Sorgen
„Zu vielen Menschen ist egal was passiert, solange es ihnen nicht selbst passiert."
Kaum hatte mich Sam zurück ins Haus getragen, wachte ich, immer noch in seinen Armen, wieder auf. Ich fröstelte leicht, aber Sam versprühte genügend Wärme, um mein Zittern zu verhindern. Emilys besorgten Blicke lagen auf mir, was mir irgendwie ein schlechtes Gewissen bereitete. Auch die anderen Jungs kamen nach und nach wieder aus dem Wald zurück, sie hatten mich anscheinend alle gesucht.
Sam legte mich vorsichtig auf dem Sofa ab. Als er seine Hände unter meinem Körper weg zog, streifte er kurz meinen Rücken. Sofort zuckte ich zusammen, versuchte mir allerdings nichts anmerken zu lassen. Und da Sam im nächsten Moment die Treppe hoch rannte, bemerkte es auch niemand.
„Wo warst du denn, Mika? Ich hab schon gedacht, dass dir sonst was passiert ist.", sagte Emily besorgt und hockte sich vor die Couch. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. Es fühlte sich beinahe so an, als würde sie denken ich könnte jeden Moment zerbrechen oder wieder verschwinden. Sie schien wirklich Angst um mich zu haben.
„Tut mir leid.", murmelte ich. Einen Moment später kam Sam wieder zu uns mit zwei kuscheligen Decken bewaffnet. Er reichte sie Emily, woraufhin sie mich darin einwickelte. Auch sie streifte meinen Rücken, nur dieses Mal konnte ich ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. Es schmerzte so sehr.
Sofort zuckte Emily zurück. Ich schien sie erschreckt zu haben, denn sie fiel hinten über und landete so mit dem Po auf dem Boden. Sie fing sich mit den Händen gerade so noch auf, sonst wäre sie sogar auf dem Rücken gelandet.
Mist! Ihre fragenden Blicke durchbohrten mich ja fast. Ich musste mir schnell was einfallen lassen, sonst würden sie mich noch darauf ansprechen. Irgendeine Ausrede ...
„Ich ... Ich habe meinen Knöchel falsch bewegt.", log ich so gut ich konnte, aber ich bemerkte, dass sie mir keinen Glauben schenkten. Allerdings wurde die Aufmerksamkeit aller im nächsten Moment von einer anderen Person in Beschlag genommen. Ein weiterer Junge dieser Bande trat ins Haus, aber ich kannte ihn noch nicht. Ich konnte ihn auch nicht sehen, da die Lehne des Sofas im Weg war. Also lauschte ich nur seiner Stimme.
„Sorry, dass ich zu spät bin.", sprach er mit einer tiefen rauen Stimme. Er klang bedrückt, aber das konnte ich mir ja vielleicht auch nur eingebildet haben.
Ich richtete mich vorsichtig auf und lugte über die Lehne zu ihm hinüber. Genau in diesem Moment trafen sich unsere Blicke. Ich musterte ihn skeptisch, er war ebenfalls ein riesiger Muskelprotz mit dunklem Haar und dieser gebräunten Indianerhaut. Der mir Fremde wirkte plötzlich so angespannt, bewegte sich keinen Zentimeter. Seine innigen Blicke verschafften mir einen angenehmen Schauer, der sich langsam über meinen Rücken ausbreitete.
„Ach du scheiße!", lachte Jared auf einmal und wäre fast vom Stuhl gefallen. Der Blickkontakt mit dem Fremden brach ab und ich sah irritiert zu Jared.
„Paul, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?!", fragte Sam nun. Er klang nicht sonderlich glücklich, aber was kümmert's mich schon. Das Wichtigere war, dass er mir den Namen des Fremden genannt hatte. Paul. Dieser Typ war zwar genauso ein Schrank wie die anderen, aber irgendwas hatte er an sich. Er wirkte nicht so ... Wie sollte ich es erklären?
„Emily, bring Mika nach oben in ihr Zimmer. Ich muss mich etwas mit Paul unterhalten.", knurrte Sam beinahe. Seine Frau nickte nur und half mir dann beim Aufstehen. Aber schon als ich mit meinem Fuß den Boden berührte, zuckte ich zusammen. Ein schmerzlicher Stromschlag durchfuhr meinen Körper. Meine Beine drohten unter meinem Körper nachzugeben, auch Emily konnte mich in dem Moment nicht mehr halten.
Ich hörte noch wie alle erschrocken die Luft einzogen. Wahrscheinlich würde ich gleich sehr unsanft auf dem Boden landen, dachte ich mir nur noch. Aber es kam anders. Paul war auf mich zu geeilt und fing mich gerade noch rechtzeitig auf. Er hatte seine starken Arme um meine Mitte geschlungen und drückte mich vorsichtig an sich.
