Ruhe vor dem Sturm
„Nurweil jemand hart im Nehmen ist, heißt das noch lange nicht, dass esnicht weh tut."
Als wir das Haus verlassen hatten, fand ich auch endlich meine Stimme wieder: „Du kannst doch nicht einfach deinen besten Freund wegen eines kleinen Fehlers aus deinem Leben verbannen."
„Es war nicht nur ein 'kleiner Fehler'. Er hätte dich, euch, ernsthaft verletzen können. Sowas darf nicht passieren, er hätte die Kontrolle über sich nicht verlieren dürfen.", erwiderte Paul stur und begann durch den Wald zu joggen. Da wir ja beide nicht mit unseren Autos hier waren und ich in meiner Verfassung nicht auf dem Rücken eines Wolfes reiten konnte, hatten wir keine andere Wahl als zu laufen. Oder eher hatte er keine andere Wahl.
„Du hattest dich doch auch nicht unter Kontrolle! Du hast genauso viel Schuld an dem Kampf wie er!", warf ich ein. Paul hatte immerhin auch all seine Wut an Jared ausgelassen.
„Nein! Ich wollte ihn nur zur Rede stellen, wegen der Sache mit Kim. Aber als ich ihn darauf ansprach, ist er sofort an die Decke gegangen und meinte, dass Kim so etwas niemals tun würde und ich ein Lügner wäre. Und irgendwie hat sich das alles immer weiter hochgeschaukelt, bis Jared 'explodiert' ist. Und da hatte ich keine andere Wahl als mich zu verteidigen.", stellte Paul seine Sicht der Dinge klar.
„Aber er ist doch trotzdem dein bester Freund. Er wollte ja nur seine Prägung schützen, genauso wie du.", versuchte ich ihn erneut zur Einsicht zu bewegen. Aber ich wusste, dass ich seine Meinung jetzt nicht ändern konnte. Vielleicht hatte ich morgen bessere Chancen, wenn sich Pauls Gemüt wieder beruhigt hatte.
„Ein bester Freund hätte niemals meine Seelenverwandte verletzt.", gab er nüchtern von sich. Wir wussten beide, dass die Diskussion hier fürs Erste ein Ende gefunden hatte, weshalb auch keiner mehr ein Wort darüber verlor.
Nach gut zehn Minuten kamen wir endlich Zuhause an. Durch Pauls hohe Körpertemperatur war ich von der eisigen Kälte nicht allzu unterkühlt. Dennoch schmiss mein Freund sofort den Kamin an, nachdem er mich auf der Couch abgeladen hatte.
„Kann ich nicht lieber nach oben ins Bett?", fragte ich kichernd, als Paul mit einem Stapel Holz in den Händen an mir vorbei rannte. Ich fand es irgendwie witzig, wie er sich bemühte. Vor allem weil er dabei so gehetzt wirkte.
Nach meiner Frage schnellte sein Kopf in meine Richtung und ein fassungsloser Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Ich zuckte nur lachend mit den Schultern, was ihm nun ebenfalls ein Grinsen entlockte.
„So gefällst du mir viel besser.", sagte ich strahlend und streckte meine Arme nach ihm aus, damit er mich hoch ins Schlafzimmer trug. Paul schüttelte lachend den Kopf, hob mich aber dennoch hoch. Er drückte mir noch einen kleinen Kuss auf die Wange und brachte mich dann nach oben.
Als wir oben ankamen, legte Paul mich sanft ins Bett. Nun hatte ich allerdings ein Problem: Ich konnte mich nicht alleine umziehen. Und auch wenn ich mit Paul zusammen war, wollte ich mir dennoch nicht von ihm dabei helfen lassen. Das wäre mir viel zu peinlich.
Paul war gerade im Begriff zu gehen, als ich schüchtern murmelte: „Paul, wie ... Ich kann mich nicht alleine ..." Er sah mich kurz verwirrt an, begann dann aber belustigt zu grinsen.
„Soll ich dir dann behilflich sein? Ich hätte wirklich nichts dagegen.", hakte er schmunzelnd nach und kam wieder langsam auf mich zu. Mit einer Unschuldsmiene kletterte er zu mir aufs Bett, bis er schließlich über mir lag. Links und rechts von meinem Kopf stützte er sich dabei mit seinen Händen ab.
„Paul, ich rede hier von umziehen, nicht nur ausziehen!", ermahnte ich ihn und versuchte wütend dreinzuschauen. Aber ihn interessierte das nicht wirklich, lieber beugte er sich zu mir herunter und drückte seine angenehm rauen Lippen auf die meinen. Ich keuchte kurz in den Kuss hinein, erwiderte ihn aber auch sofort. Ich konnte Paul einfach nicht widerstehen. Als er dann auch noch in meine Unterlippe biss, war es um meinen Verstand geschehen.
Dennoch drückte ich ihn nach ein paar Minuten sanft von mir weg. Nach all dem, was heute passiert war, musste ich mich erstmal erholen. Kaum zu glauben, aber innerhalb von einem Tag waren Kim und ich total zerstritten, Jared und Paul ebenso, und Jared war sogar auf mich losgegangen. Irgendwie war das alles etwas viel für einen Tag ...
Paul schien an meinen Augen abzulesen, was ich gerade dachte, denn er drückte mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und stand dann auf, um meine Schlafsachen zu holen. Ich sah ihm hinterher, wobei mein Blick stur auf seinen starken Rücken gerichtet war. Durch das eng anliegende T-Shirt zeichneten sich seine Muskeln nur allzu deutlich ab, was mich beinahe zum Sabbern brachte. Ich war es zwar gewohnt, dass er ohne Oberteil rumlief, aber das war nochmal was ganz anderes.
„Wir können auch gerne dort weitermachen, wo wir gerade aufgehört haben.", bot er mir keck an, da er anscheinend meine Blicke gespürt hatte. Schlagartig wurde ich rot und drehte meinen Kopf weg, um es vor ihm zu verstecken. Als ich dann jedoch sein tiefes Lachen hinter mir hörte, wusste ich, dass es ihm nicht entgangen war. Wäre auch zu schön gewesen.
„Bevor wir hier irgendwas machen, wüsste ich gern, warum Jared und du überhaupt angefangen habt zu kämpfen. Doch nicht wegen dem Streit zwischen Kim und mir, oder?", lenkte ich nun von mir ab und wechselte sogleich zu dem Thema, welches mir schon die ganze Zeit über auf der Zunge brannte. Bei meinen Worten zuckte Paul kaum merklich zusammen, bevor er sich langsam zu mir herum drehte.
„Das ...", er zögerte mit seiner Antwort und schaute dabei auf seine Füße. „Ich hab ihn auf den Streit angesprochen und ihm meine Meinung gegeigt. Daraufhin ist er total an die Decke gegangen. Irgendwie hat sich das alles dann immer weiter hochgeschaukelt. Und als uns Sam dann aus dem Haus geschmissen hatte, da hatten wir uns auch schon verwandelt.", endete er mit seiner Erklärung und kratzte sich leicht verlegen im Nacken. Also doch wegen Kim und mir.
Ich verstand schon, dass sie uns als ihre Prägungen verteidigten, aber sie mussten sich doch nicht gleich umbringen, nur weil wir uns mal in den Haaren liegen. Das ist bei Mädchen normal. Es gibt immer mal wieder Auseinandersetzung, die teilweise auch total sinnlos sind oder einfach nur wegen kleinen Meinungsverschiedenheiten zustande kommen. Aber ich seh da einfach keinen Grund für den Kampf zwischen den beiden Jungs.
„Was hattest du dort überhaupt zu suchen?", fragte ich ihn weiter aus. Diesen Teil verstand ich nämlich auch nicht wirklich. Bevor ich mich ins Bett gelegt hatte, war Paul noch Zuhause gewesen. Wieso also hatte er mich hier einfach allein gelassen und mich nicht mal darüber informiert, dass er fortging.
„Ich- ... Ach ich weiß es doch selbst nicht so genau. Ich war einfach nur so ... wütend auf Kim, weil sie dich so verletzt hat und da wollte ich eigentlich nur kurz in den Wald, um mich abzureagieren. Aber plötzlich stand ich vor Emilys Haus und da war dann auch Jared...", brachte er schließlich seine Erklärung zu Ende. Nun hob er auch endlich wieder den Blick. In seinen Augen erkannte ich seine Schuldgefühle nur zu deutlich. Der Anblick brach mir beinahe das Herz, weshalb ich lieber mit dem Verhör aufhörte.
„Paul", ein kleiner erschöpfter Seufzer entfloh mir, bevor ich fortfuhr, „Ich finde es ja schön, dass du mich verteidigst und immer hinter mir stehst, aber das hier ist eine Sache zwischen Kim und mir. Das ist noch lange nichts, weswegen man eine jahrelange Freundschaft aufs Spiel setzt." Reuevoll wich er nun abermals meinem Blick aus.
„Aber lass uns jetzt nicht weiter darüber reden. Ich will gerade eigentlich nur noch schlafen, mit dir dicht neben mir.", wechselte ich erneut das Thema. Dieses Mal aber eher für ihn, als für mich.
Mit einem erleichterten und dankbaren Lächeln kam Paul wieder zu mir und half mir nun endlich mich umzuziehen, wobei er sogar den Anstand hatte seine Augen zu schliessen. Auch wenn er mich schon öfters nackt gesehen hatten, war ich dennoch erleichtert darüber.
Als wir dann beide dicht aneinander gekuschelt unter der gemütlichen Bettdecke lagen, kam mein Körper endlich zur Ruhe. Ich schob alle Erlebnisse des heutigen Tages beiseite und versuchte mich einfach zu entspannen. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, ich hätte etwas vergessen. Aber mir wollte einfach nicht einfallen was.
Ich grübelte wahrscheinlich noch fünf Minuten, bis es mir endlich einleuchtete. Mein Frauenarzttermin! Der war morgen um 12 Uhr! Den hatte ich ja komplett verdrängt.
„Paul, bist du noch wach?", flüsterte ich so leise wie möglich, um ihm in dem Fall, dass er schon schlief, nicht zu wecken. Normalerweise schlief er ziemlich schnell ein, während ich immer noch mit meinen Gedanken abdriftete.
„Ja", nuschelte Paul müde. Er hatte zwar noch nicht geschlafen, war aber anscheinend kurz davor gewesen.
„Du wolltest mich doch zu meinem Arzttermin morgen begleiten. Der ist um 12.", erinnerte ich ihn nochmal. Ich spürte, wie er nickte. Dazu nuschelte er noch etwas, das einem 'Ja' gleichkommen könnte.
Theoretisch hätte ich ihm das auch morgen noch sagen können, aber irgendwie befürchtete ich, dass er doch nochmal zu Jared geht, um ihren Kampf fortzusetzen. Und so wie ich Paul kenne, würde er schon weg sein, bevor ich wach war.
Und dann würde ich dumm dastehen. Ich wusste ja noch nicht einmal, ob ich morgen überhaupt schon wieder alleine laufen, geschweige denn Auto fahren konnte. Ich war also auf ihn angewiesen, wenn ich nicht gerade mit Sam oder Emily dort aufkreuzen wollte. Und das wollte ich nicht. Es wäre mir wesentlich lieber mit meinem Freund und Vater des Kindes vor der Ärztin zu sitzen, anstatt mit meinen Adoptiveltern.
Das würde irgendwie ein falsches Bild abgeben. Sicherlich würde die Ärztin denken, ich wäre eine von den Mädchen, die zu dumm zum Verhüten waren, den Vater des Kindes nicht mal kannten und sich nun ihre gesamte Zukunft verbauten. Aber so war es nunmal nicht. Also nicht wirklich. Na gut, das mit dem Verhüten hatten wir wirklich vergessen. Aber Paul würde mich niemals verlassen und meine Zukunft sah einfach nur rosig aus, wenn man mal von den Vorstellungen der meisten Menschen ausging.
Es wünschte sich doch jeder ein schönes großes Haus, eine glückliche Familie, aufrichtige Freunde und einen Mann, der alles für sie tun würde. Und das mit dem Job würde ich auch später noch anpacken können oder vielleicht sogar nebenbei, wenn Emily ab und zu mal auf mein Baby aufpassen würde.
„Schlaf endlich, Süße.", riss mich Paul aus meinen Gedanken und zog mich noch enger an seinen halbnackten Körper, der nur so zu glühen schien. Und genau diese Hitze und sein wunderbarer Geruch ließen mich schließlich auch einschlafen und meine wirren Gedanken vergessen.
Am nächsten Morgen wurde ich durch einen sanften Kuss geweckt. Erst dachte ich, dass ich dies nur träumen würde, aber dem war nicht so. Der Kuss zog mich immer weiter aus meiner Traumwelt, zurück in die Realität. Und als ich dann meine Augen öffnete, schaute ich direkt in die Augen des Mannes, den ich über alles liebte.
„Guten Morgen, meine Schöne.", murmelte Paul gegen meine Lippen und drückte noch einen letzten federleichten Kuss auf jene, bevor er sich von mir zurückzog. Er setzte sich neben mich auf den Bettrand. Da ich mich nicht dazu überwinden konnte aufzustehen, drehte ich mich nur zur Seite, um Paul besser sehen zu können und trotzdem noch unter der warmen Kuscheldecke zu bleiben.
„Wie spät ist es?", nuschelte ich schläfrig und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
„Kurz nach zehn.", antwortete er mir und überreichte mir auf einmal ein Tablett mit Frühstück. Etwas überrascht setzte ich mich nun doch auf und legte das Tablett staunend auf meinem Schoß ab.
„Du hast mir Frühstück gemacht? Und sogar ans Bett gebracht?", brachte ich überwältigt heraus und sah ihn aus großen Augen an. Er grinste nur leicht eingebildet.
„Sieht ganz so aus."
„Und wie komme ich zu dieser Ehre?", fragte ich weiter, während ich mir eine Gabel mit dem Rührei mit Speck in den Mund schob. Eigentlich brachte er mir nur Frühstück ans Bett, wenn ich krank war. Na gut, ich war ja irgendwie krank, also wohl eher verletzt, aber das kam aufs gleiche raus.
„Ich dachte mir, ich überrasche dich mal.", meinte er schulterzuckend und stand dann wieder auf. Ich wollte ihn eigentlich schon aufhalten, weil ich ungern alleine frühstückte, aber dann merkte ich, dass Paul nur das Fenster öffnen wollte, um etwas durchzulüften. Sofort zog eine angenehm kühle Brise durch den Raum und verpasste mir prompt eine leichte Gänsehaut.
Als Paul sich dann wieder zu mir setzte und eines meiner Brötchen stibitzte, fühlte ich mich einfach pudelwohl.
Später fuhren wir dann gemeinsam zum Frauenarzt. Ich konnte mich mittlerweile wieder besser bewegen, aber mein Rücken war übersät mit blauen Flecken. Es schmerzte auch etwas, wenn ich mich anlehnte, aber es war auszuhalten. Meine Gedanken waren eh bei einem völlig anderen Thema.
Ich sorgte mich nach wie vor wegen des Streites von Jared und Paul. Denn auch wenn ich Paul dazu überreden konnte, fürs erste nicht von meine Seite zu weichen und Jared in Ruhe zu lassen, konnte es anders herum völlig anders aussehen.
Was wenn Jared plötzlich wieder vor der Tür steht? Was ist, wenn er dann erneut auf Paul losgeht? Oder was sollte ich machen, wenn er mich nochmal angreift? Denn auch wenn ich weiß, dass er mir NIE ernsthaft wehtun würde, traute ich ihm dennoch zu in seiner Wut nicht richtig einschätzen zu können, wie viel ein menschlicher Körper aushalten konnte. Wenn die Wölfe einmal die Kontrolle verloren, sahen sie nur noch rot.
Und auch wenn ich gerne etwas anderes behaupten würde, hatte ich dennoch im Moment Angst vor Jared. Ich hätte nie erwartet, dass er mich verletzen würde, weil er keine Kontrolle mehr hatte. Aber anscheinend war er noch unkontrollierbarer als Paul, wenn er sich ungewollt verwandelte. Dabei hatte Paul nämlich noch nie jemandem etwas angetan und war Menschen im Allgemeinen auch nie zu nahe gekommen, mich mal ausgenommen. Aber ich war auch seine Prägung, er könnte mir nie auch nur ein Haar krümmen.
„Wo wandern denn nun schon wieder deine Gedanken hin?", riss mich Paul wieder zurück in die Realität, als er mit dem Auto an einer roten Ampel stehen blieb. Entschuldigend sah ich ihn an, als ich seine besorgte Miene bemerkte.
„Ach nichts.", winkte ich ab, da ich ihn nicht erneut beunruhigen wollte.
„Bei dir ist es nie nur 'nichts'. Los, erzähl schon.", forderte er mich auf. Ich druckste etwas herum, suchte nach einer Lüge oder Halbwahrheit, die er mir abkaufen würde, aber da war es schon zu spät.
„Du denkst über den Vorfall mit Jared nach, nicht wahr?"
„Woher ...?", fragte ich verblüfft und schaute ihn aus großen Augen an. War es etwa so offensichtlich? Kannte er mich so gut, dass er mittlerweile sogar schon meine Gedanken lesen konnte?
„Wir sind schon so lange zusammen, da sollte ich dich doch langsam auch ohne Worte verstehen, oder?", erwiderte er lachend und fuhr nun endlich weiter.
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