Kapitel 44
Am nächsten Morgen zuckte ich bei meinem Anblick im Spiegel erschrocken zusammen. Die Schminke war verlaufen, die Haare verworren und fettig, dazu geschwollene Augen und tiefe Augenringe, die einen starken Gegensatz zu meiner blassen Haut bildeten. Na super. Nimm dich in Acht, Welt, hier kommt Hexe Jenna.
Ich stolperte die Treppe runter und fand unten zwar keinen Niall, dafür aber einen kleinen Zettel auf dem Küchentisch vor. 'Bin Brötchen holen. Gleich wieder da.'
Ich schlurfte zu meinem Stuhl und ließ mich mit leerem Blick darauf plumpsen. Wicked kam angetapst und strich mir schnurrend um die Beine. „Hunger?" fragte ich ihn gähnend, was er mit einem freudigen Maunzen quittierte. Als ich gerade dabei war seinen Napf zufüllen, öffnete sich die Haustür. „Bin zurück!" rief Niall und brachte einen Schwall frischer Luft mit sich rein. Er stapfte laut summend zum Tisch, ließ eine duftende Brötchentüte darauf fallen und drehte sich dann zu mir um, woraufhin er laut anfing zu lachen. Beleidigt zog ich eine Schnute. „Du solltest dich sehen", kicherte er und zeigte mit dem Finger auf mich. „Hab ich schon, danke", grummelte ich. Niall verdrehte die Augen. „Bist du immer noch so schlecht drauf?" fragte er. Ich seufzte und hob den Blick.„Ich habe Marylin angelogen. Ich habe gegen Regeln des Zeugenschutzprogramms verstoßen. Ich vermisse meine Familie und Grace, und da wäre noch die Tatsache, dass mein Freund mich hasst und meine erste Beziehung somit schneller vorbei war, als ich blinzeln konnte."
Niall stemmte die Arme in die Seiten, warf mir einen strafenden Blick zu und sagte: „Jenna, wir befinden uns hier in Schottland in einem Dorf, dass vermutlich auf keiner Landkarte der Welt verzeichnet ist. Wir sind Kronzeugen in einem Mordfall und schweben quasi permanent in Lebensgefahr. Ja, dass Gordon nicht gut auf dich zu sprechen ist, ist blöd, aber es ist besser, als wenn er die Wahrheit herausgefunden hätte. Und schau dich mal um – die Sonne scheint, die Blätter fallen von den Bäumen, ein kleiner verschmuster Kater hat sich in deiner Hose verkrallt, wir sind hier in Sicherheit und alles ist gut. Und du hast mich", fügte er dann frech grinsend hinzu. Ich musste lächeln und nickte dann. „Du hast Recht. Tut mir Leid, ich schätze, ich bin ein echter Stimmungskiller." „Und ein Chaos-Verursacher", stimmte er mir zu. „Aber Schluss jetzt damit. Heute sitzen wir nicht untätig rum, wir unternehmen was." Zweifelnd zog ich eine Augenbraue hoch. „An was hattest du da gedacht?" „Sag ich dir, wenn du geduscht hast und dir was vernünftiges angezogen hast", antwortete er und warf einen vielsagenden Blick auf mich. Ich schaute an mir herunter und stellte fest, dass ich ein übergroßes T-Shirt trug, auf dem Richard und Phil einmal mit Eddings Tic-Tac-Toe gespielt hatten. Ich räusperte mich. „Das ist wahrscheinlich eine gute Idee. Gib mir zwanzig Minuten." Dann drehte ich mich um und sah zu, dass ich unter die Dusche kam.
Wenig später kam ich die Treppe heruntergelaufen, jetzt in deutlich besserer Verfassung als zuvor. Niall wartete bereits an der Haustür. „Beeil dich", rief er mir zu und verschwand nach draußen. Als ich ihm schließlich folgte, stand er gerade vor zwei alten Holland-Fahrrädern und mühte sich ab, einen großen Korb auf dem Gepäckträger zu montieren. „Kann ich dir irgendwie helfen?" fragte ich glucksend. „Auf keinen Fall", schnaufte er und schaffte es letztendlich doch, den Korb sicher festzuschnallen. „Das", sagte er und wies stolz auf die beiden Räder, „sind Fahrräder!" „Was du nicht sagst", antwortete ich erstaunt. „Man, Jenna. Mit diesen Fahrrädern werden wir jetzt durch Schottlands malerische Hügel und Weiden fahren und einfach mal so richtig ausnutzen und genießen, dass wir hier festsitzen." „Okay", sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Hast du Marylin Bescheid gesagt?" „Hab ich. Sie war zwar nicht begeistert, aber ich habe sie mit dem Argument überredet, dass es komisch wäre, wenn ein verheiratetes Pärchen immer nur zu Hause rumsitzt." „Kluges Kerlchen", lobte ich ihn grinsend. „Also haben wir jetzt offiziell ein Date?"
