22. Kapitel
Ein Schrei riss mich aus dem Schlaf und ich setzte mich ruckartig in meinem Bett auf. Ich sass in einem Himmelbett, die roten Samtvorhänge, deren Farbe ich in der Dunkelheit aber nicht erkennen konnte, waren geschlossen. Ruckartig zog ich sie auf und spähte in das runde Turmzimmer hinaus. Ausser meinem Himmelbett, standen hier noch zwei andere, die von Angelina und Alicia, die beide ruhig und regelmässig schliefen. Ich war in meinem Schlafsaal im Gryffindorturm und nicht in diesem verwunschenen Labyrinth – doch die Schreie hielten an. Aber ... weshalb? Weshalb sollte Cedric im Gryffindorturm gefoltert werden? Das machte doch keinen Sinn! Aber seit wann machten Träume Sinn? War es nicht gerade das Wesen der Träume, dass sie keinen Sinn machten? Und trotzdem logisch erschienen? Aber das war unlogisch ...
«Was ist los? Wer schreit da? Adrienne?», kam es von einem der anderen Himmelbetten und kurz darauf zog Alicia den Samtvorhang zurück.
«Mir geht es gut», flüsterte ich in die Dunkelheit unseres Schlafsaals.
Ein weiteres Wusch von Samtvorhängen war zu hören, als auch Angelina die ihren zurückzog.
«Was ist da los?», fragte auch meine zweite Zimmergenossin und zog ihren Zauberstab unter ihrem Kissen hervor. Ein gemurmeltes «Lumos» folgte und das Licht ihres Zauberstabs erhellte unseren Schlafsaal spärlich. Alicia und ich folgten ihrem Beispiel. Und die Schreie waren noch immer zu hören.
Ich befreite mich aus den Laken, griff nach meiner Handtasche mit dem Schwert von Gryffindor und öffnete gerade die Tür zu unserem Schlafsaal, als die Schreie ganz plötzlich verstummten. Wachsam spitzte ich meine Ohren, griff auf das gesteigerte Gehör der Fey zurück und lauschte. Das Patschen nackter Füsse war zu hören, das Rascheln von Bettzeug, Stimmen von anderen Schülerinnen und Schülern, die die Schreie ebenfalls gehört hatten und genauso verwirrt und unruhig waren wie meine Mitschülerinnen und ich. Und Rufen: «Harry! Harry!» Das Rufen hörte ich bei Weitem am deutlichsten. Und dann die Stimme meines Bruders, die antwortete: «Dein Dad! Dein Dad ... ist angegriffen worden ...»
Vor Erleichterung stiess ich die Luft aus, von der ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich sie angehalten hatte. Das klang nicht so, als wäre mein Bruder in unmittelbarer Gefahr.
«Adrienne? Alles in Ordnung?», fragte Alicia und legte vorsichtig eine Hand auf meine Schulter.
«Ich weiss nicht ...», gab ich zurück.
«Wurde jemand angegriffen oder so?», kam es von Angelina. «So wie damals, als Black Ron angegriffen hat?»
«Nein ... nein, ich glaube nicht ... nicht so ...», sagte ich unsicher und hörte im gleichen Moment, wie mein Bruder Ron erneut versicherte, dass dessen Vater angegriffen worden war und dann auch Professor McGonagall, die irgendjemand verständigt haben musste.
Mr Weasley war angegriffen worden ... aber weshalb behauptete Harry das?
Dann entschied Professor McGonagall, dass sie zu Dumbledore gehen sollten – klang nach einer vernünftigen Entscheidung ... wenn Mr Weasley wirklich angegriffen worden sein sollte ...
«Gehen wir wieder ins Bett. Wir werden schon erfahren, was geschehen ist ... Morgen» sagte Alicia und zog mich zurück in den Schlafsaal.
Ich nickte meiner Freundin, Klassenkameradin und Vertrauensschülerin zu. Alicia hatte Recht, wir würden es schon herausfinden. Sowas sprach sich in Hogwarts schnell herum.
