3. Kapitel
Der Gesichtsausdruck, mit dem Harry zum allerersten Mal in seinem Leben Londinium betrat, war ein altvertrauter. Es war der, den alle zeigten, die die verborgene Stadt das erste Mal betraten: Angehaltener Atem, weit offener Mund und Augen so gross wie Tennisbälle. Die Stadt bot aber auch wirklich einen beeindruckenden Anblick. Sie entsprach dem London des fünften Jahrhunderts nach Christus und unterschied sich mit seinen römischen Gebäuden, gepflasterten Strassen und kleinen Plätzen mit Bäumen und Brunnen gravierend vom London von heute. Und dann war da natürlich noch das grosse Amphitheater, das alles überragte und das Stadtbild entscheidend prägte. Wenn man diesen Anblick erst einmal in sich aufgenommen und verarbeitet hatte und sich dann auf den Weg in die Stadt hinein über die kopfsteingepflasterten Strassen machte – klappte einem zumeist erneut der Kiefer auf angesichts der Leute, die an einem vorbeispazierten. Verblüfft starrte Harry einem Faun nach, der neben einer hübschen Dryade herschlenderte und sie mit einer Geschichte zum Lachen brachte. Die anderen Personen, denen wir begegneten, waren unspektakuläre Menschen oder menschenähnliche Geschöpfe – ob es sich bei ihnen um Halbgötter, Unsterbliche, Begabte, Gestaltwandler, Hexen, Zauberer, gewöhnlichen Menschen oder etwas ganz anderes handelte, war nicht zu sagen. Trotzdem fiel es Harry schwer, sie nicht anzustarren.
«Warum tragen sie alle dieselbe Kleidung?», fragte er überrascht.
«Es ist nicht exakt dieselbe», erklärte ich, «aber einfache Hemden oder Tuniken und eine einfache, weite Leinenhose plus Holzsandalen sind die gängigsten Kleider hier, da sie in allen Jahrhunderten mehr oder weniger vertreten waren.»
Harry sah mich verwirrt an und brachte mich zum Schmunzeln.
«Es gibt einige Bewohner hier, die bereits seit Jahrhunderten hier leben. Zum Beispiel Gaius –»
Ich brach ab. Gaius, ein ehemaliger römischer Legionär, der im Amphitheater eine Kriegerschule eingerichtet hatte, war noch zur Zeit der römischen Republik geboren worden und seit Cäsars ersten Feldzügen in Britannien. Londinium kannte er sogar noch aus der Zeit, lange bevor die Stadt verborgen worden war. Einmal hatte er mir erzählt, dass London nichts als ein etwas grösseres Dorf am Ufer der Themse gewesen war, als er zum ersten Mal hier gewesen war. Gaius lebte also seit gut zweitausend Jahren hier. Oder besser: Er hatte gut zweitausend Jahre hier gelegt. Nun war er tot, gefallen in einem magischen Ritual, mit dem wir letztes Jahr den mächtigen Dämonenkönig Balor aus Hogwarts vertrieben hatten.
Eine warme Hand legte sich tröstend auf meine Schultern und ich sah hoch in Jakes verständnisvolle, braune Augen.
«Dann sind diese Leute ... unsterblich?», fragte Harry ehrfürchtig.
«Genau», erklärte Jake.
«Gibt es viele Unsterbliche?», fragte Harry neugierig.
Jake nickte. «Einige. Aber sie sind nicht alle menschlich und sie sterben auch – ihr Leben dauert einfach um ein Vielfaches länger als unseres. Und es gibt verschiedene ... Arten ... von Unsterblichen.»
Harry sah ihn aufmerksam an.
«Zum einen sind da die sogenannten Unsterblichen; im Grunde genommen sind sie Menschen, die aber einfach nicht sterben, wenn es eigentlich an der Zeit für sie wäre – und sie altern ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr, respektive nur noch ganz langsam. Dann gibt es die Fey, wie Kathleen und Gawain – die beiden kennst du ja bereits. Und noch einen ganzen Haufen weiterer Wesen, wie zum Beispiel Elementgeister wie Dryaden, Najaden, Nereiden und Sylphen. Faune und Zentrauen leben auch um einiges länger als Menschen und auch die Zwerge. Begabte, Gestaltwandler und Halbgötter leben etwa gleich lang wie wir.»
