Kapitel 19
Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.
- Mark Twain, amerikanischer Schriftsteller
»Unser Täter sucht sich Menschen, die in ihrem Leben gute Taten vollbringen. Amelia Warren zum Beispiel spendete einer Kampagne für hilfsbedürftige Kinder. Blake rettete bei seiner Arbeit als Feuerwehrmann Menschenleben«, erklärte Reid den Polizisten, die sich im Hauptraum versammelt hatten. »In den Augen unseres Täters sind diese Menschen Engel, und er sieht es als seine Aufgabe, Gott diese zurückzubringen.«
»Da der Zeitraum zwischen den beiden Morden nicht weit auseinanderliegt, können wir davon ausgehen, dass er bald wieder zuschlägt«, übernahm Emily das Wort. »Diese Menschen zu töten, bedeutet, sie aus ihrer sterblichen Hülle zu lösen. Bei beiden Morden ist er gleich vorgegangen, das gleiche Muster. Es scheint eine Art Zwangsneurose zu sein, immer dasselbe zu tun.«
Ich trat einen Schritt nach vorn. »In der Öffentlichkeit wird unser Täter wahrscheinlich als sehr religiös auftreten. Er muss seine Opfer vorher genau studieren, das heißt, dass er ihnen lange auflauert. Vielleicht kennt er sie sogar, kam mit ihnen ins Gespräch. Falls Sie irgendwelche Leute aus diesem Bezirk kennen, die ins Opferprofil des Täters passen, geben Sie uns Bescheid. Dankeschön.« Damit verabschiedeten wir uns von den Polizisten, die kurz darauf ihrer Arbeit nachgingen.
»Ich habe Garcia bereits unser Profil gegeben«, sagte Hotch an uns gewandt. »Viel ist es nicht, aber vielleicht findet sie etwas. Sie ruft an, wenn sie etwas gefunden hat.«
»Hoffen wir, dass sie etwas findet«, murmelte ich, »bevor der Täter noch einmal -«
Ich konnte den Satz nicht einmal aussprechen, denn da erschien bereits der zuständige Detective. »Es gibt eine neue Leiche. Zwanzig Minuten Fahrt von uns entfernt.«
Die Beweissicherung war schon vor Ort; machte Fotos, steckte die Beweise ab. Hotch und JJ waren auf der Wache geblieben, da die Medien allmählich anfingen, Terror zu machen.
»Alexander Phillips«, sagte Emily, die von dem Gespräch mit dem Angehörigen zurückkam. »Seine Frau hat ihn vor einer halben Stunde so aufgefunden. Sie kam gerade von der Arbeit nach Hause. Er war viel in der Gemeinde tätig und arbeitete als Fahrer für Obdachlose.«
»Wie lang ist das Opfer bereits tot?«, wollte Rossi vom Gerichtsmediziner wissen.
»Die Totenstarre hat noch nicht vollständig eingesetzt. An den Augen hat es schon begonnen. Die Kaumuskeln würden nach vier Stunden erstarren. Da dies nicht der Fall ist, schätze ich, dass das Opfer seit zwei, drei Stunden tot ist. Genaueres finden wir bei der Autopsie heraus.«
»Guck mal, Rossi«, sagte Morgan auf einmal, der hinter dem Opfer stand und den Rücken begutachtete. »Wie das Opfer platziert ist ... Und hier ist viel weniger Blut als bei den anderen. Die Schnitte sind brutaler ... unkontrollierter?« Verwundert blickte er auf. »Sicher, dass das derselbe Mörder ist? Vielleicht handelt's sich um einen Nachahmungstäter.«
»Die Schnitte wurden post mortem zugefügt«, erklärte der Gerichtsmediziner. »Ich nehme an, dass das Opfer an einer Schädelfraktur gestorben ist, die durch den Schlag auf den Kopf ausgelöst wurde.«
»Danke«, sagte ich. »Halten Sie uns auf dem Laufendem, falls Sie etwas herausfinden sollten.«
»Das alles passt nicht zu dem Täter«, meinte Derek. »Er ist dieses Mal vollkommen anders herangegangen.«
»Er wurde aus seinem üblichen Ablauf herausgerissen, da das Opfer starb, bevor er überhaupt anfangen konnte«, sagte Reid, der umherlief und den Tatort genaustens unter die Lupe nahm. »Er wurde so wütend darüber, dass er sich für kurze Zeit nicht mehr unter Kontrolle hatte. Deswegen sind die Schnitte so aggressiv. Er hat sich nicht einmal mehr die Mühe gegeben, die Drähte ordentlich zu befestigen und das Opfer richtig zu positionieren.« Er sah auf. »Wahrscheinlich wird unser Täter bereits nach einem neuen Opfer suchen, damit er seinen Fehler rückgängig machen kann. Er ist unzufrieden und er glaubt, dass Gottes Zorn ihn verfolgen wird. Wir haben nicht viel Zeit.«
Ungläubig sah ich ihn an. »Das weißt du alles nur durch dieses Opfer?«
Der Mann antwortete nicht.
