II
Ich rechnete damit, eine halbe Ewigkeit hier unten zu schmoren. Ob es schlussendlich einen Tag gedauert hatte oder weniger, vermochte ich nicht zu schätzen. Es war auch einerlei, ich hatte keine Sekunden gezählt, weil es sowieso keinen Sinn machte. Was nützte es einem, zu wissen, wie viel Uhr es ist, wenn man sowieso keine Aussicht mehr auf das Tageslicht hatte? Die ganze Zeit über hatte ich auf meinem Bett gelegen, war aber hellwach gewesen, als ich das Grölen vernahm.
Es dauerte nicht sehr lange und ein ganzer Haufen Wachen kam lärmend durch die Stille gepoltert. Für Angst vor dem, was kommen würde, war gar keine Zeit. Eilig erhob ich mich von meinem lächerlichen Nachtlager und nur kurz darauf flog ohne Vorwarnung meine Zellentür auf und ich wurde nach draußen gezerrt. Ich war froh, in keinen allzu friedlichen Schlaf verfallen zu sein. Das wäre hier unten ohnehin kaum möglich gewesen. Die Stille machte einen fertig. Das Trommelfell schien einem hier unten fast zu implodieren.
Auf dem Gang sah ich mich um. Die Tür zu der Zelle meiner Leidensgenossin stand sperrangelweit auf. Sie war leer. Mit einem Mal wurde mir klar, wo die Reise hingehen würde. Sie hatten sie schon abgeholt, kurz vor mir hatten sie sie mitgenommen, jetzt fehlte nur noch ich. Zwei. Zwei Leute brauchte es. Dann also doch. Ich entsann mich der Worte, die sie gesagt hatte. Ob ich geglaubt hätte, dass dieses Loch hier unten schon tief sei. Dass ich eines besseren belehrt werden würde.
Die Gänsehaut hatte gar keine Zeit, sich über meinen Körper auszubreiten, denn ich wurde mit kraftvollem Elan den Gang entlang geschleift. Vor der ersten Zellentür rechts, am vorderen Ende des Gangs, blieb man stehen. Ich bemerkte erst jetzt, dass das Fenster dieser Tür von innen mit einem Brett zugenagelt war. Ich fragte mich, ob das vorhin auch schon so gewesen war. Das Brett vor dem Fenster, der Spalt in der Wand, alles Kleinigkeiten, die ich nicht bemerkt hatte.
Einer meiner Begleiter schloss die Tür auf und dahinter befand sich nicht etwa eine weitere kleine Zelle, sondern ein weiterer Aufzug. Nur dass dieser hier um einiges robuster aussah, als das jämmerliche Ding, mit dem ich hierher gebracht worden war. Die Wände waren aus dickem Holz und von abertausenden von Kratzspuren versehrt. Man konnte nicht nach draußen sehen. Ich wurde hinein gestoßen, aber diesmal gesellte sich sich nur eine Wache zu mir. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie leichtsinnig geworden waren, nur weil ich das zahme Lämmchen spielte. So naiv waren sie nicht. Es musste einen anderen Hintergrund haben und ich fragte mich, ob ich diesen wirklich wissen wollte.
Ohne Geräusche setzte sich der Aufzug in Bewegung und zwar in die einzige Richtung, in die es für Leute wie mich ging. Nach unten, immer weiter nach unten. Leise und sanft glitt der Aufzug in die Tiefe und ich bemerkte es kaum, als er auf dem Boden auftraf. Während der ruhigen Fahrt war ich in eine Art Trance gefallen. Es fühlte sich an, als wäre ich von oben bis unten in Watte gepackt. Für einen tröstlichen Moment glitt ich ab, dass ich einen tiefen Frieden spürte. Ein Gefühl, als stünde Leo hinter mir und blies mir seinen warmen Atem in den Nacken.