„D- Danke", stotterte ich erleichtert und sah zu ihm auf. Unsere Blicke zogen sich wieder magisch an, doch auch dieses Mal wurden wir unterbrochen. Denn nachdem ich sicher stand und Paul mich losgelassen hatte, hob mich Sam kurzerhand hoch und trug mich auf mein Zimmer.
„Ich bring sie doch lieber selbst hoch und dann unterhalten wir uns mal Paul!" Sam klang immer noch etwas wütend. Emily folgte uns und legte Sam beruhigend ihre Hand auf die Schulter. Und tatsächlich funktionierte es.
Oben angekommen setzte er mich auf meinem Bett ab und ließ mich dann mit Emily allein. Diese sah mich entschuldigend an. Irgendwie bekam ich langsam das Gefühl sie würde mich wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe behandeln.
„Was hat Sam gegen Paul?", fragte ich gerade heraus, da ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr ertragen konnte. Außerdem gehörte er augenscheinlich zur Gruppe dazu und trotzdem fuhr Sam ihn wütend an.
„Er hat nichts gegen Paul, nur ... naja das ist schwer zu erklären. Ich sag es einfach mal so: Paul hat etwas getan, was eigentlich nicht schlimm ist, aber Sam gefällt es nicht wirklich.", erklärte sie in einem sanften und ruhigen Ton. Ich nickte verstehend, auch wenn ich noch keinen genauen Grund kannte.
„Ach und wegen deinem Knöchel, ich geh schnell einen Kühlakku holen. Es sieht ja nicht so schlimm aus, er ist nur etwas geschwollen.", noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, sprang sie auf und verließ mein Zimmer. Sie ließ dabei meine Zimmertür angelehnt.
Von unten her hörte ich leise Stimmen, was schon mal ein gutes Zeichen war. Gestern war es hier so unerträglich laut gewesen, weshalb ich in der Nacht einige Male wach geworden bin. Aber jetzt, wo ich dachte, dass Sam Paul anschreien würde, herrschte eine normale Lautstärke.
Einige Minuten später tauchte Emily mit einem Kühlakku und einem kleinen Kissen in den Händen wieder auf. Mittlerweile hatte ich mich schon hingelegt. Das Kissen platzierte sie auf meinem Bett und hob dann vorsichtig meinen Fuß darauf. Dann legte sie noch den eiskalten Beutel oben drauf.
Emily legte sich neben mich und schaute mich eine Weile einfach nur an. Es kam mir so vor als würde sie versuchen in meine Seele schauen zu können, aber das würde sie nicht schaffen. In meinem Inneren hatte ich tausende Mauern errichtet, damit ich nie wieder verletzt oder ausgenutzt werden kann. Und diese Mauern hielten so einiges aus.
„Auch wenn es vielleicht etwas zu zeitig ist, dich das jetzt zu fragen, aber ich kann es mir einfach nicht verkneifen.", begann sie plötzlich und sagte danach ziemlich aufgeregt, „Wie gefällt es dir hier? Bist du froh, dass wir dich adoptiert haben?"
Was sollte das denn jetzt schon wieder? Diese Fragen überforderten mich schon wieder. Bis jetzt hatte ich immer lügen müssen. Jede Familie stellte diese Frage irgendwann. Und jedes mal log ich und sagte wie froh ich denn wäre bei ihnen zu sein, aber jetzt könnte ich es das erste Mal wirklich ernst meinen. Mir gefiel es hier soweit. Ich fühlte mich zwar noch nicht wirklich zuhause, aber es war angenehm einen Ort zu haben an dem ich wie ein normaler Mensch behandelt wurde und nicht wie der letzte Dreck.
„Ähm, ja. Bis jetzt habe ich nicht wirklich was zu meckern. Außer vielleicht, dass mir Jareds Weckmethoden total gegen den Strich gehen.", antwortete ich locker. Nach meinem letzten Satz kicherte Emily leicht und nickte verstehend.
„Keine Sorge, das wird er sich jetzt nicht mehr so schnell trauen. Sonst bekommt er riesigen Ärger von ... Ach nicht so wichtig. Was hälst du davon, wenn ich uns etwas heiße Schokolade hole und wir dann etwas quatschen. Die Jungs werden sicherlich noch eine ganze Weile brauchen.", schlug Emily vor. Hastig nickte ich. Schokolade, so würde sie mich immer rum bekommen. Wenn sie jetzt noch Nutella zum Frühstück auftischen würde, dann wäre sie wirklich mein ganz persönlicher Engel.
Wieder verschwand Emily und kam einige Zeit später mit vollen Händen wieder. Wir redeten den restlichen Abend ausgelassen über unwichtige Dinge, aber trotzdem war es angenehm. Irgendwann störte uns dann Sam, da die Jungs anscheinend nach Hause gegangen waren. Aber Emily schmiss ihn sofort wieder raus, damit wir wieder unsere Ruhe hatten. Ich beobachtete diese Szene nur freudig. Vor allem Sams entsetzter und leidender Blick brachte mich zum Lachen.