Wir krabbelten zurück unter unsere warmen Decken. Ich lauschte weiterhin auf Geräusche und Stimmen. Immer noch war das Gemurmel von anderen Gryffindors zu hören, die miteinander flüsterten und sich fragten, was wohl geschehen war, aber bald wurde es weniger und nach und nach fielen meine Hausgenossen in Schlaf. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe zu den Mädchenschlafsälen. Sie eilten nach oben und kehrten kurz darauf zurück nach unten, begleitet von einem zweiten, leichteren Paar Schritte. Ich hörte nicht, wie sie zurückkehrten. Stattdessen folgte ich den Schreien, die durch die verzauberten Hecken des Labyrinths hallten. Verzweifelt folgte ich ihnen – links – rechts – Sackgasse und kehrt – links – Mitte – links – ... – dann fand ich auf einmal Harry. Er schrie und wand sich, während Viktor Krum ihn mit dem Cruciatus-Fluch traktierte. Von Cedric, den ich sonst hier fand, war keine Spur zu sehen. Ich griff Krum mit der wilden, ungestümen Magie der Fey an, die Gawain mich gelehrt hatte, und erschrocken stolperte er von meinem kleinen Bruder weg.
Wie sich am nächsten Morgen herausstellte, waren alle Weasleys und mein kleiner Bruder über Nacht aus dem Schloss verschwunden, was Umbridge fuchsteufelswild machte. Hermine, die offenbar von Professor McGonagall unterrichtet worden war, erzählte Kaspar, Jessie und mir beim Frühstück am nächsten Morgen, was vorgefallen war: Harry hatte offenbar eine Art Traum oder Vision gehabt, in der er mitbekommen hatte, wie Arthur Weasley angegriffen und schwer verletzt worden war. Daraufhin hatte unsere Hauslehrerin erst meinen Bruder und Ron zum Schulleiter gebracht, der dafür gesorgt hatte, dass Mr Weasley gefunden und ins St.-Mungos-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen gebracht worden war, und danach auch die anderen Weasley-Kinder. Dumbledore hatte die fünf danach ins Hauptquartier des Ordens geschickt, damit sie in der Nähe des Spitals waren – und ausser Umbridges Reichweite.
Ich beschloss, meinen Vater in Zaubertränke oder nach dem Unterricht auszuhorchen, doch dazu sollte es nicht kommen.
«Stimmt es, Seanorth, dass du Diggory einen Liebestrank untergeschoben hast?», fragte mich meine alte Feindin Melanie Cole, als ich gerade meinen Kessel aufbaute.
«Was?», fragte ich irritiert.
«Du hast mich schon verstanden. Hast du Diggory einen Liebestrank verabreicht, damit er wieder mit dir ausgegangen ist, nachdem ihr Schlussgemacht habt?», fragte Cole und fügte dann mit einem kurzen Blick zum Lehrerpult, wo Professor Snape sich für den Unterricht vorbereitete, hinzu: «Amortentia vielleicht?»
«So ein Schwachsinn. Wie kommst du auf so etwas, Cole?», fragte ich verärgert.
«Nun, das ist es, was Cho Chang erzählt», sagte Cole hinterhältig. «Du weisst schon, diejenige, die dir Diggory ausgespannt hat. Diejenige, wegen der du mit Pucey zum Ball musstest – was dir aber offenbar gar nicht so viel ausgemacht hat, wie man hört. Immerhin knutscht ihr ganz öffentlich auf den Korridoren.»
«Was?», fragte ich erneut. Woher wusste Cole ...
«Du solltest wirklich nicht so viel auf Gerüchte geben, Cole», sprang Jessie mir bei.
«Gerüchte?», lachte Cole. «Es gibt Augenzeugen.»
Meine Augen verengten sich. Augenzeugen? Dabei hätte ich schwören können, dass Pucey und ich damals im Quidditchstadion allein gewesen wären. Und auch in jener Nacht in den Kerkern war niemand dagewesen, da war ich mir sicher ...
«Bist du etwa eifersüchtig, dass Pucey Seanorth küsst, aber dich nicht, Cole?», mischte sich eine weitere Stimme ein. Farley kam mir ebenfalls zu Hilfe. «Eifersüchtig, weil Pucey einfach heisser ist als Roger Davis? Aber keine Sorge, Pucey würde dich genauso fallen lassen wie Davis es getan hat. So sind diese Quidditchspieler ... Wanderpokale ...», sagte Farley grinsend.
Wütend funkelte Cole Farley an und zog dann von dannen.
Jessie lachte leise und Farley zwinkerte mir zu, was mich wiederum zum Grinsen brachte, womit es aber schnell vorbei war, als ein Lachen hinter uns erklang.