»Wieso wunder ich mich eigentlich noch?«, murmelte ich und wandte mich ab.
Als wir wieder auf der Wachen waren, erzählten wir Hotch alles. Das Problem war nur, dass wir, obwohl wir wussten, was der Täter vorhatte, nicht wussten, wer er war, was die Sache schwieriger machte. Und hinzu kam, dass die Medien immer drängender wurden. Sie riefen bei der Wache ununterbrochen an, und dann geschah das, was wir am liebsten vermieden hätten - sie hielten einen Beitrag über den, wie sie ihn nannten, »Angel-Killer«.
»Die Sache kann voll nach hinten losgehen«, meinte ich, während ich mit verschränkten Armen vor dem Tisch stand. »Entweder der Täter fühlt sich jetzt bestärkt in seinen Taten oder bedroht. Wahrscheinlich wird er sich noch schneller ein Opfer schnappen. Hat Garcia schon etwas?«
Hotch schüttelte den Kopf. »Nichts. Sie liegt auf dem Trockenen.«
»Vielleicht sollten wir einen Köder auslegen«, sagte JJ. »Jemand spricht zu den Medien und lenkt die Aufmerksamkeit des Täters auf sich. Vielleicht jemand, der dafür bekannt ist, gute Taten zu vollbringen.«
»Eine gute Idee«, stimmte Hotch zu.
»Ich werde eine Pressekonferenz einberufen. Wir müssen nur noch jemanden finden, der ins Profil passt.«
»Ich kenne da vielleicht jemanden«, sagte der Detective. »Mrs. Evans. Sie arbeitet im Waisenheim. Sie ist eine der Besten.«
»Gut, bringen Sie Mrs. Evans hierher. Wir werden sie hier über alles aufklären.« Hotch wandte sich an uns. »JJ, du kümmerst dich um die Pressekonferenz. Ihr anderen sucht nach weiteren Hinweisen zum Täter. Nach der Pressekonferenz sehen wir weiter.«
Kaum hatte Hotch die Befehle erteilt, setzten wir uns in Bewegung. Hotch und JJ verließen das Büro, so dass die übliche Kombi zurückblieb. Derek rief noch einmal Garcia an, um ihr etwas unter die Arme greifen zu können.
»Hey, Garcia, wir benötigen deine Zauberhände.«
»Fütter mich mit Worten, mit schmutzigen Worten«, kam es sogleich zurück.
In Dereks Gesicht erschien sofort ein Grinsen, und auch ich musste schmunzeln.
»Such nach einem Mann mit einer Zwangsneurose«, sagte Reid.
»Natürlich, mein Süßer. Vielleicht noch etwas genauer?«
»Versuch's mit 'Ordnungszwang'. Ist jemand vielleicht auffällig geworden, weil er aggressiv oder panisch wurde? Vielleicht spricht er auch viel mit sich selbst, wiederholt seine Sätze, vermeidet große Menschenmassen. Such bei Kliniken und Therapeuten nach. Vielleicht findest du dort etwas.«
»Rat mal, wo ich gerade nachsehe. Okay, warte. Ich habe hier fünf Patienten in Lancaster, auf denen dein Profil passen könnte.«
»Schränke die Suche auf einen Zwei-Kilometer-Radius von der Wache ausgehend ein«, warf ich ein. »Wohnt einer von denen hier?«
»Sekunde ... Ja, ein gewisser Jake Fousset. 38 Jahre alt, wurde in Lancaster geboren. Als er sechs war, wurde bei ihm eine Zwangsstörung festgestellt. Seitdem geht er in Therapie, er besuchte sogar eine Klinik und ... er wurde vor knapp einer Wochen entlassen.«
»Da war der erste Mord«, sagte Emily.
»Ich hab hier grad seine Akte. Foussets Eltern waren sehr religiös und er glaubt fest daran, dass seine Krankheit ein Geschenk Gottes ist und er als Bote und Ausrufer Gottes auf die Erde geschickt wurde um 'im Namen des Herrn gute Taten zu vollbringen'.«
»Sicher, dass er nur eine Zwangsneurose hat?«, fragte Rossi rhetorisch.