Am Ende schliefen Emily und ich zusammen in meinem Bett ein.
Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass Emily schon wieder verschwunden war. Sie musste wirklich eine Frühaufsteherin sein. Sowas konnte ich echt nicht verstehen. Wie konnte ein Mensch denn mit so wenig Schlaf auskommen. Ich brauchte immer mindestens zehn Stunden Schlaf, um einigermaßen ausgeschlafen zu sein. Das war auch mein Problem an der Schule, zeitig aufstehen. Es war immer eine Tortur, oft verschlief ich auch mal und bekam dann für den Tag kein Essen im Waisenhaus mehr. So waren die Regeln, aber trotzdem geschah es mir oft genug, um sagen zu können, man überlebt auch mal zwei Tage ohne dieses drecks Essen.
Ich stand schließlich auf und merkte, dass mein Knöchel nicht mehr schmerzte. Er war nicht mehr geschwollen, nur noch etwas blau. Dann fiel mir aber auf, dass ich anscheinend in den Sachen geschlafen hatte, mit denen ich auch im Wald war. Ich hatte gestern wohl total vergessen mich umzuziehen.
Als nächstes fiel mir meine Reisetasche ins Auge. Sie war nach wie vor gepackt, aber das würde ich wohl jetzt ändern können, denn ich vermutete, dass mein Aufenthalt hier von Dauer sein würde. Also konnte ich ja ruhig anfangen den großen Kleiderschrank zu füllen.
Es dauerte nicht sonderlich lange alles auszupacken, da ich nicht viel besaß. Auch im Bad hatte ich mein Zeug verstaut, also Schminke, Duschzeug und so was. Nachdem ich mit meinem Werk zufrieden war, zog ich mir ein weinrotes Top und eine schwarze Leggings an. Ich warf mir noch schnell eine schwarze Strickjacke über und ging dann runter zum Frühstück.
Als ich die Treppe runter kam, saßen schon alle am Tisch und aßen in Ruhe ihre Toasts. Also mit alle meinte ich Sam und Emily, Jared, Embry, Jacob, Seth und Paul. Und ihr werdet es nicht glauben, es stand ein fettes Nutella Glas in der Mitte des Tisches.
„Morgen", machte ich auf mich aufmerksam. Sofort schnellten alle Köpfe zu mir herum.
„Moin", kam es von den Jungs geistreich, im nächsten Moment konzentrierten sie sich aber auch schon wieder auf ihr Essen. Nur Emily schenkte mir ein freundliches Lächeln und holte mir schnell meine Portion. Anscheinend hatte sie mir eine gerettet, damit die Kerle mir nicht alles wegessen konnten. Ich bedankte mich bei ihr und fing dann auch an zu essen, dabei stand das Nutella Glas natürlich immer in meiner Nähe.
„Wie geht es eigentlich deinem Knöchel?", fragte Sam, welcher neben mir saß, besorgt und sah kurz unter dem Tisch zu meinem Bein.
„Alles wieder in Ordnung, nur noch etwas blau.", erklärte ich ihm. Er nickte mir zu und beließ es auch dabei. Danach herrschte wieder Schweigen, aber dieses Mal war es nicht unangenehm. Es war eher beruhigend und entspannend.
Langsam merkte ich wie warm das Wohnzimmer war. Durch die vielen Leute hatte es sich anscheinend schneller aufgeheizt. Also entschloss ich mich schnell meine Strickjacke auszuziehen, dann aber weiter zu essen, da Jared mal wieder hungrige Blicke auf meinen Teller warf. Und offensichtlich war ich nicht die Einzige, die das bemerkte.
„Denk gar nicht erst dran, Jared! Du hast schon mehr als genug gegessen.", wies ihn Paul zurecht und beschützte so mein Essen vor diesem Nimmersatt. Jener ließ enttäuscht den Kopf hängen und hörte offenbar auf Paul. Dankend blickte ich zu Paul, welcher ebenfalls neben mir saß. Es wäre wohl das Beste mich immer neben Paul zu setzen, wenn es Essen gab.
Als wir dann alle aufgegessen hatten, stapelte Emily das Geschirr, um es besser in die Küche transportieren zu können. Den ersten Stapel an Tellern schnappte ich mir und machte mich auf den Weg aus dem Wohnzimmer. Weit kam ich allerdings nicht, denn plötzlich ertönte ein lautes Scheppern hinter mir, was mich zusammenzucken ließ. Blitzartig drehte ich mich um und sah, dass mich alle entgeistert ansahen. Emily schien sich, warum auch immer, erschrocken zu haben und dann die ganzen Teller aus ihrer Hand fallen gelassen zu haben, denn auf dem Boden konnte man die vielen Scherben liegen sehen.
„Is' was?", fragte ich, da ich nicht verstand was auf einmal mit den anderen los war.
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