Während Jake erzählt hatte, hatten wir einige weitere Strassenzüge durchquert und standen nun vor einem grossen, zweistöckigen Komplex, dessen Tor offen stand und in einen gepflasterten, quadratischen Innenhof mit einem Brunnen und einem grossen, alten Baum führte. Rund um den Innenhof verlief ein überdachter Gang, wie ein Kreuzgang im Kloster. An den drei von der Strasse abgewandten Seiten schlossen sich Gebäude an den Gang an. Sirius hielt auf eines davon zu und hielt uns die Tür auf. Drinnen war es gemütlich kühl im Vergleich zur schwülen Sommerhitze draussen. Ich zog meine Schuhe und die aus und trat mit nackten Füssen auf den kühlen Steinboden. Einfach herrlich.
«Adrienne!», rief Harry entsetzt, als ich mich der Treppe ins Obergeschoss zuwandte. «Bist du wahnsinnig?» Sein Blick huschte zwischen mir und dem schwebenden Koffer hin und her, der mir wie ein braves Hündchen folgte.
«Wir dürfen ausserhalb der Schule nicht zaubern, das weisst du doch», protestierte er.
Ein breites Grinsen legte sich auf meine Lippen. «In Londinium schon», erklärte ich meinem kleinen Bruder. «Und ausserdem bin ich sowieso fast volljährig. Am dreiundzwanzigsten September werde ich siebzehn – falls du es vergessen hast.»
Harry, Jake und Sirius folgten mir die Treppe hoch, während Remus versprach, uns etwas zu essen zu machen. An der Tür zu seinem neuen Zimmer liess ich meinem Bruder den Vortritt und neugierig ging er hinein.
Der Raum war nichts Besonderes: ein Bett mit roten Leintüchern, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank, ein runder, kuschliger, roter Teppich am Boden, rote Vorhänge vor den Fenstern. Und dann war da noch das rotgoldene Gryffindorbanner, dass einen Grossteil der Wand einnahm.
«Remus meinte, dass noch ein Bücherregal fehlt, aber ich konnte ihn davon abhalten, eines aufzubauen», erklärte Sirius grinsend. «Wenn du natürlich darauf bestehst, kannst du trotzdem eins haben.»
Nachdem wir Harrys Koffer abgeladen hatten, gab Jake noch eine kleine Hausführung und zeigte, in welchen Zimmern er, Sirius und Remus schliefen, wo das Bad war, die Küche, das Ess- und Wohnzimmer.
«Fernsehen gibt's hier leider nicht, Harry, und auch keinen Strom – aber da du in Londinium zaubern darfst, kommst du sicher bestens ohne aus», meinte Jake lächelnd. «Fliessendes Wasser hat es, das hat Kathleen gleich eingerichtet, nachdem ich das Haus gekauft habe.»
«Wo ist dein Zimmer?», fragte Harry mich, als wir uns an Remus Sandwiches bedient hatten und gemütlich hingelümmelt am Tisch sassen.
«Ich wohne bei Ma und Kaspar. Ein paar Strassen weiter. Ich kann es dir nachher zeigen», sagte ich.
Harry nickte, sah aber enttäuscht aus.
Als ich Harry am nächsten Morgen abholte, um ihm die Stadt zu zeigen, war ich nicht allein – ich hatte sie einfach nicht davon abhalten können, mitzukommen.
«Hey Harry!», riefen die Weasleyzwillinge unisono. «Wir dachten, wir würden dich erst in ein paar Wochen zur Weltmeisterschaft wiedersehen. Bist du wirklich bei Sirius Black eingezogen?»
«Bin ich», erklärte Harry verlegen und sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf. Jake hatte darauf bestanden, dass niemand erfuhr, wer er wirklich war. Natürlich wussten es meine besten Freunde Kaspar, Jessie und Cedric sowie Hermine und Ron trotzdem, aber die Zwillinge hatten keine Ahnung. «Und was macht ihr beiden hier?»
«Wir besuchen Adrienne», erklärte George.
«Und investieren in unsere Zukunft», erklärte Fred.
«Weisst du», sagten die beiden und nahmen Harry in die Mitte. «Wir haben beschlossen, dass der akademische Weg nicht der richtige für uns ist. Und nun, da wir unsere ZAGs abgelegt haben, müssen wir uns ernsthaft damit befassen, was wir einmal beruflich machen wollen.»
«Was denn? Und was hat das mit Londinium zu tun?», fragte Harry stirnrunzelnd.
«Wir haben vor, einen eigenen Scherzartikelladen zu eröffnen», begann Fred.
«Und unsere selbst entwickelten Scherzartikel zu verkaufen», ergänzte George. «Aber dafür brauchen wir natürlich eine Menge Ahnung von allerlei Dingen, die man für Scherzartikel gebrauchen kann.»
«Und da wir wohl kaum in Snapes UTZ-Kurs kommen ...»
«... haben wir eine Alternative gesucht.»
Kopfschüttelnd beobachtete ich die breitgrinsenden Zwillinge und Harrys verwirrte Miene. Ich selbst war auch irritiert gewesen, als ich am zweiten Ferientag eine Eule von den Zwillingen erhalten hatte – die beiden schrieben eigentlich nie Briefe – und sie mich gefragt hatten, ob Ma vielleicht einen Alchemisten oder eine Alchemistin kennen würde, der die beiden unterrichten könnte. Ma kannte tatsächlich jemanden, eine junge Frau namens Marcella Pye, und so waren die Zwillinge zu uns nach Londinium gekommen.
«So, wir müssen dann auch schon wieder weiter», erklärte Fred.
«Haben nicht den ganzen Tag Zeit für Müssiggang», ergänzte George.
«Wir sehen uns!», riefen sie, bevor sie davon zogen.
Zurück blieben Kaspar, Harry und ich. Kopfschüttelnd sah ich den beiden nach.
Gegen Ende Woche kannte Harry den Weg zu allen wichtigen Orten in Londinium: seinem Haus, unserem Haus, dem Amphitheater – eine Halbgöttin namens Boudicca hatte beschlossen, Gaius' Kriegerschule weiterzuführen – und zum Themsehafen, dem Herzen Londiniums mit dem kleinen Senat, alias Stadtverwaltung, seiner grossen, belebten Markthalle und dem Marktplatz, auf dem immer etwas los war, sowie der Bibliothek, die einen gewaltigen Schatz an Wissen über Magie und die verschiedenen magischen Völker Grossbritanniens beherbergte. Es war ganz gut, dass Harry sich nun allein zurechtfand, denn Jessie und Cedric kamen zu besuch und – bei aller Liebe – ich hatte keine Lust, Harry die ganze Zeit mitzuschleppen, während wir Londiniums Strassen unsicher machten.
«Kommt ihr auch zur Quidditch-Weltmeisterschaft?», fragte Cedric gleich an unserem ersten Abend beim Essen und sah aufgeregt in die Runde.
Fred, George und Jessie nickten eifrig. Kaspar und ich schüttelten die Köpfe. Ma hatte keinen Sinn für solche Dinge und wir beide waren ohnehin nicht allzu quidditchbegeistert.
«Was ist Quidditch?», fragte Gawain.
Die Zwillinge sahen den blonden Fey, seines Zeichens Ma's Freund, entsetzt an, bevor sie sich gemeinsam mit Cedric in einer ausführlichen Erklärung der besten Sportart der Zaubererwelt – nein, der besten Sportart überhaupt, ergingen.
Gawain war nie mit der Zaubererwelt in Kontakt gekommen, bevor er Ma kennengelernt hatte. Er war in einer keltischen Gemeinschaft erzogen und zum Priester – oder Druiden, das war einerlei – ausgebildet worden. Ma hingegen hatte schon von Kindesbeinen an mit der Zaubererwelt zu tun: Ihre Grossmutter und Kaspars und meine Schulfreundin Xameria Stormhold, hatte Hogwarts zur Zeit der Gründer besucht – genau wie wir beide, ich wegen einer unbeabsichtigten Zeitreise, aber das war eine andere Geschichte.