Derek beugte sich zum Telefon vor. »Garcia, wo wohnt Fousset jetzt?«
»Nach seiner Entlassung gab er als Wohnort das Haus seiner Eltern an ... Oh, Gott!«
»Was ist?«
»Es wurde vor einer Woche abgerissen, weil es baufällig war und eine Gefährdung für die anderen Bewohner darstellte. Weitere Angaben zu einem Wohnort gibt es nicht. Wahrscheinlich lebt er auf der Straße.«
»Das würde das letzte Opfer erklären«, meinte Reid. »Er kennt Phillips von der Straße.«
Ich verzog fragend das Gesicht. »Vielleicht ist das mit seinem Haus ein weiterer Auslöser für die Morde. Alles, woran er geglaubt hatte, befand sich in diesem Haus. Sein ganzes Leben ist ein Geschenk Gottes. Er ist dort aufgewachsen. Was ist mit seinen Eltern?«
»Sind bereits tot. Sein Vater starb, als Jake vierzehn war, bei einem Autounfall. Er ist am Steuer eingeschlafen. Seine Mutter verstarb vor einigen Jahren an Brustkrebs. Jake bezeichnete es als 'die Gnade Gottes'.«
Rossi ergriff seine Jacke und lief auf die Tür zu. »Okay, lasst uns den Köder auslegen und diesen Mann schnappen, bevor er noch mehr unschuldige Menschen umbringt.«
Wir hatten uns alle auf Startposition um Mrs. Evans' Haus herum versammelt. Die Frau selbst, eine 55-jährige verwitwete Dame, lief durch ihr Haus und versuchte sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Emily und Derek hatten sich in diesem versteckt, um von innen so schnell wie möglich eingreifen zu können.
»Kate, Reid, könnt ihr mich hören?«, hörten wir Hotch über Funk.
»Klar und deutlich, Hotch«, antwortete ich.
»Emily, Morgan, wie sieht es bei euch auch?«
»Alles sauber«, sagte Emily. »Bisher keine Anzeichen auf Fousset.«
»Unautorisierte Person nähert sich dem Haus«, erklang die Stimme eines Polizisten. »Ich wiederhole: Unautorisierte Person nähert sich dem Haus.«
»Alle bereit machen«, sagte Hotch.
Reid und ich, die in einem schwarzen Van auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses saßen, sahen die Mann ebenso. Ich hielt meine Waffe bereits in der Hand und beinahe automatisch hörte ich auf zu atmen. Angespannt saß ich da, den sich nähernden Mann beobachtend. Doch da ging er auf den Briefkasten zu, warf einen Brief hinein und lief zum nächsten Haus.
»Fehlalarm«, sprach Reid in den Funk, »es war nur der Postbote.«
Sofort lockerte sich meine Haltung und erleichtert atmete ich aus.
»Geht es dir gut?«, wollte Reid auf einmal wissen. »Du wirkst ziemlich unruhig und angespannt.«
»Ich muss nur die ganze Zeit darüber nachdenken, wie es ist mit solch einer Krankheit zu leben, die Fousset hat. Ich meine, trotz dessen ist er in der Lage, Menschen zu töten, und er empfindet nicht einmal Reue. Er macht es nicht zum Vergnügen, er denkt, es sei seine Aufgabe, die er von Gott erhalten hat. Er weiß nicht einmal, dass es falsch ist.«
»Wahrscheinlich tut er es wirklich nicht. Trotzdem ist er ein Mörder. Er wird in eine Klinik kommen und dort weiter behandelt werden, dennoch ist er Gefangener. Das, was er spürt, ist keine Entschuldigung dafür, andere zu töten. Ich glaube, tief in seinem Innern weiß er das.«
Ich nickte verstehend und konzentrierte mich wieder auf das Haus.
»Kate?«
»Hm?«
»Du solltest versuchen, deine Gefühle von deiner Arbeit zu trennen. Glaub mir, ich habe nach der Sache mit Tobias Hankel lange gebraucht, um mich wieder zu fassen, aber es rettet dir das Leben.«
Ich sah ihn an. »Ich weiß, Reid. Danke.«
»Verdächtiger in Sicht. Er läuft direkt aufs Haus zu«, erklang auf einmal wieder die Stimme des Polizisten.
»Nicht einschreiten«, sagte Hotch. »Ich wiederhole, nicht einschreiten.«
Der Mann, der, wie ich von Weitem erkannte, eine ziemlich weite blaue Jacke und ein Cap trug, klingelte an der Tür, die kurz darauf von Mrs. Evans geöffnet wurde. Kurz sprachen die beiden miteinander, dann vollführte er eine Handbewegung. Ich konnte nicht erkennen, was, aber Hotchs folgendes »Er bedroht sie mit einem Messer« gab mir die Antwort. Fousset schubste Mrs. Evans Haus, dann schloss sich die Tür.
»Ausrücken!«, befahl Hotch und Reid und ich sprangen aus dem Auto und rannten über die Straße. Auf Hotchs Zeichen hin, traten wir diese ein und betraten das Haus. Hotch und Rossi kamen durch die Hintertür, Emily und Derek liefen die Treppe hinunter.
»Jake Fousset, nehmen Sie die Waffe herunter!«, rief Emily. Der Mann hatte Mrs. Evans ins Wohnzimmer gebracht und drückte ihr die Klinge an den Rücken. Seine Haare gingen ihm bis zu den Ohren und schauten zerzaust unter der Cap hervor. Ein leichter Bart war in seinem Gesicht zu erkennen. Die Frau selbst starrte uns panisch an und versuchte sich nicht zu bewegen.
»S-Sie verstehen das nicht! Sie verstehen das nicht!«, entgegnete Fousset. Seine Stimme zitterte. »Es ist meine Aufgabe, meine Aufgabe, ja! Gott hat es mir befohlen!«
»Würde Gott wollen, dass Sie Unschuldige töten?«, fragte ich. »Sind Sie sich das sicher?«
»Er hat es mir gesagt, ja. Er hat es mir gesagt!«
»Okay.« Beschwichtigend hielt ich die Hände hoch, dann steckte ich langsam die Waffe zurück in die Halterung. »Hören Sie mir zu, ich bin hier, um Ihnen zu helfen.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Hotch der Handvoll Polizisten, die uns gefolgt war, anwies, sich zurückzuziehen, und auch er und Rossi gingen nach draußen.
»Wissen Sie, als Kind haben mich meine Eltern oft in die Kirche mitgenommen und ich erinner mich an einen Satz ganz besonders: Du sollst nicht morden. Das ist eines von Gottes Zehn Gebote. Sie versuchen, Gott zu helfen, dabei haben Sie eine der wichtigsten Regeln gebrochen. Vielleicht meinte Gott Ihre Aufgabe etwas anders, als Sie dachten.«
»Die Engel müssen zu Gott zurückkehren«, erwiderte Fousset. »Ich muss sie zurückbringen!«
»Ja, das können Sie, aber nicht, wenn Sie sie töten.«
»Sie kehren erst zurück ... Sie kehren erst zurück, wenn Sie tot sind!«
Ich trat vorsichtig auf den Mann zu. Er zuckte kurz zurück, blieb dann aber wieder regungslos stehen, das Messer immer noch auf Mrs. Evans gerichtet. »Aber um wahre Engel zu werden, müssen sie erst engelsgleiche Taten vollbringen. Wenn Sie sie töten, haben sie ihre Aufgabe noch nicht vollständig erfüllt. Vielleicht entscheidet Gott, wann das Leben dieser Menschen zu Ende ist. Ihre Aufgabe ist es, Sie erst dann zu begleiten und Ihnen zu helfen. Ich kann Ihnen zeigen, was Ihre wirkliche Aufgabe ist, wenn Sie wollen.«
»Sie meinen, ich habe einen Fehler begannen?«, fragte der Mann und ehe ich reagieren konnte, schubste er Mrs. Evans weg. »Ich mache keine Fehler! Fehler sind eine Sünde! Eine Sünde!« Er hielt sich die Klinge an die Kehle und wollte sich diese gerade aufschlitzen, als Derek, der sich dem Mann heimlich von der Seite genähert hatte, seinen Arm ergriff und ihn entwaffnete.
»Jake Fousset, Sie sind wegen Mordes an Amelia Warren, Richard Blake und Alexander Phillips verhaftet«, sagte er, während er Fousset unsanft gegen eine Vitrine drückte und ihm die Handschellen anlegte. »Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen leisten können, wird Ihnen einer gestellt.« Derek führte den Mann an mir vorbei nach draußen.
»Er hätte sich umgebracht«, sagte ich entsetzt. »Meinetwegen.«
»Er war instabil«, entgegnete Emily. »So oder so hätte er den Versuch gestartet. Egal, was du gesagt hättest, es hätte nichts geändert.« Aufmunternd legte sie ihre Hand auf meine Schulter, drückte sie kurz und ging dann nach draußen.
Wahrscheinlich hatte sie recht. Dennoch änderte es nichts an meinen Schuldgefühlen, die mich noch lange plagen würden.
2369 Wörter
Der Angel-Killer xD Was haltet ihr von dem Fall?
Und, glaubt ihr, lässt Kate die Fälle zu sehr an sich herangehen?
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