Erst als meine Wache mich an den Ketten nach draußen zerrte, wachte ich auf. Draußen, das war eine riesengroße Halle. Eine Halle von solchen Ausmaßen, dass man sie schon als Arena bezeichnen konnte. Die heimlichen Worte, die über diesen Ort ausgetauscht wurden, vermochten nicht, die gigantischen Ausmaße zu verbalisieren. Nein, man musste es gesehen haben, um es zu glauben. Fernab aller Imaginationskraft existierte dieser Ort, verschwiegen, für die Verdammten. Tief unter der Erde, es gab kein Entkommen.
Hier unten war es so kalt, dass mein Ausatmen kleine Wölkchen erzeugte. In meinen Lumpen war ich der Kälte schutzlos ausgeliefert. Aber über so etwas würde ich mir wahrscheinlich sowieso keine Sorgen mehr machen müssen, schoss es mir durch den Kopf, als ich auf den Schauplatz des Geschehens blickte. Das sanfte Gefühl von vorhin war verflogen, eine erstickte Flamme in einem endlosen, dunklen Tunnel.
Sobald man aus dem Aufzug stieg, stand man auch schon auf dem großen runden Platz. Blickte man um sich, so erhoben sich die Zuschauerreihen fast bis ins Unendliche. Natürlich waren längst nicht alle Plätze besetzt. Im Gewimmel erkannte ich einige Gesichter. Es waren Mitgefangene von oben. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, waren sie alles andere als freiwillig hier. Ohne zu wissen warum, erwartete ich, das Gesicht von Leo zu sehen. Mein Herz schlug schneller, als ich durch die Reihen blickte und hoffte, dass sie ihn nicht auch erwischt hatten.
Die Wache, die mich begleitet hatte, zog einen Schlüssel aus der Brusttasche und nahm mir die Ketten ab. Kaum waren diese auf dem sandigen Boden aufgekommen, drückte er mir ein Seil in die Hand und nickte mir zu. Er wusste, was ich damit tun konnte. Was ich damit tun würde. Nur hatte ich mir geschworen, es nie wieder mehr zu tun. An meinem Blick musste er das abgelesen haben, denn er packte mich unsanft am Arm und zog mich aus dem Schatten der Tribüne in die Arena. Sowie ich in das Sichtfeld des Publikums rückte, erhob sich tosender Applaus. Von der anderen Seite wurde meine Leidensgenossin hereingeführt. Ihr hatte man ein Schwert gegeben. Es war klar, wer den Kürzeren ziehen würde. Als das Klatschen beendet war, schallte eine Stimme durch die Arena.
„Hochverehrtes Publikum! Sie sind alle aus einem Grund hier. Es erwartet Sie ein Spektakel, wie sie es nur einmal erleben werden. Eine oder Keine!"
„Eine oder Keine!", skandierte das Publikum. Tausende Stimmen schlossen sich zu einem furchterregenden Grollen zusammen, das wie ein Gewitter über uns walzte. Die Stimmung in der Arena war derart elektrisiert, dass ich das Gefühl hatte, die Sandkörner unter meinen Füßen würden vibrieren. Mein Blick huschte durch die Zuschauerreihen und zu meiner Erleichterung sah ich Leo nicht. Wie hatte ich auch nur einen Moment lang glauben können, er wäre hier?
„Nika mit dem Schwert gegen Astra mit dem Seil, Eine oder Keine! Die Abgabe von Tipps ist nun nicht mehr möglich. Schließen Sie nun die Türen. Eine oder Keine!", wummerte die Stimme durch die Arena. Ein gewaltiger Applaus brach aus und ich sah zu der Frau, deren Namen ich erst jetzt erfahren hatte. Nika. Ihre Augen leuchteten vor Hass. Ihr Körper bebte vor zorniger Erregung.
