Kapitel 12
Tja, hier standen wir nun. Der merkwürdige Mann hatte sich aus dem Staub gemacht, und Niall und ich hatten absolut keine Ahnung, was wir tun sollten. Das Haus war abgeschlossen und man hatte uns keinen Schlüssel hinterlassen.
Irgendwann kamen wir auf die Idee, zu klingeln, und zu unserem Erstaunen wurde die Tür tatsächlich geöffnet. Vor uns stand eine etwa Mitte dreißig jährige Frau, die uns warm anlächelte und uns ins Haus bat.
"Ich wusste, dass ihr auf dem Hof wartet", sagte sie und grinste. "Ich hab bloß geschaut, wann ihr auf die Idee kommt zu klingeln. Kommt doch rein!"
Sie strahlte etwas aus, was sie mir sofort sympathisch machte. Die Frau stellte sich als Marylin vor und führte uns durch das Haus.
Es gab ein Wohnzimmer, das sehr gemütlich eingerichtet war und in eine kleine Küche überging, in der auch gegessen wurde. Im ersten Stock befanden sich zwei Schlafzimmer, aber zu meinem Entsetzen nur ein Bad.
Alles in allem würden Niall und ich zwangsläufig miteinander leben müssen und nicht nur beieinander.
Als die kleine Führung beendet war, sagte Marylin: "Und jetzt kommen wir zu etwas ernsteren Dingen. Wir wissen alle, dass ihr hier nicht zum Spaß seid. Damit ihr unentdeckt bleibt, müssen gewisse Regeln beachtet werden."
Regeln? Das wurde ja immer schöner. An Nialls Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er ebenfalls wenig Begeisterung aufbringen konnte.
"Regel eins lautet 'Stillschweigen bewahren' und ist, glaube ich, relativ leicht einzuhalten.
Regel zwei: 'Lebt euer Leben'. Das muss ich noch etwas näher erläutern. Ihr bekommt ein falsches Leben aufgebaut, das bereits aufs genaueste geplant wurde. Dazu gehören neue Identitäten, eine neue Lebensgeschichte und etwas Schauspieltalent. Ihr müsst das Ganze wirklich überzeugend leben, denn wenn jemandem was auffällt, war die Mühe umsonst. Habt ihr verstanden?"
Wir nickten.
"Sehr gut. Nun noch ein paar kleinere Dinge. Ihr dürft weder eure Handys, ein Telefon oder Computer benutzen, sowie alle anderen elektronischen Geräte, mit denen man Kontakt zur Außenwelt aufnehmen könnte.
Das geschieht zu eurer eigenen Sicherheit. Versteht mich nicht falsch, wir wollen euch hier nicht wegsperren, aber ihr müsst für diese Zeit eben ein eingeschränktes Leben führen."
Als Marylin unsere Mienen sah, verzog sie mitfühlend das Gesicht. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und meinte: "Euer Haus liegt sehr abgeschieden, um unnötige Konfrontationen mit Nachbarn zu vermeiden. Aber wenn irgendetwas sein sollte, könnt ihr jederzeit bei mir klingeln, ich wohne im Haus nebenan. Einmal am Tag komme ich und schaue hier nach dem rechten. Okay? Ihr meistert das schon! Bis jetzt hat alles super geklappt und bestimmt dauert es nicht mehr lange, bis sie den Täter haben."
Sie lächelte und ging winkend zur Tür. "Bis morgen!"
Die Tür fiel ins Schloss und wir waren allein.
Völlig fertig schleppte ich mich zum Tisch in der Küche, ließ mich auf einen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Nie, nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich einmal so enden würde.
Allein gelassen, nur mit einem völlig fremden Jungen in der Wildnis. Ich wusste nicht einmal mehr, in welchem Land wir uns befanden.
Hinter mir hörte ich Niall, wie er verschiedene Küchenschränke öffnete und den Inhalt untersuchte. Plötzlich durchuhr mich die Erkenntnis eiskalt, dass ich mich noch nicht bei ihm bedankt hatte, dafür, dass er mir mein Leben gerettet hatte.
Ich drehte mich um, Niall lehnte am Herd und beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen. Sein Blick war auf einmal drohend, beinah feindselig.
Sofort verkrampfte sich auch meine Körperhaltung und nahm etwas aggressives an. "Was ist?" fragte ich misstrauisch.
Niall verzog keine Miene. Um die Stimmung etwas aufzulockern, sage ich: "Wir müssen irgendwie damit klarkommen, oder? Die ganze Situation ist doch scheiße."
"Wem sagst du das?"
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Das ist alles deine Schuld."
Wie bitte?
"Wie meinst du das?" fragte ich erschüttert.
"Wie ich das meine? Stell dich doch nicht dümmer als du bist, Jenna! Er hätte uns gar nicht erst bemerkt, wenn du nicht so bescheuert gewesen wärst und die Dose weggekickt hättest! Du hast uns damit beide fast umgebracht, ist dir das eigentlich klar?"
Nialls Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass ich erschrocken zusammenzuckte.
Mit einem letzten hasserfüllten Blick ging er mit schnellen Schritten auf die Tür zu.
Kurz bevor er den Raum verließ, sagte er:
"Ich hätte dich niemals retten sollen."
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