12. Kapitel
Es war natürlich nicht nur reine Herzensgüte, die die Zwillinge dazu führte, die Kerker ins Visier zu nehmen. Wie sich herausstellte, hatten sie an dem Abend erfahren, dass Snape das nächste Quidditchspiel pfeifen würde, was nur zu unserem Nachteil ausfallen konnte. Doch die Zwillinge würden mit dem Streich noch ein bisschen abwarten. Sicher bis nach dem Spiel. Sie versprachen jedoch, dass es ein unvergleichlicher Streich sein würde und ich nahm an, dass sie wohl einige Alchemie-Tipps von Mr Flamel einbauen würden.
Jessie und ich hatten uns am nächsten Morgen nach der Zauberkunststunde versöhnt und hatten uns für den Abend im Gemeinschaftsraum der Finjarelles verabredet, denn Jessie hatte trotz unseres Streits weiter nach Hinweisen auf meine Familie gesucht und, so aufgeregt wie sie gewesen war, als sie mir davon erzählte, wohl etwas herausgefunden.
Doch zuerst mussten wir Gryffindors eine weitere Zaubertrankstunde zusammen mit den Ravenclaws überstehen. Melanie Cole war natürlich nicht entgangen, dass Jessie und ich uns verkracht hatten und sie hatte grosse Reden geschwungen von wegen, dass es gut sei, dass diese Slytherin endlich Vernunft angenommen habe und sich nun von dem Schlammblut fernhielt. Am liebsten hätte ich mir von den Zwillingen ein paar Knallfrösche aus dem Filibuster-Sortiment geben lassen, um ihren Kessel in die Luft zu jagen, wie sie mir freundlicherweise anboten. So verlockend das Angebot auch war, ich hatte mich schlussendlich entschieden, sie einfach weiter mit meinen Ergebnissen im Zaubertrankunterricht zu übertrumpfen. Überraschenderweise war ich nicht die Einzige, die auf diese Idee gekommen war. An diesem Tag nahmen wir in Zaubertränke den Schwelltrank durch, das Gegenstück zum Schrumpftrank, den wir vor Weihnachten behandelt hatten. Wie gewohnt arbeitete ich absolut exakt, als ich Tupfenalgen in gleichmässige Streifen schnitt und langsam, im Abstand von genau dreissig Sekunden dem Sud beigab. Danach kamen die Zähne der Zwergmaus, die ich zu feinem Pulver zermahlen musste. Konzentriert mörserte ich die Zähne, was schrecklich quietschte. Schliessich hob ich den Stössel vom Pulver weg und sah nachdenklich auf die bleichen Körnchen.
«Noch etwas feiner mahlen», hörte ich eine leise Stimme hinter mir. «Und stellen Sie die Flamme etwas zurück, sonst beginnt der Sud zu kochen.» Snape setzte seinen Kontrollgang durch die Klasse fort, als wäre nichts gewesen.
Die Tür, die aus dem Schranklabyrinth in den Gemeinschaftsraum der Finjarelles führte, war noch nicht hinter mir zugefallen, als es aus mir herausplatzte: «Was hast du herausgefunden, Jessie?»
Ausser Jessie und mir waren noch Cedric und Kaspar anwesend, die es sich in den Sesseln vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten. Und auch Finëa und Helena waren da und schauten aus einem der Fenster über das Schlossgelände, drehten sich jetzt aber zu uns um.
«Du wirst es nicht glauben, Adrienne! Ich selbst kann es nicht glauben! Es ist einfach unglaublich! Unerhört!» Jessies Augen blitzten vor Begeisterung.
«Na los! Sag schon!», drängelte Cedric und auch wir anderen, Geister wie Lebendige, sahen Jessie neugierig an.
Jessie genoss die Aufmerksam und schlenderte betont langsam zu einem der Sessel vor dem Kamin, in den sie sich fallen liess und dann gemütlich darauf wartete, bis wir uns alle um sie herum versammelt hatten wie zu einer Märchenstunde.
«Bei unserem ... Treffen nach den Weihnachtsferien hat Adrienne uns erzählt, dass sie den Namen ihrer Mutter herausgefunden hat: Lily Evans. Nun, der Name 'Evans' hat mir damals überhaupt nichts gesagt, was das Nachschlagen doch etwas verkompliziert hat – um ehrlich zu sein, habe ich gedacht, dass Adriennes leibliche Familie eine der alten Zaubererfamilien sein müsse.» Jessies Wangen färbten sich rosa. «Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand mit deinem Talent für Zauberei von Muggeln abstammt – ich weiss, ich weiss, ich sollte diese alten Klischees ein für alle Mal über Bord werfen.»
«Das heisst, dass diese Lily Evans muggelstämmig war?», stiess Cedric zum Kern der Botschaft vor.
«Ganz genau», bestätigte Jessie.
«Und wie hast du sie dann gefunden?», fragte ich neugierig. «Gibt es über die Muggelstämmigen etwa auch solche Ahnenverzeichnisse, Stammbäume und Familienwälzer wie bei den alten Zaubererfamilien?» Das konnte ich mir nicht vorstellen.
«Nein, natürlich nicht. Und wie ich bereits gesagt habe, habe ich das auch gar nicht in Betracht gezogen.» Wieder färbten sich Jessies Wangen rot und sie sah verschämt zur Seite. «Ich wusste zwar, dass es keine der grossen Familien sein konnte, aber vielleicht waren die Evans ja eine kleine, unbedeutende Zaubererfamilie.»
«Waren sie nicht», resümierte Kaspar und sah Jessie aufmerksam an. «Wie hast du sie dann gefunden?»
«Nun ja», sagte Jessie uns seufzte tief. «Langsam kam mir der Verdacht, dass Evans auch ein Muggelname sein könnte und ich bereitete mich darauf vor, in Madam Pinces Archiv die Tagespropheten der letzten zwanzig Jahre oder so zu durchforsten, und auf einen Zufallstreffer zu hoffen ...»
«... als ...», half ich nach, als Jessie wieder eine Pause einlegte.
«... als ich eine letzte, verzweifelte Idee hatte.»
«Ach komm, Jessie. Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase zieh'n», empörte sich Cedric, als Jessie eine weitere Kunstpause einlegte.
Jessie grinste über beide Ohren, als sie fortfuhr. «Nun, auch wenn Evans ein Muggelname war, konnte es ja sein, dass dieser Muggel oder dieser Muggelstämmige in eine der alten Zaubererfamilien eingeheiratet hatte ...»
«Hat er? Respektive sie, wir reden hier ja von meiner Mutter», hakte ich nach.
«Ja, hat sie. Ich bin von einem Mann ausgegangen, weil die Frau ja üblicherweise den Namen des Mannes annimmt.»
«Und welche Familie ist es jetzt?», Cedric klang schon fast genervt, so ungeduldig war er.
«Haltet euch fest», warnte Jessie mit begeistert blitzenden Augen. «Es ist ... die Familie ...», sie sah aufmerksam in die Runde, sah jedem einzelnen von uns ins Gesicht, um abzuschätzen, wie aufgeregt und gespannt wir waren. «Es ist ... die Familie ... Potter», das letzte Wort war mehr ein Flüstern, ein begeistertes Flüstern. Offenbar war Jessie so hin und weg von dieser Neuigkeit, dass es ihr immer noch fast die Sprache verschlug.
«Potter», Cedric nickte nachdenklich. «Ja, das passt. Die Potters waren schon immer eine sehr tolerante Familie und so weit verzweigt wie ihr Stammbaum ist, kann man schnell mal den Überblick verlieren, wer jetzt wie heisst – «
«Potter wie Harry Potter?», fiel Kaspar Cedric ins Wort. Kaspars Worte trafen mich wie ein Blitzschlag und meine Augen weiteten sich zur Grösse von Tennisbällen, mindestens.
«Nein, bestimmt nicht», winkte Cedric ab. «Wie gesagt, die Potters sind eine sehr grosse Familie und wenn Adrienne wirklich mit Harry Potter verwandt wäre, dann wüsste man das doch.»
«Doch, Cedric, es stimmt. Potter genau wie Harry Potter!»
Unsere Aufmerksamkeit lag jetzt wieder bei Jessie, die vom Rest ihrer Recherche berichtete: «Evans war der Mädchenname von Lily Potter, der Ehefrau von James Potter und damit auch Harrys Mutter.»
Mir klappte der Mund auf. Jessies Worte waren nicht falsch zu verstehen und trotzdem ... das war einfach unglaublich. «Das heisst, dann heisse ich eigentlich, Adrienne Potter?», flüsterte ich. «Und Harry ist mein Bruder?»
In den kommenden Tagen hielt ich so unauffällig wie möglich nach meinem neuen Bruder Ausschau und versuchte irgendwelchen Ähnlichkeiten zwischen uns zu finden. Bis auf das rabenschwarze Haar, das immer in alle Richtungen abstand, und diesen unglaublich grünen Augen war Harry vollkommen durchschnittlich. Vielleicht etwas klein, aber sonst ... ein in keinerlei Hinsicht auffälliges Gesicht – ausgenommen natürlich die Augen. Die Blitznarbe zählte nicht, die war ja nicht vererbt. Ich dagegen hatte lockiges, rotes Haar, war eher gross und, seit Ma mich zu Gaius zum Kampftraining schickte – nun, nicht gerade muskulös, aber doch stark genug, um mit einem doch ziemlich schweren Schwert anständig umzugehen.
Abends stand ich jeweils vor dem Spiegel und versuchte die Erkenntnisse meiner jüngsten Harry-Beobachtungen mit meinem Gesicht abzugleichen. Hatten wir die gleiche Nase? Vielleicht hatten unsere Augen dieselbe Form? Die Ohren?
Meine Gedanken wurden von diesem Thema abgelenkt, als Finëa Kaspar und mir nach einer weiteren Übungsstunde in stabloser Magie sagte, dass wir jetzt gut genug waren, um den nächsten Schritt im Kampf um die Kontrolle über unsere Obscuri zu wagen. Aufgeregt schrieben wir an meine Ma, die schon einen Tag später Theo mit ihrer Antwort zurückschickte. Wir würden uns am nächsten Hogsmeade-Wochenende treffen! Jeder Nerv in meinem Körper kribbelte in gespannter Erwartung auf dieses Treffen. Ich war dermassen eingenommen von Euphorie und Neugier, dass ich meine Chance, Harry vollkommen offen beim Quidditchspiel zu beobachten nicht wahrnahm. Da es sowieso nur ein sehr kurzes Spiel gewesen war – Harry hatte den Schnatz beinahe in Rekordzeit gefangen – gab es auch kaum etwas zu sehen. Und auch bei der anschliessenden Feier im Gemeinschaftsraum, wo sich meine Euphorie mit der der anderen Gryffindors vermischte, dachte ich überhaupt nicht mehr an meinen neuen Bruder. In genau einer Woche würde Ma Kaspar und mir endlich beibringen, wie wir mit unseren Obscuri umgehen mussten!
Doch bevor das Hogsmeade-Wochenende kam, hatten die Zwillinge noch eine offene Rechnung mit den Slytherins zu begleichen.
«Am besten, du stehst morgen ganz früh auf, Jessie», raunte ich meiner Freundin zu, als ich am Vorabend des besagten Ereignisses die grosse Halle verliess.
Ich jedenfalls stand früh auf, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Um halb sechs kam ich die Treppen nach unten – die Zwillinge hatten sich bereits um vier Uhr rausgeschlichen, um alles vorzubereiten. Aus dem Treppenaufgang waberte orangefarbener Rauch von den Kerkern her in die Eingangshalle. Eine Gestalt zeichnete sich dunkel in den Schwaden ab und kurz darauf kam Jessie in die Halle, deren Wangen bunt getupft waren. Wie es aussah, war sie nicht früh genug aufgestanden.
Fred kam mit einem Brötchen in der Hand gemütlich aus der grossen Halle geschlendert, als Jessie mich erreichte. Sie baute sich mit wütend blitzenden Augen, die Hände in die Hüften gestemmt vor Fred auf. «Ihr hättet mir sagen sollen, wann genau ich aufstehen muss!», beschwerte sie sich.
Fred musterte neugierig die bunten Tupfen in Jessies Gesicht und bot ihr zur Beschwichtigung ein Brötchen an.
«Was genau macht der Rauch?», wollte ich wissen.
Fred grinste bis über beide Ohren. «Das werdet ihr schon sehen.»
Wir deckten uns mit weiteren Brötchen und Kürbissaft ein und setzten uns auf die steinernen Stufen der Marmortreppe, die von der Eingangshalle nach oben führten. Während wir frühstückten, beobachteten wir gespannt den Treppenaufgang.
Als nächstes kamen einige Hufflepuffs, die neuerdings schweinchenrosa Strähnen hatten, so lang, dass sie bis weit über ihre Schultern herabfielen. Ein Slytherin mit Fledermausohren und einem langen, grünen Bart. Und dann, zu unser aller Schreck, Snape, auf dessen Kopf und Schultern blaue Blätter sprossen. Auf halbem Weg durch die Eingangshalle blieb er stehen und funkelte uns böse an. Finëa und Helena, die sich zu uns gesellt hatten, um das Spektakel zu beobachten, lachten über diesen Blick und es waren wohl Finëas spitze Zähne, die Snape davon abhielten, näher zu kommen.
«Sehr kreativ», gratulierte Helena den Zwillingen. «Aber es wird doch niemand bleibenden Schaden davontragen?»
George winkte ab. «Keine Sorge, die ganzen Zauber lösen sich nach spätestens siebzehn Stunden in silberne und goldene Funken auf und fallen von den Betroffenen ab.»
«Und wie habt ihr das hinbekommen?», fragte ich begeistert.
Fred legte einen Finger an die Lippen: «Ein Zauberer verrät niemals seine Geheimnisse.»
Wir sassen weiter auf der Treppe und erfreuten uns an weiteren Hufflepuffs, deren Gesichter genauso bunt getupft waren wie Jessies und an ein paar Slytherins, deren Umhänge sich zur Hälfte in Seetang verwandelt hatten.
«Die Wirkung des Rauches verstärkt sich mit der Zeit», erklärte George, als die Veränderungen an den Schüler immer kurioser wurden. Einem Slytherin waren über dem Kopf ineinander verschlungen Hasenohren gewachsen, einem anderen Sprossen lange Efeuranken aus den Schultern.
«Ja, und der Rauch verteilt sich auch ziemlich gut. Besser als wir eigentlich wollten», fügte Fred mit besorgtem Blick auf die Rauchschwaden hinzu, die jetzt langsam aber sicher die Eingangshalle einnahmen und die Treppenstufen, auf denen wir frühstückten hinaufkrochen. Auf meinen Füssen und Beinen begann plötzlich Gras zu spriessen. Die bunten Tupfen auf Jessies Wangen wurden grösser und bedeckten bald ihre ganze Haut. Georges Haare wurden blassgrün und begannen zu wachsen und zu wachsen bis er sie schliesslich, kurz bevor der Zauber sich verflüchtigte, mit beiden Armen hochraffen musste, um nicht über sie zu stolpern. Fred dagegen wuchsen überall violette Federn, bis die weiten Ärmel seines Umhangs wie grosse Flügel aussahen. Helena lachte herzlich über unser Aussehen und Finëa ... – Finëa betrachtete fasziniert die orangen Drachenschuppen, die sich auf ihren Armen ausbreiteten. Mit offenem Mund beobachteten wir die Veränderung, die an der verstorbenen Gründerin vor sich gingen.
«Ihr wusstet doch immer, dass ich nicht so bin wie die anderen Geister», schärfte sie uns mit einem kleinen, aber begeisterten Lächeln ein. «Adrienne hat es doch so formuliert, dass ich mehr bin wie die Geister, die sie zu Samhain beschwört. Nicht durchscheinend, wie ihr ja wisst, und mit mehr Substanz, fast als wäre ich noch eine lebende Fey.»
Wenn man sich im Rauch befand konnte man problemlos sehen – es war als gäbe es ihn gar nicht, weshalb auch ein leutseliger Professor Dumbledore mit regenbogenfarbenem Haar und Bart und einem rosaroten Umhang, der sich über den Tag hin in ein Tutu verwandelte, befand, dass die magischen Rauchschwaden kein Grund seien, den Unterricht ausfallen zu lassen.
Der magische Rauch verzog sich gegen Mittag, dafür kam ein heftiger Schneesturm auf, der einige Tage anhalten sollte, weshalb unsere Stunde in Pflege magischer Geschöpfe an diesem Tag trotzdem ausfiel.
«Nun ja, die Wirkung war doch etwas stärker als erwartet», zog George am Abend Bilanz, als seine Haare wieder auf ihre normale Länge zurückgegangen waren.
«Ja», meinte Fred, «Aber der Streich war umso besser. Und da die ganze Schule betroffen war und niemandem etwas passiert ist, wird dieser Streich bestimmt als einer der besten in die Geschichte von Hogwarts eingehen.»
«Niemandem ausser denen, die sich ein Knie aufgeschürft haben, weil sie über ihre langen Bärte gestolpert sind», beklagte sich Alicia aus dem Sessel neben meinem und rieb sich besagtes Knie.
Unsere kleine Gruppe Gryffindor-Drittklässler brach in ein Lachen aus, das den ganzen Gemeinschaftsraum ausfüllte, und nicht wenige fielen mit ein.
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