Ich spürte, dass Gawains anfängliche Neugier abflaute und er nun mehr gelangweilt zuhörte, während die drei jungen Quidditchspieler ihm eifrig alles erklärten, was man über Quidditch wissen musste – also alles. Ich beobachtete ihn mit einer Mischung aus Ärger und Neugier. Seit dem Ritual war Gawain schlecht auf mich zu sprechen, auch wenn das mittlerweile über einen Monat her war. Aber vielleicht lag es nicht allein daran, dass ich ihn durch mein überstürztes Handeln beinahe getötet hätte – und mich selbst auch. Seither war etwas anders zwischen uns. Es war eine Art ... seltsamer Verbindung, durch die ich manchmal seine Gefühle spüren konnte so wie jetzt.
Gawain sah auf und erwiederte meinen Blick finster. Auf einmal hatte ich das Gefühl, als würde mich jemand nach hinten schupsen und die Empfindung brach ab. Irgendwie konnte Gawain dieses ... Was-auch-immer-es-war einigermassen kontrollieren. Jedenfalls konnte er mich aussperren, was mir bisher noch nie gelungen war.
Aus diesem Grund war mir auch nicht ganz wohl, als ich in den nächsten Tagen Hand in Hand mit Cedric durch die Gassen Londiniums lief und die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder einmal summten wie ein Bienenstock. Ganz besonders beim Küssen war ich unsicher – mir war unwohl beim Gedanken, dass Gawain all das fühlen konnte, das ich fühlte, wenn Cedric meine Hand hielt oder wir uns küssten. Und schon gar nicht, wie Cedrics Hand unter den Rand meines T-Shirts schlüpfte und sanft und gleichzeitig so betörend verführend über meine nackte Haut strich, dass ich nach Luft schnappte. Das alles ging Gawain nichts an. Dass ich seine Hand unter meinem T-Shirt wegschob, akzeptierte Cedric ohne Protest, als ich mich dann aber wiederholt aus unseren Küssen löste, wurde er schon misstrauisch.
«Ist alles in Ordnung, Adrienne?», fragte er besorgt.
«Ich ... weiss nicht. Es ist alles ... es ist so kompliziert.» Das war es wirklich, kompliziert. Nicht einmal Gawain, der sich mit diesem Ritual-Zeugs am besten auskannte, konnte wirklich eine Erklärung für diese Verbindung finden. Nur, dass es vielleicht daran liegen könne, dass er unser beider Bewusstsein in dem Zauber gegen Balor verschmolzen hatte und es dann nicht sauber wieder getrennt worden war. Kein Wunder, schliesslich hatte er uns beide gewaltsam aus dem Ritual gerissen, damit ich uns nicht versehentlich umbrachte.
«Was soll das heissen: kompliziert? Adrienne, wenn es da jemanden anderen gibt ... ich werde dir das nicht übel nehmen, aber bitte sag es mir.»
«Es gibt niemand anderen!», protestierte ich.
«Was ist es dann?»
«Es ist ... wie gesagt, es ist ziemlich kompliziert. Ich versteh es selbst nicht.» Aus irgendeinem Grund widerstrebte es mir, Cedric davon zu erzählen. «Aber es liegt nicht an dir, Cedric. Ich will dich küssen, glaub mir. Ich will das alles. Ich ... ich will ... ich will dich. Aber es fühlt sich gerade nicht richtig an.»
«Du willst es, aber es fühlt sich nicht richtig an?», fragte er verwirrt.
«Ja, verdammt», stiess ich frustriert aus.
Cedric schüttelte den Kopf: «Ich versteh dich nicht, Adrienne.»
«Ich weiss», murmelte ich und sah ihn unsicher an. Mein Blick blieb an seinen Lippen hängen, diesen Lippen, die ich so gerne küsste. Ich wollte sie auf meinen spüren. Auf meiner Wange, an meinem Hals ... Sollte Gawain doch zur Hölle fahren!
Ich trat einen Schritt auf Cedric zu und zog ihn zu mir. Ich war nicht klein, aber er war noch ein Stückchen grösser. Dann trafen unsere Lippen aufeinander und die Schmetterlinge schlugen wieder Purzelbäume. Cedrics Hand schlüpfte erneut unter den Saum meines T-Shirts und streichelte meine nackte Haut, liess mich aufstöhnen. Er sollte nie wieder damit aufhören. Irgendwann spürte ich den kühlen Stein der Hauswand, die diese schmale, verborgene Seitengasse begrenzte, in meinem Rücken. Ich zog Cedric noch näher zu mir.
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