„Mit anschließendem Picknick", bestätigte Niall. „Los geht's, Ehefrau!" Ich stieg lachend auf mein Fahrrad. „Sei nicht so spießig, Harold." Als Antwort bekam ich nur ein amüsiertes Schnauben.
Während wir durch die wirklich sehr schöne Landschaft Schottlands fuhren, erzählten wir uns alte Anekdoten aus unserem Leben „davor", was zum Teil so witzig war, dass ich fast vom Fahrrad gefallen wäre. Unter anderem erfuhr ich, dass Niall einmal bei einem Vortrag über Weltarmut und irgendeiner Spendenaktion eingeschlafen war und laut angefangen hatte zu schnarchen. Oder, dass er sich beim ersten Treffen in der Wohnung seiner Freundin lässig an die Wand gelehnt und dabei ein Bild heruntergerissen hatte.
Auch von seinen Bandkollegen gab es viel zu erzählen: von heruntergezogenen Hosen beim Konzert bis zu betrunkenen Heiratsanträgen an eine Straßenlaterne. „Letztere wurde einen Moment später allerdings vollgekotzt", lachte Niall. „Das hat Harry aber nicht gestört, er hat immer nur weiter davon gebrabbelt, dass sie ihn erleuchtet und Licht ins Dunkle gebracht hätte." Ich stimmte in sein fröhliches Lachen mit ein.
Der Wind kam von hinten und wehte mir permanent meine Haare ins Gesicht. Das und der Umstand, dass mein Fahrrad vom Lachen bedenklich schaukelte, führte dazu, dass ich den dicken Ast auf dem Weg übersah, im hohen Bogen vom Fahrrad geschleudert wurde und mich schließlich verblüfft auf einer Weide, umringt von Schafen wiederfand. Einen Moment starrten wir uns erschrocken an, dann musste ich so sehr lachen, dass ich mich rücklings ins Gras fallen ließ und mir den Bauch hielt. Niall ließ sein Fahrrad fallen, packte den Korb, kletterte über den Zaun und ließ sich neben mich fallen. Ein Schaf neben mir fing an, an meinen Haaren zu kauen.
„He!" protestierte ich, was es aber nicht im Geringsten störte. „Finger weg von meiner Frau!" rief Niall gespielt empört, sprang auf und stellte sich bemüht drohend vor das Schaf. „Nimm es mit mir auf und kämpfe, wie es sich gehört, du Schuft!" Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass das Schaf sich tatsächlich zu ihm umdrehte und seinen Kopf senkte. „Gut so", feuerte er das Schaf an, nicht bemerkend, dass er dessen Aufmerksamkeit schon längst erhalten hatte. „Zeig, was du drauf hast!" Als wäre das das Stichwort gewesen, preschte das Schaf auf Niall zu. Für einen kurzen Moment stand dieser erschrocken da, ein 'Oh' auf den Lippen. Dann sprang er im letzten Augenblick aus dem Weg und nahm seine Beine in die Hand. Das Schaf nahm seine Verfolgung auf. Panisch rannte Niall über die Wiese, schlug Haken und lief Schleifen, aber das Schaf ließ sich nicht abschütteln. Völlig außer Atem rettete er sich schließlich mit einem Sprung über den Zaun. Das Schaf rammte die Füße in den Boden und kam schlitternd zum Stehen. Dann drehte es sich gemächlich um und trottete zu mir zurück. Doch statt meiner Haare widmete es sich diesmal dem Picknickkorb. „Flieh,Jenna, bevor es dich auch frisst!" rief mir Niall zu. „Und der Korb?" rief ich zurück. „Lass ihn stehen und komm!" Ich stand auf und lief, einen großen Bogen um das Schaf machend, zu Niall zurück. Sobald ich auf der anderen Seite des Zauns war, hob Niall drohend die Faust und rief dem Schaf zu: „Das passiert, wenn du dich an meine Frau ranmachst, du Wollknäuel!" Ich schüttelte lachend den Kopf.
Und während ich ihn anschaute und wir beide uns anlachten und das Schaf böse rüberstarrte, ging mir auf, dass ich nicht mehr Glück hätte haben können.
Ich schwenke hier Fähnchen – ein fettes Dankeschön an euch alle für 70k Reads und 6k Votes! Ich kann mir nicht vorstellen, wie das passiert ist. D A NK E.
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