24. Kapitel
Ein paar Tage später flatterte mein Mäusebussard Theo zusammen mit den Posteulen beim Frühstück in die grosse Halle. Das machte er öfters, um ein paar Happen gebratenen Speck oder Schinken abzubekommen. Dieses Mal trug er allerdings mehrere Briefe bei sich. Einer war von Joanne, die mir von der Schule berichtete und dass diese wie immer stinklangweilig sei im Vergleich zu dem, was ich in Hogwarts so erlebte. Ich beschloss ihr zu schreiben und sie damit zu trösten, dass bei ihr wenigstens keine unschuldigen Leute versteinert wurden – nur ein paar Tage zuvor hatte man Justin Finch-Fletchley versteinert aufgefunden. Oder besser Harry hatte ihn gefunden, was ihm natürlich mächtig Ärger einbrockte und die Leute in ihrer Überzeugung bestärkte, dass Harry der Erbe Slytherins war, auch wenn Dumbledore von Harrys Unschuld überzeugt war – wenigstens etwas. Fast noch schlimmer als Justins Versteinerung war die vom kopflosen Nick. Welches Monster war in der Lage, einem Geist etwas anzutun? Diese Frage war es, die allen Schülern durch den Kopf ging und ihnen nachts Albträume bereitete. Eine Gefahr, vor der nicht einmal die Geister sicher waren ... Auch Finëa liess diese Frage frösteln.
Der zweite Brief war von meiner Ma:
Liebe Adrienne
Ich wurde von Professor Dumbledore über die Vorfälle in Hogwarts unterrichtet. Er möchte, dass ich vorbeikomme und mir alles einmal ansehe. Er hofft, dass ich helfen kann, das Wesen, das für die Angriffe verantwortlich ist, zu identifizieren und ich hoffe das auch.
Vorher aber möchte ich ein Wort mit Harry wechseln, den angeblich alle für den Schuldigen halte. Keine Sorge, ich bin überzeugt davon, dass dein Bruder nicht verantwortlich dafür ist. Trotzdem halte ich die Idee eines Parselmunds als Erben für vielversprechend.
Zudem habe ich eine Aufgabe für dich: Severus hat mir von deinem Samhain-Ritual erzählt und davon, dass Gryffindor und Slytherin dort anwesend waren. Bitte frage Finëa, ob sie eine Möglichkeit kennt, die Toten auch an anderen Tagen als Samhain zu beschwören und stelle selbst Nachforschungen an, wenn sie dir nicht weiterhelfen kann. Ich werde mich ebenfalls umhören, dann können wir bei unserem nächsten Treffen unser Wissen zusammentragen.
Wir sehen uns zu deiner nächsten Obscurusstunde.
Und bis dahin ...
Liebe Grüsse
Deine Ma, Kathleen Seanorth
Ich reichte den Brief an Kaspar weiter, der bereits gespannt darauf wartete, was für Neuigkeiten meine Mutter hatte. Er war alles andere als begeistert davon, dass wir Harry unser dunkles Geheimnis verraten sollten.
Unterdessen nahm ich mir den dritten Brief vor. Überrascht stellte ich fest, dass er von Mrs Flamel war.
Liebe Adrienne, lieber Kaspar,
liebe Jessie, lieber Cedric, Fred und George
Gerne möchten Nicolas und ich euch alle einladen, Weihnachten bei uns zu verbringen. Wie ihr wahrscheinlich bereits vermutet, wird es unser letztes Weihnachten sein und wir möchten es mit all unseren Freunden verbringen. Und ihr sechs gehört dazu.
Wir würden uns freuen, wenn ihr kommt. Bitte schickt uns so bald wie möglich eure Antwort.
Alles Liebe
Perenell Flamel
Beim Lesen waren mir Tränen in die Augen getreten. Das letzte Weihnachten ... Mir eine Träne von der Wange wischend, reichte ich auch diesen Brief an Kaspar weiter, der in kurze Zeit später mit ebenso feuchten Augen an die Weasley-Zwillinge weitergab.
«Oh», machte Fred und wirkte so bekümmert, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
«Wir werden auf jeden Fall kommen, schreib das», sagte George. «Und wir werden Mr Flamel ein paar unserer Erfindungen mitbringen. Schliesslich war er massgeblich an deren Entwicklung beteiligt.»
Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. «Das wird ihm bestimmt gefallen.»
Die Suche nach einem Ritual oder einer ähnlichen Möglichkeit Geister zu beschwören war erfolglos und obendrein äusserst gefährlich. Finëa wusste nichts und auch in den Büchern im Gemeinschaftsraum der Finjarelle stand nichts, genauso wenig in denen der Bibliothek – was zu erwarten gewesen war. Mein Blick war natürlich wieder einmal auf die Tür zur Verbotenen Abteilung gefallen und ich hatte versucht, meine Freunde zu einem Ausflug dorthin zu überreden, doch keiner von ihnen hatte mitkommen wollen. Also hatte ich mich allein und in meiner Obscurus-Gestalt auf den Weg gemacht. In den Korridoren hatte es von Lehrern und Vertrauensschülern gewimmelt und selbst als Obscurus hatte ich Mühe, an ihnen vorbeizukommen – tatsächlich war ich mir nicht sicher, ob mich nicht vielleicht jemand erkannt hatte. Snape oder McGonagall vielleicht? Jedenfalls beschloss ich, dass es auch in der Gestalt eines Obscurus zu gefährlich war, durch die Gänge zu schleichen und ausserdem blieb immer noch die Möglichkeit, dass Ma etwas Brauchbares in Erfahrung brachte.