Zehn Meter stand sie von mir entfernt. Sie hielt das Schwert mit beiden Händen vor sich. Ich war mir sicher, sie würde den ersten Schritt machen. Ich würde es gewiss nicht tun. Wie ein Kind mit dem Springseil in der Hand stand ich da und versuchte, aus ihren Augen etwas ablesen zu können. Es gelang mir nicht. Sie fixierte mich unverhohlen, aber ihre Augen waren verschlossen, als sei hinter der grünen Iris eine Wand aus schwitzendem Beton.
Mit einer langsamen und geschmeidigen Bewegung hob sie das Schwert über ihren Kopf und kam auf mich zu. Katzengleich trugen sie ihre schlanken Beine durch die Arena. Ich schloss meinen Griff fester um das Seil. Ich spürte, wie Energie durch meine Hand in die Fasern hinein strömte. Indessen kam sie weiter auf mich zu, die Siegessicherheit in ihrem Lächeln wurde nur durch einen Funken Unsicherheit getrübt. Unsicherheit über meine Passivität.
Zwei Meter vor mir, sah es so aus, als würde sie stehen bleiben. Dann stieß sie einen Schrei aus. Ich vermag nicht zu sagen, ob es der Kampfschrei war oder ob es einfach nur aus der Irritation war. Aber es passierte alles zugleich. Das Seil hatte sich um ihren Knöchel geschlungen und wanderte wie eine Schlange an ihrem Bein hinauf. Entsetzt richteten sich die zwei giftgrünen Smaragde auf das Seil, das sich den Weg zu ihrer Taille bahnte.
Sie ließ das Schwert fallen und zerrte an dem Seil. Aber natürlich hielt das den Verlauf nicht auf. Das Publikum kreischte vor Entzücken. Manche stampfen mit den Füßen auf, andere pfiffen. Nikas Augen trafen meine. Ich hielt ihren Blick, während das Seil stetig weiter nach oben kroch. Das Publikum war am ausrasten. Kurz bevor es ihren Hals erreichte, gebot ich ihm mit einer schneidenden Handbewegung Einhalt. Es stoppte an Ort und Stelle. Ich sah Nika die Erleichterung an, bis kurz darauf der Hass wieder loderte. Sie zerrte an dem Seil, merkte aber schnell, dass es nicht loslassen würde. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Eine kleine Bewegung von links nach rechts, die nur für Nika gedacht war.
Man hörte knisterndes Getuschel im Publikum, die ersten Ausrufe des Missfallens waren bald darauf zu vernehmen. Ich zögerte absichtlich, bis die Spannung förmlich spürbar war. Bis ich aus dem Augenwinkel sehen konnte, dass sich mir eine der Wachen sichtbar zögerlich näherte. Dann war der Zeitpunkt für das große Finale gekommen. Mit einem Schwung ließ ich meine Hand nach oben sausen, streckte sie über meinen Kopf, so hoch ich konnte und in dem Augenblick schoss das Seil wie ein Pfeil geradezu nach oben in die Unendlichkeit des Raumes. Ein Raunen ging durch das Publikum. Alle warteten auf das große Finale. Und das würden sie auch bekommen. Ich senkte meine Hand und das Seil kam wie aus dem Nichts kerzengerade heruntergesaust, es steuerte direkt auf Nika zu.
Das Publikum war kaum noch zu bändigen. Das Seil sauste gnadenlos direkt auf Nika zu, die es wie paralysiert anstarrte und zu keiner Bewegung mehr fähig war. Entweder sie war vollkommen entspannt oder vor Angst gelähmt. Kurz bevor das Seil Nika treffen konnte, machte ich eine Bewegung, als würde ich einen imaginären Ball werfen. Das Seil sauste in die Menge. Panisches Geschrei brach aus. Wie eine Welle schlug sich das Seil durch das Publikum. Die Leute sprangen wild durcheinander, alle wollten so schnell wie möglich ihre eigene Haut retten.
„Eine oder Keine!", rief ich. Meine Stimme wurde als Echo wiedergegeben, ging aber allmählich im allgemeinen Getümmel unter. Dann wurden die Lichter gelöscht.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro