Kapitel 19
Alles ist dunkel, so dunkel. Das Licht der Straßenlaternen erhellt nur einen kleinen Teil der Gasse, der Rest liegt im Schatten. Ich höre Geräusche, ein Flüstern, das von überall her zu kommen scheint, ein lautloses Murmeln, das dennoch so laut in meinem Kopf dröhnt und sich mit dem hämmernden Geräusch meines Herzens vermischt. Je weiter ich komme, desto lauter wird das Murmeln in meinem Kopf, steigt an zu einem Grollen, einem Orkan aus Wörtern, die ich nicht verstehe, die mir aber Angst einjagen. Große Angst.
Doch ich muss weitergehen, ich muss, denn da ist etwas, was ich will. Ich habe ein Ziel.
Ich biege um eine Ecke und erstarre. Direkt vor mir steht ein schwarz gekleideter Mann. Er hält eine zappelnde Person fest, die gedämpfte Laute der Verzweiflung ausstößt. Ich blicke genauer hin und schreie leise auf. Es ist Grace.
Der Mann hebt den Arm. In seiner Hand funkelt etwas, ich erkenne zu spät, dass es ein Messer ist. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung rammt er es in Grace' Brust. Einen Moment lang scheint die Zeit stillzustehen, dann bricht sie zusammen und bleibt regungslos liegen.
Schreiend wachte ich auf. Heiße Tränen liefen mir über das Gesicht, während ich schluchzend mein Gesicht in der Bettdecke vergrub.
Es war nur ein Traum. Nur ein Traum. Grace geht es gut.
Ich braucthe eine Weile, um mich zu beruhigen. Mein Atem kam immer noch abgehackt, aber ich weinte nicht mehr und auch das Zittern hatte aufgehört.
Ich beschloss mir einen Tee zu machen. Vielleicht half das, die Nerven zu beruhigen.
Ich schwang meine nackten Beine aus dem Bett, tastete mich zum Lichtschalter vor und ging die Treppe hinunter.
Ich verzichtete darauf, im Flur und in der Küche Licht zu machen, um Niall nicht aufzuwecken.
Stumm setzte ich Wasser auf und legte einen Teebeutel bereit.
Plötzlich drang ein Geräusch an meine Ohren. Ein Husten, höchstens ein paar Meter entfernt von mir.
Heiße Panik überkam mich, ich schrie los und wich zurück, brach in einer Ecke zusammen und schlug in die Dunkelheit hinein.
Durch mein Schreien drang eine Stimme zu mir durch, jemand näherte sich mir. Ich trat zu und traf. Ein schmerzerfülltes Stöhnen ertönte, aber gleich darauf packte jemand meine Hände und Füße, zwang mich, den Kopf zu heben.
Ich schaute in zwei stechend blaue Augen und erkannte Niall.
Die Panik fiel von mir ab, aber der Schreck blieb, vermischte sich mit dem Bild von Grace' leblosen Körper.
"Hey. Hey. Shhhh. Alles ist gut", flüsterte Niall.
Langsam beruhigte ich mich und wischte meine Tränen ab.
Er half mir hoch und reichte mir wortlos ein Taschentuch, das ich dankend annahm.
Als ich schließlich meiner Stimme traute, flüsterte ich: "Tut mir leid. Wirklich."
Niall nickte. "Schon okay. Albtraum?"
Diesmal nickte ich.
"Ich hatte auch einen. Ich schätze mal, die werden wir auch nicht so schnell los."
Nialls Stimme klang beruhigend.
In die Stille herein platzte das Piepen des Wasserkochers.
Ich goss Wasser in eine Tasse und legte meinen Teebeutel dazu, anschließend bot ich Niall auch etwas an, aber er schüttelte den Kopf.
Er setzte sich an den Tisch, und nach kurzem Zögern setzte ich mich ihm gegenüber hin, wärmte meine Hände an der Tasse.
"Ich bin gar nicht so scheiße", sagte er plötzlich in die Stille hinein.
Perplex schaute ich auf.
"Was meinst du damit?"
Niall seufzte, fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
"Eigentlich bin ich ganz anders. Bin immer derjenige, der Blödsinn macht, über alles und jeden lacht und immer fröhlich ist. Ich muntere immer alle anderen auf."
Er machte eine Pause.
"In den letzten Tagen war ich nicht ich selbst. Ich war wütend, weißt du? Ich bin es immer noch. Das alles hier ist das komplette Gegenteil von meiner Welt. Ich schätze mal, ich habe einfach jemanden gebraucht, dem ich dir Schuld dafür geben konnte. Und das warst wohl du."
Ich war völlig überrumpelt von seinem Eingeständnis.
"Ist schon okay", sagte ich vorsichtig. "Das ist eine bizarre Situation, oder? Keiner kann unter diesen Umständen fröhlich sein, nicht einmal du."
Niall schüttelte den Kopf.
"Trotzdem. Du hast einen völlig falschen Eindruck von mir bekommen."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Ich schlage vor, dass wir beide das einfach vergessen. Neubeginn?"
fragte ich und streckte ihm meine Hand hin.
Seine Hand war warm und kräftig, als er erleichtert einschlug. "Neubeginn."
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