So begaben wir uns am nächsten Samstag mit leeren Händen zu unserem Treffpunkt beim Steinkreis im verbotenen Wald. Hermine hatte sich mächtig dagegen gesträubt, Harry mit Kaspar und mir dorthin gehen zu lassen und hatte darauf bestanden, dass Ron und sie mitkämen. Nun starrten die drei mit grossen Augen die noch grösseren Steine an, die aufrecht in Kreisformation vor ihnen standen.
«Ihr könnt die Magie spüren, nicht? Zumindest du, Mädchen», erklang plötzlich eine Stimme und die drei schreckten zusammen. Ma trat aus dem Schatten hervor und musterte die drei interessiert.
«Harry, Ron und Hermine», stellte ich die drei vor.
«Wir kennen uns bereits aus der Winkelgasse, Mrs Seanorth», sagte Hermine und streckte Ma mutig ihre Hand entgegen. «Was meinen Sie damit, dass ich die Magie spüren könne?»
«Es ist Miss Seanorth», korrigierte Ma und ergriff Hermines Hand. «Und was die Magie betrifft ... Du spürst die spezielle Ausstrahlung dieses Orts, richtig?»
Hermine nickte. «Das ist Magie?», hauchte sie leise.
«Ja, das ist Magie.»
Nacheinander begrüsste sie die andern und zuletzt mich mit einer seltenen Umarmung. Verstohlen schmiegte ich mich an sie und spürte, wie sie in meine roten Haare hineinlachte. «Ich liebe dich auch, Adrienne.»
«Nun denn, Harry, würde es dir etwas ausmachen, kurz allein mit mir zu sprechen?», fragte sie meinen Bruder und führte ihn, ohne auf eine Antwort zu warten, ein Stück weit von uns weg. Unbehaglich sah Harry zu uns zurück, fügte sich aber in sein Schicksal.
«Was will sie von ihm?», fragte Ron misstrauisch.
«Kathleen fragt ihn nach dem Erben von Slytherin», bemerkte Kaspar. «Sie versucht herauszufinden wer es ist und denkt, dass Harry ihr da irgendwie weiterhelfen kann.»
«Und sie ist sich sicher, dass es nicht Harry ist!», erklärte ich hastig, bevor Ron erneut den Mund aufmachen konnte.
Was bei dem Gespräch zwischen Ma und Harry herausgekommen war, erfuhren wir nicht, denn als sie mit Harry zurückkam, schickte sie die drei zurück ins Schloss und selbst liess sie sich wie erwartet nichts entlocken. Allerdings bemerkte ich, dass Harry gelöster wirkte als sonst in letzter Zeit. Er lächelte mir zu, bevor er seinen beiden Freunden folgte.
«Nun denn», sagte Ma nachdem die drei ausser Sicht- und Hörweite waren. «Zuerst möchte ich mich noch einmal davon überzeugen, dass ihr eure Obscuri im Griff habt, wenn dem so ist, denke ich, können wir diese Stunden absetzen.» Also riefen Kaspar und ich nacheinander unsere Obscuri herbei, verdrehten sie und formten sie nach unserem Willen, bevor wir sie wieder zurückdrängten. Ma war zufrieden.
«Dann kommen wir zum zweiten Teil: Habt ihr etwas über Totenbeschwörungsrituale herausgefunden?» Wir verneinten und Ma sah enttäuscht aus.
«Was ist mit dir?», fragte ich sie.
«Ich habe auch nichts herausgefunden – jedenfalls nichts, was sich umsetzten liesse. Nur allerlei dunkle Rituale: Blutzauber, Opferzeremonien, ... Dann müssen wir weiterforschen ... Adrienne, geh zu Professor Snape und lass dir von ihm die Erlaubnis geben, in der Verbotenen Abteilung zu suchen.»
«Das wird er nie erlauben», murmelte Kaspar.
«Oh doch, das wird er ...», sagte Ma.
Snape tat es tatsächlich. Ich war nach der nächsten Zaubertrankstunde dageblieben und hatte ihn darum gebeten. Natürlich hatte er mich erst fortschicken wollen. «Es gibt kein Grund, weshalb sie da rein gehen dürfen sollten. Sie sind nicht besser als ihre Mitschüler nur wegen ihrer Abstammung», knurrte er und funkelte mich mit einem dieser angsteinflössenden Blicke an.
«Meinen Sie, weil ich Harrys Schwester bin oder weil meine Mutter eine Fey ist?», sagte ich fest und funkelte Snape dabei mit dem gleichen Raubkatzenblick an, den ich mir bei Ma abgeschaut hatte. «Ich denke, letzteres hebt mich tatsächlich von den anderen ab. Und dann wäre da natürlich auch noch mein Obscurus, zu diesem Thema gibt es doch bestimmt das ein oder andere Buch in der verbotenen Abteilung.»
«Aber sie wollen nicht über Obscuri nachlesen ...», stellte Snape fest und erwiderte wütend meinen Blick.
«Nein», erklärte ich. «Über Geisterbeschwörungen. Sie haben mich selbst dazu befragt, erinnern Sie sich noch? An Halloween?»
«Geisterbeschwörungen ...», sagte Snape leise. Plötzlich sah er müde aus, als er um den Schreibtisch herum ging und sich auf seinen Stuhl setzte. Das ständige, nächtliche Patrouillieren in den Gängen musste sich wohl früher oder später bemerkbar machen. Bei Snape war das jetzt der Fall. «Nein, ich werde dir nicht die Erlaubnis geben, darüber zu lesen, Adrienne.»
Plötzlich wurde mir etwas klar: «Sie haben selbst nachgeforscht, richtig Professor? Was haben Sie herausgefunden?»
Müde sah er mich an. «Dunkle Rituale und Zauber. Grausige Beschwörungen ...», er verzog angewidert den Mund. «Nichts, womit du dich befassen wirst, solange ich es verhindern kann.»
«Weil meine Mutter Ihnen aufgetragen hat, auf mich aufzupassen, richtig?»
«Weil sich kein Schüler mit diesem Thema zu befassen hat!», fauchte er mich an.
«Trotzdem war es meine Mutter, die mir aufgetragen hat, Sie um Erlaubnis zu bitten», erklärte ich selbstbewusst und lehnte mich auf dem Schreibtisch vor. «Und ausserdem wird es ausserordentlich hilfreich sein, wenn wir mit Professor Slytherin sprechen können», brachte ich mein stärkstes Argument vor. «Auch wenn ich mir sicher bin, dass er diese Kammer nicht gebaut hat, weiss er bestimmt einiges, das uns weiterhelfen kann.» Ich liess seinen Blick nicht los, versuchte ihm so zu vermitteln, dass ich fest von dieser Idee überzeugt war. «Wir werden so oder so eine Möglichkeit finden, früher oder später», erklärte ich selbstbewusst. «Sie könnten uns allerdings einiges an Mühe ersparen.»
«Nein, ich werde ni– «, Snape brach ab, seine Augen wurden gross und geschockt sah er mich an. Oder eigentlich nicht mich sondern ... Seine Hand schnellte vor und schloss sich, bevor ich begriff, was er tat, um den silbernen Anhänger meiner Mutter, Lilys Anhänger. Ich hatte schon beinahe vergessen, dass ich ihn trug, so vertraut war er mir geworden.
Snape betrachtete die filigranen Blütenblätter der Lilie und den Mondstein, der die Mitte der Blüte darstellte. «Woher hast du den?», flüsterte er rau.
«Wie meinen Sie das?», fragte ich verwirrt. «Können Sie den Anhänger bitte loslassen?» Es behagte mir nicht, wie er mich an der filigranen Silberkette zu sich hinzog. Es zwang mich in eine schrecklich unbequeme Position. Nacken und Rücken wurden mir bereits steif.
«Der hat Lily gehört. Wer hat ihn dir gegeben?!», plötzlich klang seine Stimme forsch und der Blick, mit dem er mich jetzt ansah, war unerbittlich. Es war nicht sein üblicher Raubkatzenblick – es war ... anders. Heftiger. Leidenschaftlich. Echt.
«Lily hat ihn mir gegeben. Sie hat ihn mir geschenkt und Dumbledore das Geschenk in Verwahrung gegeben. Er hat es an mich weitergegeben», beeilte ich mich zu erklären.
«Dazu hatte er kein Recht!», brauste Snape auf.
Am liebsten wäre ich vor ihm zurückgewichen, aber das ging nicht, da er immer noch den Anhänger festhielt. Den Anhänger meiner Mutter ... den Anhänger, den er erkannt hatte, ohne die Inschrift auf der Rückseite zu lesen ... «Sie haben ihn ihr geschenkt ...» Aber nein, das konnte nicht sein ...
«Ja», sagte Snape heiser und liess den Anhänger los, als hätte er sich verbrannt.
«Ich gebe dir die Erlaubnis, nach Geisterbeschwörungen zu suchen», sagte er. Ich konnte ihn nur sprachlos anstarren. Ich musste mich verhört haben. Hatte Snape wirklich seine Meinung geändert?
«Unter einer einzigen Bedingung.» Natürlich musste die Sache einen Haken haben. «Du wirst mich über deine Nachforschungen auf dem Laufenden halten, Adrienne. Über jedes noch so kleine Detail. Verstanden?»
Ich nickte. «Darf ich fragen wieso?»
«Nein», sagte er knapp und griff nach Tinte und Pergament, um mir die Bewilligung auszustellen. Ich bemerkte, wie seine Augen dabei immer wieder zum Anhänger huschten. Meine Gedanken kreisten derweil um die Frage, weshalb mein griesgrämiger Zaubertranklehrer Harrys und meiner Mutter diesen Anhänger geschenkt haben sollte.
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