«Geradezu teuflisch, Farley», sagte Thomas Rockwood, der dritte Slytherin in unserem Zaubertränkekurs, und stellte seinen Kessel dann am vierten, noch freien Platz an unserem Tisch auf. «Also, Seanorth, was läuft denn da nun zwischen dir und Pucey? Küsst er tatsächlich so gut, wie alle sagen? Küsst er besser als Diggory? ... oder küsst Diggory besser und deswegen hast du ihm einen Liebestrank verpasst?»
Verärgert starrte ich Rockwood an. «Verschwinde von diesem Tisch», knurrte ich.
«Nein», sagte Rockwood vergnügt und wandte seine Aufmerksamkeit dann Professor Snape zu, der die Stunde begann. An den kurzen Blicken, die mein Vater immer wieder in unsere Richtung warf, konnte ich ablesen, dass er jedes Wort unserer Unterhaltung mitbekommen hatte. Und dass er nicht sonderlich viel davon hielt.
Die Weihnachtsferien kamen und ich war mehr als froh, als ich gemeinsam mit Kaspar und Jessie den Hogwartsexpress besteigen konnte. In erstaunlichem Tempo hatte sich das Gerücht, dass ich Cedric einen Liebestrank verabreicht haben sollte, in Hogwarts verbreitet. Die meisten hielten es glücklicherweise für blödes Geschwätz und machten sich darüber lustig und dennoch ärgerte es mich. Was versprachen sich Cho und Marietta davon, so etwas zu erzählen? Das Gerücht, dass ich mit Pucey rumknutschte, hielt sich jedoch hartnäckiger – laut Jessie lag es daran, dass Pucey der einhelligen Meinung aller einschlägig bewanderten, einer der besten Küsser der Schule war.
«Sieh es doch mal positiv, Adrienne», meinte Jessie während der Zugfahrt. «Niemand macht dir einen Vorwurf daraus, wenn du gerne von Pucey geküsst wirst, weil sie das alle gerne tun. Und wenn sie dir einen Vorwurf machen, dann weil sie einfach nicht wahrhaben wollen, dass sie Pucey nicht halten können. Farley hat es gesagt: Er gehört zur Sorte Wanderpokal.»
«Hast du Pucey geküsst, Jessie?», fragte Kaspar misstrauisch dazwischen.
«Nein, ich küsse nur dich», sagte Jessie lächelnd.
Der Rest der Zugfahrt über sprachen wir über andere Themen: Die DA – Harry hatte in Aussicht gestellt, dass wir nach den Ferien auch kompliziertere Zauber angehen würden, vielleicht sogar den Patronus –, der Angriff auf Mr Weasley – leider kannte ich immer noch nicht sämtliche Einzelheiten, da ich nach dem Vorfall im Zaubertränkeunterricht meinem Vater aus dem Weg gegangen war. Jungs waren ein Thema, über das ich mit Professor Snape nicht sprechen wollte –, unsere Ferienpläne – was soviel hiess wie die grosse Bibliothek von Londinium von oben nach unten nach einem passenden Schutzritual zu durchsuchen, dass wir dann in Hogwarts anwenden konnten.
«Ich habe ehrlich gesagt immer noch nicht ganz verstanden, was dieses Ritual genau bewirken soll», sagte Kaspar.
«Es soll das Schloss gegen das Eindringen von Voldemort und seinen Todessern schützen», erklärte ich. «Damit die Schüler im Schloss in Sicherheit sind, wie Helena sich das wünscht.
«Ich bezweifle, dass die Gründer Hogwarts explizit gegen Voldemort geschützt haben», sagte Kaspar. «Sie werden es gegen Feinde geschützt haben, die der Schule, den Schülern oder ihnen selbst etwas Böses wollten. Aber wie? Versteht ihr? Woher sollte das Schloss wissen, gegen wen dieses Schutzritual wirken muss? Wie weiss man, ob jemand der Schule und den Schülern etwas böses will? Und ist es nicht auch Ansichtssache, was nun gut ist und was böse?»
«Mach nicht immer alles so kompliziert, Kaspar», beklagte ich mich und runzelte die Stirn.
«Nun, gewisse Handlungen können wohl immer als böse verstanden werden», meinte Jessie. «Zum Beispiel ein Angriff auf das Schloss und seine Bewohner.»
«Aber was ist, wenn das Schloss unterwandert wurde? Und nun die Bösen im Schloss sind und die Guten draussen? Kämpft das Schloss dann gegen die Guten?», sagte Kaspar.
«Bei Merlin, Kaspar, du machst es wirklich kompliziert», kommentierte Jessie.
«Aber solche Punkte müsste man bei einem derartigen Ritual doch auch berücksichtigen», verteidigte sich Kaspar.
«Natürlich müsste man ...», sagte ich nachdenklich. «Dann müssen wir also erst herausfinden, was das genau für ein Schutzzauber war, den die Gründer gewirkt haben ...»
«Nicht unbedingt», sagte Jessie.
«Wie meinst du 'nicht unbedingt'?», fragte ich.
«Nun, wir wissen, dass sie ein Schutzritual gewirkt haben – zusätzlich zu allen anderen Zaubern und so weiter, die das Schloss schützen. Natürlich wäre es interessant zu wissen, was dieser Zauber alles bewirkt hat, aber solange Finëa uns das nicht erzählt, wird es verdammt schwierig, vermutlich unmöglich, das herauszufinden», erklärte Jessie. Kaspar und ich nickten einverständlich. So viel war klar. «Aber solange es nicht unser Ziel ist, genau den gleichen Schutzzauber zu wirken, müssen wir das auch gar nicht so genau wissen.»
«Dann schlägst du also vor, wir sollen ein eigenes Schutzritual aufbauen?», fragte ich.
«Kein eigenes», sagte Jessie, «dafür haben wir alle viel zu wenig Ahnung von Ritualmagie, aber wir sollten eines finden, dass möglichst gut passt und nicht nur kurzfristig auf Voldemort und seine Todesser zugeschnitten ist.»
«Und eines, von dem wir verstehen, wie es wirkt», ergänzte Kaspar. «Eines das auch noch der richtigen Seite hilft, wenn die Plätze einmal vertauscht sein sollten.»
«Ich wäre ja für eins, das dafür sorgt, dass die Plätze erst gar nicht vertauscht werden», grummelte ich.
Jessies Vater, Mr Silver, holte uns allein vom Bahnhof ab – Ma und Gawain waren beide zu beschäftigt und hatten Mr Silver gebeten, sie zu entschuldigen. Ich war enttäuscht, aber auch nicht wirklich überrascht deswegen.
Nachdem wir unsere Koffer zuhause abgeladen hatten, trafen Jessie, Kaspar und ich uns in der grossen Bibliothek von Londinium, um nach einem passenden Ritualzauber zu suchen. Die Bibliothek war in einem prachtvollen Gebäude einige Strassen vom Hafen entfernt untergebracht und hatte von frühmorgens bis spätabends geöffnet. In unzähligen Büchern und Dokumenten, in Schriftrollen, Karten, Skizzen und Zeichnungen, Verträgen, Berichten, Berechnungen, .... lagerte hier der grösste Schatz an Wissen über die magische Welt in all ihren Facetten, Völkern und Gruppierungen in ganz Grossbritannien. Und das Wissen wurde rege genutzt: Zu allen Tageszeiten war die Bibliothek gut besucht – wenn auch von unterschiedlichem Publikum. An diesem Abend waren zumeist Studenten der Londinium University anwesend, die nun, da das Semesterende näher rückte, eifrig für die Prüfungen büffelten und an ihren Seminararbeiten schrieben. Aber es gab auch einige Leute, die in der belletristischen Sammlung der Bibliothek schmökerten und nach Lesestoff für die Festtage suchten – Abenteuerromane, Krimis, Liebesgeschichten, Gedichte, ....
Jessie, Kaspar und ich fragten nach der Abteilung über Ritualmagie und insbesondere Schutzritualen und ernteten von der Bibliothekarin an der Theke ein müdes Lächeln. Bücher zu diesem Thema seien derzeit besonders begehrt, meinte sie, bevor sie uns in den dritten Stock schickte, wo wir hoffentlich fündig werden würden. Auf dem Weg nach oben kamen wir an der Abteilung zu Geistern und der Anderswelt vorüber, die den gesamten zweiten Stock einnahm. Hier hatte ich einmal zusammen mit Jessie, Kaspar und Cedric nach einem Geisterbeschwörungsritual gesucht – mit mässigem Erfolg: Cedric war von einem Buch besessen worden und hatte versucht mich zu verwünschen. Nur ein magischer Schutzanhänger, den ich von Lily geschenkt bekommen hatte, die ihn wiederum von meinem Vater hatte, hatte mich vor dem finsteren Zauber gerettet. Dann war Gawain aufgetaucht und hatte uns alle zu meiner Ma geschleppt, die uns sehr gründlich zurechtgestutzt hatte. Meine Hand legte sich auf meine Brust in Erinnerung an die Hitze, die der magische Schutzanhänger ausgestrahlt hatte. Vielleicht sollte ich die Kette wieder tragen, jetzt wo Voldemort wieder da draussen war ...
