schwarze Punkte tanzten wie wild in meinem Blickfeld herum. Ich musste mich erstmal an das grelle Licht gewöhnen, bevor ich überhaupt etwas genaueres erkennen konnte. Erst waren es nur grobe Umrisse, aber mit der Zeit erkannte ich, dass ich noch immer in meinem Zimmer war und ein Mann vor mir stand. Er hatte sehr blasse Haut und blondes Haar. Er schien gerade etwas zusammen zu räumen, hörte aber damit auf, als er bemerkte, dass ich aufgewacht war.
Er kam mit schnellen Schritten auf mich zu, weshalb ich auf meinem Bett verschreckt nach hinten krabbelte. Ich kannte den Mann nicht, also sollte er mir ja nicht zu nahe kommen. Sofort stoppte er in seiner Bewegung und setzte ein nettes Lächeln auf, aber dem traute ich weiß Gott nicht. Es waren doch meistens die Psychopathen die so ein irres Grinsen aufsetzten und auf nett taten.
Rasch ließ ich meine Blick schweifen und erkannte, dass auch Emily und Sam im Raum waren. Sie hielten sich mehr im Hintergrund, beobachteten aber alles sehr genau. Besonders Sam wirkte wachsam und irgendwie auch kampfbereit.
Ein leichter Druck auf meine Hand ließ mich abermals zusammen zucken. Paul hockte neben meinem Bett auf dem Boden und schlief. Sein Kopf lag auf meiner Bettkante und dabei hielt er meine Hand fest umklammert. Fast so als würde er befürchten, ich könnte verschwinden oder mich jederzeit in Luft auflösen.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin Carlisle, ein Arzt.", erklärte mir der Fremde ruhig und hob beschwichtigend die Hände hoch. Zögerlich nickte ich und ließ ihn näher kommen. Aber er machte mir trotzdem noch Angst, weshalb ich unauffällig an Pauls Hand rüttelte, um ihn zu wecken. Es funktionierte auch sofort.
Er wirkte erleichtert über die Tatsache, dass ich wach war, aber als er den Arzt erblickte, knurrte er angesäuert. Nach einem Knurren von Sam, verstummte er allerdings gleich wieder und wandte sich lächelnd zu mir. Bei ihm schienen sich die Emotionen auch alle paar Sekunden zu ändern, aber das störte mich nicht.
„Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht, ich dachte schon du würdest überhaupt nicht mehr aufwachen.", sagte er und blickte mir wieder mal tief in die Augen.
Irgendwie verstand ich Paul nicht. Er kannte mich überhaupt nicht, hatte kaum ein Wort mit mir gewechselt und doch schien ich ihm wichtig zu sein. In seinen Augen konnte ich nur aufrichtige Gefühle wahrnehmen und in keinem einzigen Moment eine Lüge.
Was mir erst recht unbegreiflich war, waren meine Reaktionen auf ihn. Ich ließ ihn an mich ran, ohne auch nur einen Funken an Widerstand zu leisten. So etwas ist noch nie zuvor passiert, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun. Ich fühlte mich förmlich von ihm angezogen und seine Nähe wirkte so entspannend auf mich.
„Wie lange habe ich-", weiter kam ich nicht, da mir Carlisle ins Wort fiel.
„Du hast fast einen Tag geschlafen.", erklärte er und griff vorsichtig nach meiner Hand, um meinen Puls zu fühlen. Unwillkürlich zuckte ich zurück, als seine kalten Hände die meine berührten. Im Gegensatz zu Paul, der einer wandelnden Heizung glich, war Carlisles Haut eisig.
Der Arzt ließ sich nicht beirren und machte einfach weiter. Nach dem Puls kontrollierte er noch meine Atemwege. Paul beobachtete ihn dabei sehr genau. Es schien ihm nicht sonderlich zu gefallen, dass er mich anfasste. Und mal so nebenbei, falls ihr's noch immer nicht gecheckt habt, mir gefiel es genauso wenig.
„Mit dir scheint so weit wieder alles in Ordnung zu sein. Trotzdem solltest du dich noch etwas ausruhen. Ach und wegen deinem Rücken, ich hab den Verband erneuert und etwas von deiner Salbe darauf verteilt, die ich im Bad gefunden habe. Die Wunden sind nicht tief, also müssen sie nicht genäht werden.", fügte er noch hinzu. Ich nickte stumm und merkte im Augenwinkel wie sich die anderen drei Anwesenden verspannten. Der Arzt ignorierte dies allerdings gekonnt. Er schnappte sich seine Tasche und wandte sich zum Gehen. Ich verfolgte ihn mit meinen Augen und achtete genau darauf was er tat.
„Danke, Carlisle.", kam es noch von Sam, bevor das Bleichgesicht verschwunden war.
Ich drehte meinen Kopf wieder zu Paul, sah dann aber beschämt auf meine Bettdecke hinunter. Nachdem das Thema meiner Wunden wieder im Raum stand, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Im Augenwinkel erkannte ich wie Sam auf mich zu gehen wollte, Emily ihn aber davon abhielt. Sie zerrte ihn mit sich nach draußen, sodass ich mit Paul allein war.
Nach wie vor hielt Paul eine meiner Hände fest umklammert. Ich hatte nichts gegen den Körperkontakt, aber es machte mich leicht nervös.
„Mika, ich weiß du willst nicht darüber reden, aber ...", wieder hatte Paul diesen flehenden Ton in seiner Stimme. Er drückte meine Hand sanft dabei.
„I- Ich ... Ähmmm", sagte ich geistreich.
„Wieso willst du es mir nicht sagen?Vertraust du mir etwa nicht?", fragte er einfach weiter. Anscheinend versuchte er mir so eine Antwort zu entlocken. Und damit hatte er auch gute Chancen, denn er redete mir gerade ins Gewissen. Natürlich vertraute ich ihm, aber es war trotzdem schwierig über die Vergangenheit zu sprechen.
„Doch! Es gibt wahrscheinlich keinen anderen hier, dem ich mehr vertraue. Und das, obwohl ich dich kaum kenne. Aber ich ...", widersprach ich ihm.
„Bitte!", bettelte er unerbittlich weiter. Er legte seine freie Hand unter mein Kinn und drückte es nach oben, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. Kaum hatten wir Blickkontakt, brachen alle meine Mauern. Ich schwieg zwar noch einige Sekunden, aber dann begann alles ungehindert über meine Lippen zu kommen.
„Im Waisenhaus war das eines der Konsequenzen für mein Fehlverhalten.", flüsterte ich. Für einen Moment entglitten Paul die Gesichtszüge. Es war eine Mischung aus Entsetzen und Wut. Dies wandelte sich aber gleich wieder zu Mitleid und Sorge.
„Ich hab mich mit so 'ner Ziege gezofft und die Direktorin hat mich dann ... einige Tage in ... in den Keller gesperrt und mich dann ...", Tränen bahnten sich ihren Weg über meine Wangen und ich begann heftig zu schluchzen. Wieder drohte ich in einen Heulkrampf zu geraten, aber Paul setzte sich blitzschnell neben mich auf's Bett und nahm mich in den Arm. Beruhigend tätschelte er meinen Kopf.
„Shh, ist schon gut.", flüsterte er an meinem Ohr und langsam entspannte ich mich wieder. Seine angenehme Wärme ging auf meinen Körper über und lullte mich ein. Aber ich weigerte mich wieder einzuschlafen.
„Sie hat mich ... ausgepeitscht.", gestand ich heiser und drückte mich noch näher an Paul. Seine Arme verkrampften sich leicht bei meinen Worten, aber er achtete genau darauf mich nicht zu verletzen. Paul schienen die Worte zu fehlen, denn er öffnete immer wieder den Mund, schloss ihn aber wieder ohne etwas gesagt zu haben.
Nach etwa einer halben Stunde hatte ich mich wieder vollkommen beruhigt, kuschelte mich aber trotzdem noch eine Weile an meine wandelnde Heizung. Ihn schien es nicht im geringsten zu stören, weshalb er mich mittlerweile sogar schon auf seinen Schoss verfrachtet hatte, damit es bequemer für uns beide war. Mein Kopf ruhte auf seiner Schulter und seine Arme waren an meiner Hüfte verschränkt. Er hatte seinen Griff schon vor einiger Zeit gelockert, wollte den Körperkontakt aber nicht abbrechen.
„Du weißt, dass du es den anderen auch noch sagen musst. Sie sorgen sich beinahe genauso sehr um dich wie ich.", unterbrach er unser Schweigen. Die Stille zwischen uns war so angenehm gewesen, aber der Klang seiner Stimme gefiel mir noch mehr.
„So wichtig bin ich dir also?", neckte ich ihn. Langsam fand ich wieder zu meinem alten, starken Ich zurück. Und irgendwie fand ich die Vorstellung schön, dass sich ausgerechnet Paul solche Sorgen um mich machte.
„Du kannst dir garnicht vorstellen wie sehr.", konterte er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. Dennoch erkannte ich, dass er es durchaus Ernst meinte.
„Dann sollte ich mich wahrscheinlich geehrt fühlen."
„Mh ... Vielleicht.", gab er schulterzuckend zurück. Eine Weile lächelten wir uns nur still schweigend an. Seine Augen brannten sich in meine, was mir einen kleinen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Ein Hämmern an meiner Zimmertür störte uns leider. Sam stand davor und wollte, dass wir ins Wohnzimmer kommen. Natürlich gehorchten wir sofort, denn auf Sams Wut hatten wir gerade beide keine Lust.
Auf dem Weg nach unten blieb ich immer hinter Paul, so konnte ich mich vor den Blicken der anderen verstecken. Außerdem fühlte ich mich so sicherer. Doch als sich Paul auf einen der Stühle am Esstisch fallen ließ, war's das mit dem Verstecken. Ich stand zwar immer noch hinter Paul, aber nun konnten mich alle sehen. Ihre Blicke schienen mich fast zu durchbohren. Die Stimmung im Raum war äußerst angespannt. Alle warteten auf eine Erklärung von mir, aber vor so vielen Menschen wollte ich das nicht aussprechen.
Paul drehte seinen Kopf zu mir herum. Sein Blick wanderte forschend über mein Gesicht. Es wirkte beinahe so als würde er sich über meinen Gefühlszustand versichern.
Ich setzte mich zögernd neben ihn und begann zu erzählen. Dabei haftete mein Blick immer auf meinen Händen, welche ich nervös auf meinen Oberschenkeln rieb.
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