Die Abteilung zu Ritualmagie nahm zum Glück nicht das ganze dritte Stockwerk ein, war aber dennoch ziemlich gross: sechs Räume, alle bis unter die Decke mit Büchern, Mappen und Pergamentrollen vollgestopft. Die Abteilung war gut geordnet und in verschiedene Bereiche eingeteilt: Ritualmagie für Anfänger, Theoretisches Wissen, Heilzauber, Kampfzauber, Wetterzauber, Grosse Magie, ... Letzteres klang besonders faszinierend und zu gerne hätte ich einen Blick in die Bücher dort geworfen, dann fand ich die Regale, die beschriftet waren mit Schutzzauber. Es waren drei Stück, die die ganze Länge des Raums einnahmen und vom Boden bis zur Decke reichten. Und dennoch waren sie halb leer.
«Nun, die Bibliothekarin sagte ja, das Thema sei derzeit besonders beliebt», erklärte Jessie, die die Regale und die Lücken in den Beständen ebenfalls entdeckt hatte.
«Aber so begehrt ...?», sagte ich.
«Immerhin ein Anfang», sagte Kaspar pragmatisch. «Wir kommen wahrscheinlich ohnehin nicht mit allen Büchern durch.» Er strich mit dem Finger den Regalreihen entlang und zog sich einige Bände mit vielversprechenden Titeln heraus. Jessie und ich folgten seinem Beispiel, dann suchten wir uns einen freien Lesetisch und schlugen die Bücher auf.
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, uns durch die Bibliothek von Londinium zu suchen – mehr oder weniger zumindest. Während Jessie konzentriert wie immer die Bücher durchblätterte, waren Kaspar und ich nicht ganz so konzentriert bei der Sache. Natürlich war mir bewusst, wie wichtig es war, dass dieser Schutzzauber einwandfrei wirkte, jedoch fehlte mir im Moment die Ausdauer, mit auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Immer wieder kritzelte ich lust- und sinnlos auf dem Notizblock herum, auf dem Kaspar, Jessie und ich Kriterien für den Schutzzauber notiert hatten: Das Augenmerk des Zaubers sollte auf Verteidigung liegen. Niemand sollte den Bewohnern des Schlosses Schaden zufügen können. Aber wie genau das erreicht werden sollte war vollkommen offen. Und so blätterten und blätterten wir Seiten um Seiten in Büchern, die kein Ende nehmen wollten. Zwischendurch schielte ich nach rechts und links zu den anderen Arbeitsplätzen, wo Studentinnen und Studenten Texte und Vorlesungsnotizen durchlasen.
Kaspar hatte es mittlerweile ganz aufgegeben und einen der Studenten angesprochen, mit dem er nun plauderte. Vor dem Studenten auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Es war von Hand geschrieben und der Text war wunderschön koloriert. Ich stand auf, um mir das ganze genauer anzusehen. Der Zeichner hatte wirklich Talent besessen. Was den Text anging ... ich verstand kein Wort. Da war zum einen die Handschrift, die zwar zweifellos schön und sauber war, aber doch so ganz anders als die Schrift, die wir heute brauchten, zum anderen war ich mich ziemlich sicher, dass der Text in Latein war. Kaspar bestätigte diese Vermutung.
«Joshua studiert an der Londinium University Geschichte der magischen Gemeinschaften des Mittelalters im dritten Semester», erklärte Kaspar mit begeistert funkelnden Augen.
«Im Hauptfach. Und im Nebenfacht Geschichte der magischen Gemeinschaften der frühen Neuzeit», führte Joshua aus. «Auch wenn ich mir gerade wünsche, es wäre umgekehrt. Mit Altenglisch komme ich definitiv besser zurecht als mit Latein.»
«Aber abgesehen vom Latein gefällt es dir?», wollte ich wissen.
Joshua zuckte mit den Achseln. «Im Grunde genommen schon, aber gerade versaut mir die ganze Lernerei etwas die Weihnachtsstimmung. Aber da kann man nichts machen gegen. Was ist mit euch?»
«Wir machen im Sommer unseren Schulabschluss in Hogwarts», erklärte Kaspar.
«Hogwarts ...», machte Joshua stirnrunzelnd. «Ist das nicht diese Zauberschule ... Internat für Hexerei und Zaubere ... gegründet um das Jahr 1000 nach Christus ... bilden seither Hexen und Zauberer gleichermassen aus ...?» Hastig begann Joshua in Stapeln von Vorlesungsnotizen nach einer Bestätigung zu wühlen.
«Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei genau. Gegründet im Jahr des Herrn 993 von den vier brillantesten Hexen und Zauberern ihrer Zeit: Godric Gryffindor, Helga Hufflepuff, Rowena Ravenclaw und Salazar Slytherin, sowie von der Fey Finëa di Finjarelle als fünfter, mittlerweile jedoch lange in Vergessenheit geratener Gründerin», rasselte Kaspar herunter.
Überrascht blinzelte Joshua Kaspar an. «Nicht schlecht. Weisst du das alles einfach, weil du ein Hogwartsschüler bist, oder bist du auch ein Geschichtsfreak wie ich?»
«Ähm ...», machte Kaspar, «ich schätze mal, ich bin ein Geschichtsfreak ...? An unserem Geschichtsprofessor kann es jedenfalls nicht liegen, der ist fürchterlich langweilig.»
Wow, und dieses Eingeständnis ausgerechnet von Kaspar, einem der wenigen, der bei Binns UTZ-Kurse belegt hatte. Aber natürlich war Jessie, Kaspar und mir allen klar, dass Kaspars exzellentes Geschichtswissen in diesem Fall darauf zurückzuführen war, dass er selbst ein Hogwartsschüler der ersten Generation war ... und ein Geschichtsfreak.
«Ja, solche Profs haben wir leider auch», sagte Joshua seufzend. «Aber das ist vermutlich nicht zu vermeiden. Die meisten aber sind total in Ordnung und einige sogar richtig begeistert. Es ist schon etwas anderes, wenn man einen Dozenten hat, der total Feuer und Flamme ist für das, was er unterrichtet und ich finde man kann es sich dann auch viel besser merken.» Nachdenklich sah er auf seine Notizen. «Und es macht auch einen Unterschied, ob der Dozent eigene Erfahrungen gemacht hat oder nur etwas erzählt, dass er selbst nur irgendwo gelesen hat. Mit unserem Prof für magische Bildung im Mittelalter ist es leider genauso ... zumindest in diesem speziellen Fall. Aber Leute, die einmal in Hogwarts zur Schule gingen, gibt es an der Londinium University ja leider kaum.» Ein Grinsen schlich sich auf Joshuas Gesicht und er schob seine Notizen zusammen. «Vielleicht sollte ich die Gunst der Stunde nutzen und mir einige Informationen aus erster Hand besorgen. Was meint ihr? Habt ihr Lust auf einen Glühwein? Ich habe die Lernerei für heute satt.»
Kaspar und ich schlossen uns begeistert an und auch Jessie protestierte nur halbherzig, dass es doch noch viel zu früh sei, um Schluss zu machen und nur wenige Minuten später hatten wir unsere Bücher wieder verräumt und schlenderten gemeinsam mit Joshua durch die verschneiten Gassen Londiniums in Richtung Hafen. In den Markthallen dort gab es einen Weihnachtsmarkt, wo es von Tand, über diverses Essen und Getränke alles gab, was man sich von einem Weihnachtsmarkt erwartete. Wir besorgten uns alle eine Tasse Glühwein und scharten uns dann um eine Feuerschale, die man auf dem grossen Platz am Hafen aufgebaut hatte.
«Also, Joshua», sagte Jessie und nahm den Studenten ins Visier. «Du bist uns gegenüber im Vorteil: Du weisst, dass Adrienne und ich Hexen sind und Kaspar ein Zauberer, weil wir noch Hogwarts gehen, aber wir wissen nicht, was du bist.»
Joshua lachte. «Das stimmt natürlich. Ich bin ein Unsterblicher.»
Ein Unsterblicher. Seit Gaius gestorben war, hatte ich nicht mehr persönlich mit Unsterblichen zu tun gehabt – ausser bei meinem kurzen Praktikum beim AZMGUK im vergangenen Sommer. Unsterbliche waren eigentlich ganz gewöhnliche Menschen, nur dass sie nicht so alterten wie diese und über Magie verfügten.
«Und wie alt bist du?», fragte ich neugierig und ignorierte Jessies vorwurfsvollen Blick. Ja, vielleicht war es unhöflich, so etwas zu fragen ...
Joshua jedoch schien es mir nicht übel zu nehmen. «Ich bin neunzehn», sagte er und lachte wieder. «Im Grunde genommen habe ich also keine Ahnung was es bedeutet, ein Unsterblicher zu sein. Auch wenn ich sagen muss, diese magischen Kräfte sind schon ziemlich praktisch ... aber auch beängstigend.»
«Inwiefern beängstigend?», fragte Jessie nach.
Na, wer war nun neugierig?
«Nun ja, es gibt ja ganz verschiedene Arten von Magie. Hexen und Zauberer benutzen zum Zaubern einen Zauberstab, richtig? Die Magie von uns Unsterblichen ist anders: Wir greifen auf Lebenskraft zu: auf unsere eigene oder auf andere Lebenskraft um uns herum. Oder aber wir erschaffen die Kraft selbst ... oder so – ich kenne mich damit ehrlich gesagt nicht so gut aus», sagte Joshua und nippte verlegen an seinem Glühwein.
«Kann man an der Londinium University auch Magie studieren?», wechselte Jessie das Thema.
«Ich glaube schon», sagte Joshua überrascht blinzelnd. «Theoretische Magie heisst das Studium, glaube ich, da geht es um die Konzepte, nach denen die Magie funktioniert und die verschiedenen Möglichkeiten, wie Magie angewandt werden kann. Soll fast so schlimm sein wie Theoretische Physik habe ich gehört. Weshalb? Überlegst du es dir? Ihr seid ja in eurem letzten Jahr, hat Kaspar gesagt ...»
Jessie nickte und schoss gleich die nächste Frage auf Joshua ab. Was konnte man sonst noch so an der Universität von Londinium studieren? Als ob sie sich nicht bereits vor Ewigkeiten informiert hätte ... Und was empfahl Joshua?
Kaspar und ich grinsten uns über die Flammen hinweg an und ich verdrehte amüsiert die Augen. Typisch Jessie.
«Nehmt ihr eigentlich am Neujahrsturnier teil?», gelang es Joshua schliesslich irgendwann das Thema zu wechseln.
«Neujahrsturnier?», hakte ich überrascht nach. Von einem Neujahrsturnier hatte ich bisher noch nichts gehört.
«Na, im Amphitheater gab es zu Mittwinter doch immer ein Turnier», erklärte Joshua. «Eine Tradition, die der frühere Leiter der Kriegerschule dort eingeführt hat. Und das haben sie nun auf Neujahr verschoben ... ich glaube es geht darum, sein Andenken zu ehren oder so ... Ich hab's ehrlich gesagt noch nicht so ganz kapiert, aber bisher durchschau ich sowieso nur die Hälfte von diesem ganzen Unsterblichen-Zeugs, aber da ich ja selber einer bin, habe ich noch unendlich lange, es doch noch zu begreifen.» Joshua grinste in die Runde.
Stirnrunzelnd sah ich in die Flammen. Ich begriff auch nicht, wieso jemand Gaius traditionelles Julturnier auf Neujahr verschob. Würde man es nicht besser so beibehalten wie bisher? Damit konnte man Gaius doch am besten Gedenken und darum ging es doch?
----------------------------
Hallo zusammen
Schön, dass ihr immer noch dabei seid und euch für Adriennes Geschichte interessiert. Da ich unverhoffterweise nun doch noch zu Weihnachtsferien gekommen bin, werde ich in Zukunft auch hoffentlich wieder etwas öfter updaten können.
Noch eine kleine Anmerkung: Bei den Unsterblichen beziehe ich mich wie bis anhin auf die Trilogie Immortal Beloved von Cate Tiernan.
Ich wünsche euch noch einen frohen, restlichen Advent und schöne Weihnachten
Eure Daydream-Fantasy
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro