[29] • Unüberlegtes wohlüberlegt
Die Plätze um das große Holzgerüst, das schon lichterloh in Flammen stand, waren bereits lückenlos gefüllt. Manche hatten sich ihre Campingstühle mitgebracht, andere saßen auf ausgebreiteten Picknickdecken und wieder andere standen in Grüppchen um die Kohlegrille herum und schauten dem Essen beim Brutzeln zu, während schon einmal das erste Bier geleert wurde. Jasper gesellte sich zu letzterer Gemeinschaft, um unserer fischigen Ausbeute einen Platz auf einem der Grillroste zu sichern. Derweil machte ich mich daran, ein freies Stück Wiese für uns zu suchen. Ich tänzelte zwischen Decken und Stühlen hindurch, wich einem Mann im großen Bogen aus, der gerade seine Gitarre zückte, und zielte dann einen unbesetzten Fleck zwischen zwei Bäumen an. Ich schmiss meine Jacke ins Gras, die wir auf dem Weg hierher noch aus dem Zelt geholt hatten, und nutzte sie als Unterlage. Auch wenn der Himmel sich bereits in voller Röte zeigte, reichte die letzte Sonnenwärme noch aus, die in der Luft herumschwirrte, um sich in Shirt und Pulli wohlzufühlen.
Ich genoss, dass keiner mich ansprach und ich in Ruhe die anderen Menschen beobachten konnte, bis Jasper mit den zwei gegrillten Fischen zu mir zurückkehrte. Er drückte mir den Pappteller zusätzlich Gabel in die Hand, die er sich wohl irgendwo geliehen haben musste, und setzte sich zu mir.
»Und passt das Abendprogramm?« Ich nickte. Ich hatte es mir eindeutig schlimmer vorgestellt.
»Aus der Entfernung geht's«, räumte ich ein und bedachte den Gitarristen mit einem argwöhnischen Blick, da er gerade dabei war, seine Nachbarn zum Mitsingen zu animieren. Zu meiner Erleichterung saßen wir so weit entfernt, dass er uns nicht auf dem Kieker hatte.
»Zum Glück spiele ich kein Instrument«, brummte Jasper vor sich hin und schob sich dann das erste Stück Fischfilet in den Mund.
»Hm?«
»Ach, nichts«, winkte er ab und aß schnell weiter. Ich zuckte mit den Schultern und ließ mich ebenso von meinem Hunger leiten. Seit dem schokohaltigen Frühstück hatte ich lediglich zwei Äpfel verdrückt, weswegen ich gierig meine Gabel belud. Akribisch trennte ich dabei das Fleisch von den Gräten und auch beim Kauen war ich noch vorsichtig, bis ich mir sicher war, dass ich nichts übersehen hatte. Die Teile in der Luftröhre stecken zu haben, war die Erfahrung nicht wert. Erst nach dieser Sicherheitsprüfung konnte ich mein Essen wirklich genießen.
»Der schmeckt richtig gut«, ließ ich Jasper wissen. Im Gegensatz zu den Köchen unserer Schulkantine konnte er eindeutig mit Salz und Pfeffer umgehen.
»Ist das ein Proargument fürs Angeln?«
Ich grunzte. »Nein. Nur meine Enttäuschung hält sich in Grenzen.«
Jasper schüttelte hoffnungslos mit dem Kopf. »Na zumindest etwas.«
Der Abend schritt voran. Gemütlich aßen wir auf und deckten uns daraufhin mit jeweils einer Flasche Limonade ein. Die Stimmung um uns herum wurde zunehmend ausgelassener und kontaktfreudiger. Sogar der Gitarrist hatte letztlich ein Grüppchen gefunden, mit dem er die üblichen Lagerfeuerlieder trällern konnte, und unterhielt damit die restlichen Besucher. Auch ich ließ mich ein bisschen von der Musik einlullen und summte manchmal leise die Melodie mit, wobei ich heute Morgen noch bei mancher Songauswahl den Kopf geschüttelt hätte, weil es so offensichtlich nach Lagerfeuerkitsch klang. Aber wenn das Holz dann tatsächlich glühte und knisterte, die Funken wild emporflogen, konnte man sich plötzlich nichts anderes mehr dazu vorstellen als das sanfte Zupfen von Gitarrensaiten.
Die Sonnenröte war dem Tag entschwunden und mit ihr die letzte Wärme. Tiefe Schwärze flutete nun den Himmel und nur das Leuchten der Sterne durchbrach diese über uns wachende Dunkelheit. Mit Blick gen Unendlichkeit und dem süßen Prickeln der Limonade auf der Zunge wanderten die Minuten an mir vorüber. Jasper saß ruhig neben mir. Ich hörte seinen Atem, was bei der Geräuschkulisse um uns herum eigentlich unmöglich erschien. Vielleicht war es auch nur Einbildung. Oder es war dem Umstand geschuldet, dass wir uns immer mehr dem anderen entgegen lehnten. Auch unsere Finger fanden sich irgendwann wie von selbst und verschränkten sich ineinander, als hätte der Wunsch danach bereits den ganzen Tag über bestanden. Und als ich ihn jetzt spürte, wurde mir vollständig bewusst, wie sehr ich mich tatsächlich nach ihm gesehnt hatte. Nach dieser Selbstverständlichkeit, ihn zu berühren.
»Ist dir kalt?«, flüsterte er, als würde er mir ein Geheimnis entlocken wollen. Sein Mund verweilte so nah an meinem Ohr, dass ich seinen Atem nun nicht nur hören, sondern auch auf meiner Haut fühlen konnte. Eine Schauerwelle rann mir von Kopf bis Fuß.
Seine Finger lösten sich von meiner Hand und glitten meinen Arm hinauf. Es war frisch geworden, das stimmte, aber erst diese Bewegung seinerseits brachte die Gänsehaut in mir hervor. Ich nickte, auch wenn ich die Frage ebenso wahrheitsgemäß hätte verneinen können. Die Süße der Limonade war mir zu Kopf gestiegen. Ich hoffte darauf, ihn noch näher bei mir zu haben. So wie heute Morgen, umgeben von seinem Herzschlag. Oder vielleicht noch ein bisschen näher?
Ehe ich wieder Herr meiner Gedanken werden und kalkulieren konnte, wohin das vielleicht führen könnte, rutschte Jasper hinter mich und fing mich zwischen seinen Armen ein. Sie schlossen sich um meinen Oberkörper und zogen mich so nah wie möglich zu ihm heran. Das flackernde Licht der Flammen tanzte auf seinen Händen und meine Körperkontrolle verabschiedete sich ins Nirgendwo. Die Selbstbeherrschung hing wahrlich irgendwo zwischen den Sternen, wo ich sie den Rest des Abends nicht mehr erreichen würde. Wie in Trance zog ich mit meinen Fingerspitzen die leicht erhabenen Adern auf seinen Unterarmen nach. Es war grotesk, wie fasziniert ich von seinem Körper war, als wäre er das interessanteste, was mir jemals unter die Augen getreten war. Aber in diesem seltsamen Zustand, in dem ich mich gerade befand, war ich absolut überzeugt davon, dass dem so war.
Es brachte meine Sinne zum Glühen, dass Jasper wohl auch nicht umhinkam, mir kleine Zärtlichkeiten zu schenken. Mit einem Seufzen vergrub er sein Gesicht in meiner Halsbeuge und seine Lippen huschten immer wieder vorsichtig über meine empfindliche Haut. Ich lehnte mich ihm entgegen, wollte, dass seine Lippen länger dort verweilten. Ich wollte ihm seine Zurückhaltung nehmen, sie dorthin schicken, wo sich bereits meine Selbstbeherrschung verkrochen hatte. Doch er hielt daran fest, was mich fast zur Verzweiflung brachte. Jeder seiner hauchzarten Küsse ließ den Wunsch nach mehr noch stärker in mir anwachsen. Und erst als ich meine Lider anhob, wurde das Verlangen gedämpft. Denn ich realisierte wieder, in welcher Umgebung wir uns gerade befanden.
Verlegen zog ich mich noch tiefer in seine Arme zurück und hätte mich am liebsten unter seinem Pulli versteckt, auch wenn es so schien, als hätte niemand unsere kleine Turtelei mitbekommen. Denn wie ich feststellen musste, waren einige vielmehr mit ihrer eigenen Zweisamkeit beschäftigt.
»Ich bin doch ganz froh drum, dass du uns einen etwas abgelegeneren Platz ausgesucht hast«, murmelte Jasper irgendwo ganz nah neben mir. Ich hörte das verwegene Lächeln auf seinen Lippen. Mein Herzklopfen schwoll noch einmal an.
Es war nicht meine volle Absicht gewesen, so weit von den anderen entfernt zu sitzen, zumindest hatte ich dafür andere Gründe gehabt. Doch ich konnte nicht leugnen, dass es mir gefiel, wie wir diesen Anflug von Privatsphäre nutzten. Jaspers Lächeln steckte mich an, ohne dass ich es sah. Doch etwas peinlich war mir die Situation dennoch, weshalb ich mein Gesicht kurz hinter meinen Händen versteckte, bis ich zumindest wieder die Illusion verspürte, meinen Körper unter Kontrolle zu haben. Allerdings fühlte sich alles so kribbelig an. Und dieses Gefühl widersetzte sich jeder Gewalt. Ergeben ließ ich meinen Kopf weiter nach hinten gegen Jaspers Schulter sinken. Die tiefblaue Weite erstreckte sich vor meinen Augen.
»Hier sieht man die Sterne noch ein bisschen besser als nachts in der Stadt«, bemerkte ich beiläufig.
»Das stimmt. Auf den Straßen kann ich nur selten ein Sternbild erkennen.«
Wir hatten schon so oft zusammen auf der Straße gelegen, dass ich irgendwann nicht mehr drüber nachgedacht hatte, warum wir das überhaupt taten. Warum Jasper eigentlich damit angefangen hatte. Er hatte es als Familientradition bezeichnet und mich mit dieser angesteckt, obwohl ich gar nicht wusste, was wirklich dahinterstand. Die Frage danach hatte sich irgendwann davongeschlichen, ich hatte es nur noch genossen, bei ihm zu sein. Doch der Wunsch nach einer Antwort brach nun umso stärker aus mir hervor.
»Du hast mir mal erzählt, dass es eine Familientradition ist. Das auf der Straße liegen. Warum?« Das letzte Wort kam mir so tonlos über die Lippen, dass ich mich nicht darüber gewundert hätte, hätte er mir nicht geantwortet. Aber er hatte es gehört. Bevor er anfing, zu reden, suchte er nach meinen Händen, um sie wieder mit seinen zu verschränken. Als würde diese Berührung ihm die Worte auf die Zunge legen. Er sprach zögerlich, aber mit fester Stimme.
»Wegen meiner Mutter.« Sein Daumen glitt ruhelos über meine Fingerknöchel. Ich bereute fast, diese Frage gestellt zu haben, merkte, wie sehr es ihn aufwühlte. Er hatte mir schon so viel erzählt, wieso forderte ich noch mehr, wenn ich doch selbst so wenig zu erzählen hatte? Doch Jasper fuhr fort: »Nach ihrer Diagnose, nachdem ihr die Ärzte erklärt hatten, wie schnell dieses Glioblastom, dieser Tumor, sich in ihrem Gehirn ausbreitete, hatte sie diese Eigenart entwickelt, sich einfach hinzulegen, wann immer es ihr passte. Sie behauptete, die Zeit würde dann für sie langsamer vergehen. Und ich fing an, mich neben sie zu legen. Auch weil ich hoffte, dass sie damit recht hatte, obwohl ich natürlich wusste, dass das so nicht funktionierte. Und irgendwann an einem Abend hatte sie sich dann auf die Straße gelegt. Ich hatte sie sofort davon abbringen wollen. Zu gefährlich, hatte ich ihr versucht klarzumachen. Als wäre ich nicht das Kind und sie nicht meine Mutter. Aber ich hatte sie nicht umstimmen können, also ließ ich sie, während ich aufgepasst habe, dass kein Auto kam. Diese Nacht hat sich irgendwie in mein Gedächtnis eingebrannt.«
Er war mit jedem Satz leiser geworden. Er hatte die Geschichte in die Nacht geflüstert, als hätte er sie viel mehr noch einmal sich selbst erzählt. Und ich hörte nur rein zufällig zu. »Ich fühle mich ihr irgendwie so verbunden, wenn ich dort liege. Das hört sich vielleicht etwas komisch an, aber ich habe immer das Gefühl, dass sie mir dort am nächsten ist, dass sie neben mir liegt.«
Ich schüttelte energisch mit dem Kopf. »Ich finde nicht, dass das komisch klingt. Außerdem hatte deine Mutter recht, die Welt dreht sich wirklich langsamer«, teilte ich das, was ich empfunden hatte, während ich zum ersten Mal neben ihm auf der Straße gelegen hatte. »Aber ich stimme auch deinem jüngeren Ich zu. Es kann wirklich gefährlich sein, auf offener Straße zu liegen. Vielleicht-« Ich zögerte, da ich jetzt wusste, was ihm die ganze Sache bedeutete. »-könnte man auch auf eine Wiese ausweichen.«
»Keine Sorge, es ist noch nie was passiert.« Ich schnaubte leise.
»Darf ich dich dran erinnern, dass ich dich damals fast übersehen hätte.« Ich dachte an meine Schrecksekunde zurück. Ich musste zugeben, der Schock steckte mir doch noch in den Knochen, auch nach all den Monaten.
»Das war ein glücklicher Zufall.«
Ruckartig drehte ich mich in seiner Umarmung zu ihm hin. »Ein glücklicher Zufall?«, wiederholte ich entgeistert. Ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen. Er hatte mit meiner Reaktion gerechnet. Wie konnte er das nur auf so eine leichte Schulter nehmen?
»Absolut«, betonte er, verzichtete aber darauf, das weiter auszuführen. Abermals schüttelte ich mit dem Kopf. Ich versuchte mich nicht daran, eine Diskussion mit ihm auszufechten. Wer war ich denn, ihm etwas zu verbieten? Dazu hatte ich kein Recht. Aber was war, wenn wirklich einmal etwas passierte?
Meine Gedanken machten ihre Runden, fuhren Achterbahn, während die langsamen Gitarrenklänge dagegen anzukommen versuchten. Jaspers Bewegungen wurden hingegen wieder ruhiger, doch mich hielten seine Worte noch gefangen. Ich versuchte, mir Jasper vorzustellen, diese junge Version von ihm, wie er sich darum bemühte, seine Mutter glücklich zu machen, ihr die letzten Wünsche zu erfüllen. Ich konnte seinen Schmerz nicht nachempfinden, ich konnte nur vage Vermutungen anstellen, wie schwer das für ihn gewesen sein muss. Daneben hielten sich aber auch meine alten Befürchtungen weiter an der Oberfläche. Die Gedanken, die ich mir darum gemacht hatte, wie fahrlässig diese nächtliche Aktion doch war. Die Angst, dass ein Autofahrer mal zu spät reagierte.
Diesmal war ich es, die sich an Jaspers Händen festhielt, sie drückte, woraufhin er zurückdrückte. Seine stetige Wärme und die Musik brach allmählich wieder zu mir hindurch und holte mich zurück ins Jetzt. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und das Wirrwarr in meinem Kopf zurückzudrängen in die dunkelste Ecke, die ich finden konnte. Glücklicherweise unterstützte mich Jasper unwillkürlich dabei, indem er wieder ein Gespräch begann, dass sich langsam aber sicher erneut an meinen schlechten Anglerfertigkeiten ergötzte. Es war befreiend, wie gut diese Ablenkung wirkte. Wir machten einen Bogen zum Thema Kochen und als ich ihm von den kuriosen Rezeptversuchen meines Vaters oder Balus Gefräßigkeit berichtete, fühlte ich mich wieder wohl in meiner Haut.
»Wollen wir langsam zurück?«, fragte Jasper dann irgendwann.
Die Wiese um die Feuerstelle leerte sich allmählich und die Flammen züngelten immer schwächer in die Höhe. Müdigkeit legte sich langsam über die Campinganlage, wobei ich mich noch ungewöhnlich fit fühlte.
»Ja, gerne«, sagte ich dennoch, weil die Vorstellung, Jasper nur für mich zu haben, viel zu verlockend klang, um die Gelegenheit aufzuschieben. Im nächsten Moment sprang er auch schon auf die Füße und zog mich in derselben Bewegung mit nach oben. Ob er wohl die gleichen Gedanken hatte?
Ich grinste in mich hinein, derweil wir den Rückweg antraten. In aller Ruhe schlenderten wir nebeneinanderher und kamen nach ein paar Abzweigungen am See vorbei, der im Gegensatz zu heute Mittag nun ganz verlassen vor uns lag. Die seichten Wellen des Wassers begleiteten unseren Weg und ich musste daran denken, dass wir morgen bereits wieder nach Hause fahren würden. Dieses Wochenende hatte sich angefühlt wie ein Ausbruch aus der Realität und vielleicht raste die Zeit deswegen so schnell an mir vorüber. Seitdem Jasper und ich zusammen ins Auto gestiegen waren, hatte ich dafür irgendwie das Gespür verloren. Instinktiv zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche. Grell leuchtete mir der Bildschirm entgegen. Wir hatten längst nach Mitternacht. Wir würden also nicht erst morgen, sondern schon heute diesen Ort verlassen. Doch bevor mich deswegen die Enttäuschung einholen konnte, fielen mir meine ganzen Benachrichtigungen ins Auge. Besonders die Info über eine Nachricht von Cleo am Nachmittag ließ mich innehalten.
Konnte es sein, dass? Ich erinnerte mich wieder daran, dass sie mir hatte schreiben wollen, wenn das Ergebnis des Wettbewerbs verkündet worden war. Und vielleicht? Mein Puls zog tatsächlich sein Tempo an, als mein Zeigefinger über der Benachrichtigung schwebte und mehr im Versehen als mit Absicht öffnete ich den Chat.
Abrupt blieb ich stehen und starrte die Nachrichten an, als wären sie in einer anderen Sprache verfasst.
»Was ist?«, hörte ich Jasper wie aus weiter Ferne.
»Wir haben gewonnen. Den Breckstein-Wettbewerb, wir haben tatsächlich gewonnen«, wiederholte ich perplex Cleos Wortlaut. Immer noch ungläubig hob ich meinen Blick an und schaute zu Jasper, um zu überprüfen, ob er noch dort stand, echt war und ich mir das gerade nicht alles erträumte. Er strahlte von einem Ohr zum anderen. Langsam breitete er seine Arme aus.
»Also wenn du dich freuen willst, ich werd's auch nicht weitererzählen.«
In mir schien die Verhaltenheit wie ein Luftballon zu platzen. All die Freude, der Spaß, den ich die letzten Wochen mit dem Dagobert-Team gehabt hatte, brach schlagartig aus mir heraus. Mit einem Satz warf ich mich in Jaspers Arme, worauf er einige Schritte nach hinten strauchelte. Ich konnte es nicht vollends wahrhaben. Die ganze Arbeit hatte sich gelohnt. Die Energie jedes Einzelnen, die Energie, die ich selbst hineingesteckt hatte, hatte sich ausgezahlt. Diese Euphorie darüber, etwas gewonnen zu haben, war gänzlich neu für mich.
Ich lehnte mich in Jaspers Umarmung so weit zurück, dass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. »Kannst du dir das vorstellen? Ha! Ich hatte echt nicht damit gerechnet.«
»Ich hiermit auch nicht«, gab er keck zurück. Ich registrierte meinen Übereifer, wie sehr ich ihn damit überrascht hatte, und hätte mich am liebsten direkt zurückgezogen. Doch Jasper hielt mich fest und hatte anscheinend nicht vor, mich allzu bald wieder freizugeben. Aber auch wenn es mir unangenehm war, ihm diese Seite von mir zu zeigen, konnte ich nicht aufhören zu strahlen. Auf das, was ich damit jedoch in ihm heraufbeschwor, war ich genauso wenig vorbereitet.
Zu dem Stolz in seinen Augen mischte sich noch etwas anderes. Ein Aufglimmen von Verlangen. Und plötzlich waren da seine Finger, die sich sanft in meinen Nacken legten. Sein Kehlkopf hüpfte, was mich ebenfalls voller Erwartung schlucken ließ. »Dein Lächeln ist so schön, Leonie«, murmelte er noch, bevor er auch schon seine Lippen auf die meinen senkte. Dieser Tag war voller Überraschungen gewesen, doch auf diese hier reagierte ich umgehend. Kaum berührte er mich, keimte die Begierde auch in mir und wucherte so schnell um sich, dass es mich fast von den Füßen hob. Und Jasper setzte das glatt in die Tat um, als er unseren Kuss vertiefte. Es war anders. Mit ihm hatte es sich immer irgendwie neu, irgendwie aufregend angefühlt, aber heute Nacht schmeckte es nach Verlangen in allen erdenklichen Geschmackssorten. Von der Zurückhaltung, in der er sich noch während des Lagerfeuers geübt hatte, war jetzt gar nichts mehr zu spüren.
Doch er wehrte sich gegen diesen Kontrollverlust, sagte sich von meinen Lippen los und hielt mich an den Schultern zurück. Und ich wollte nichts anderes, als diese Lücke zwischen uns wieder zu schließen. »Ich glaube wir sollten hier aufhören.« Sein Atem kam stoßweise, der Blick verschleiert, als würde hinter diesen schönen Augen ein gewaltiges Chaos toben. Er ließ von mir ab und tat einige Schritte rückwärts. Ich konnte die Enttäuschung nicht bremsen, die sich angesichts des Abstands, den er so unvermittelt zwischen uns einnahm, in mir ausbreitete. Fast kam es mir vor, als wären diese letzten Sekunden meiner ungezügelten Fantasie entsprungen. »Nicht dass wir noch etwas Unüberlegtes tun. Ich will nicht, dass du-«
»Ich habe mir das schon viel zu oft gut überlegt.«
Sofort hielt ich die Luft an. Hatte ich das- »Habe ich das gerade laut gesagt?« Er nickte. Mit leicht geweiteten Augen stand er da, sein Körper angespannt, als wagte er nicht, sich zu bewegen. Dafür hatte ein regelrechter Sturm nun seinen Blick erobert, der ein Prickeln meinen Körper hinaufjagte. Ich wusste nicht, was mich letztendlich ins Verderben stürzte. Ob es der laue Wind oder die Sicherheit versprechende Dunkelheit war. Vielleicht war es ein bisschen von beidem. Vielleicht war auch nur mein trügerisches Herz dafür verantwortlich. Und meine Stimme spielte den Komplizen, als ich leise zu Jasper flüsterte: »Worauf wartest du dann noch?«
Es war wahrscheinlich absolut falsch, sich so fallen zu lassen. Mir war nicht klar, was das in mir auslösen würde. Auch nicht, was ich im Nachhinein darüber denken würde. Das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass ich das hier wollte. In genau diesem Moment wollte ich ihn näher bei mir halten als jemals zuvor. Und als Jasper auf mich zu gestapft kam, seine Arme um meinen Körper schlang und mich zu seinen Lippen hinaufzog, merkte ich, wie absolut richtig sich das anfühlte. Fähnchen und Konfetti waren vergessen, in mir explodierte ein wahres Feuerwerk.
»Bist du dir wirklich sicher, Leonie?«, nuschelte er an meinen Mund. Er wagte es diesmal nicht, sich weiter von mir zu entfernen.
Unter diesem Sternenhimmel gab es keine andere Antwort als: »Ja.«
Zwischen Berührungen, Küssen und geflüsterten Worten schafften wir es irgendwie zurück zu unserem Zelt. Ich konnte mir nicht erklären, wie ich es bewerkstelligte, das kleine Schloss zu öffnen, das wir am Eingang angebracht hatten, und schlussendlich den Reißverschluss aufzuziehen. Meine Finger bewegten sich von allein, folgten meinen verworrenen Anweisungen und fanden dann direkt wieder zu Jasper. Er hatte mir die Haare zur Seite gestrichen und meinen Hals wieder und wieder mit Küssen bedeckt. Jetzt hatte ich ihm mein Gesicht zugewandt. Er küsste Schläfe, Wangenknochen und Mundwinkel, bis er sich abermals meinen Lippen annahm. Rückwärts stolperte ich ins Zelt hinein und zog Jasper an seinem Pullikragen mit mir.
Die Enge, die am frühen Morgen noch eine gewisse Verunsicherung in mir geweckt hatte, war vollends verflogen. Pulsierende Hitze füllte das kleine Zelt. Die Gier in seinen Bewegungen förderte die meine. Es war, als würden wir uns gegenseitig hochschaukeln in unserem Drang nach mehr, dem Verlangen nach Nähe. Gleichzeitig war Jasper so vorsichtig, während er mir die Kleidung vom Körper streifte, als wäre ich etwas ganz und gar Zerbrechliches. Und vielleicht war ich das auch, denn ich hatte das Gefühl, jeden Moment in unzählige Einzelteile zerspringen zu müssen. Mit zitternden Händen griff ich nach dem Saum seines Pullovers, fummelte ungeduldig daran, bis Jasper selbst mir zur Hilfe kam und sich seines Oberteils und gleich darauf seiner Hose entledigte.
Seine nackte Haut unter meinen Fingerkuppen zu fühlen, ihn auf diese Weise neu zu erkunden, war etwas, was ich mir so oft vorgestellt hatte, aber nie hätte erahnen können, was es wirklich mit mir machte. Das fiebrige Funkeln in seinen Augen, das mich durch die schummrige Dunkelheit erreichte, während er zeitgleich die Kondompackung aufriss, zerschoss jeden noch so kleinen Zweifel. Ich legte meine Hände um sein Gesicht, spürte sein Glühen unter meiner Haut, und zog ihn zu mir heran. Alles von ihm berührte alles von mir. Er schob seinen Arm unter meinen Rücken, wanderte mit seinen Fingern meine Wirbelsäule hinauf und drückte mich noch enger an sich, als würde nichts genügen. Immer mehr. Noch mehr. Ich hörte seinen Herzschlag klar und deutlich, wie er die stillen Momente meines Herzens füllte. Das hier war nicht mein erstes Mal, aber es war das erste Mal, dass es mich so übermannte. Die Minuten verflogen, wandelten sich in Küsse, Berührungen, Bewegungen. Wellen der Lust brachen über mich hinweg. Immer wieder aufs Neue. Und als jede Zelle meines Körpers plötzlich einem Funken glich und wild umher stob, flüsterte Jasper meinen Namen. Diese Nacht gehörte nur uns beiden und als würden die Sterne uns das bezeugen wollen, segelte genau in diesem überwältigenden Augenblick der hellblaue Stoff auf uns hinab und hüllte uns ein.
Mir fehlten Luft und klare Gedanken, um sofort zu realisieren, dass gerade das Zelt über unseren Köpfen kollabiert war. Erst als ich wirr gegen den Stoffhaufen anzukämpfen versuchte, begriff ich und fing lauthals an zu lachen. Jasper lachte auch, unterbrochen von Küssen, die er entlang meines Schlüsselbeins verteilte. »Zelte aufstellen sollten wir wohl nochmal üben«, raunte er amüsiert. Ich sagte nichts, schlang meine Arme um seinen Hals und hielt mich an ihm fest. So blieben wir eine ganze Weile liegen und hörten einfach nur dem flachen Atem des jeweils anderem zu.
»Also ähm, sollen wir draußen schlafen?«, murmelte Jasper und drückte seine Nase in die kleine Kuhle unter meinem Kieferknochen.
Ich befürchtete fast, nicht mehr zu wissen, wie man Wörter produzierte. Doch schlussendlich fand ich einen Hauch meiner Stimme. »Gerne.«
Widerwillig lösten wir uns voneinander. Jasper hielt, so gut er konnte, das eingefallene Gestell aufrecht, derweil ich mir in Windeseile meine Klamotten anzog und Schlafsack und Decken durch den Zelteingang nach draußen warf. Daraufhin stellte ich mich auf und gab Jasper die Möglichkeit, sich zurechtzumachen. Ich konnte mich nicht davon abhalten, ihn dabei zu beobachten, wie er durch seine Größe überall aneckte, und spürte jede einzelne Berührung noch einmal auf meinem Körper widerhallen.
Fertig angezogen, suchten wir uns den Weg hinaus und als wir schließlich draußen standen, sackte hinter uns das Zelt in sich zusammen. Die Nacht war noch genauso dunkel wie vorhin, aber etwas ruhiger und kühler geworden. Leichter Wind wehte mir um die Nasenspitze und ich konnte es nicht erwarten, mich zusammen mit Jasper in den Schlafsäcken zu verkriechen. Direkt neben unserem alten Schlafplatz breiteten wir unsere Sachen aus. Wir sprachen nicht viel, denn wir hatten eben in unserer geteilten Stille schon so viel gesagt.
Unsere letzte Nacht. Ich wusste nicht, was der Morgen bringen würde, wollte es nicht wissen. Ich wollte das hier, für länger oder zumindest für die nächsten Stunden. Die Sterne strahlten hell über unseren Köpfen, das Wasser schwappte leise zu unseren Füßen und wir hielten uns in den Armen, eingewickelt in unseren Schlafsäcken. Und für einen flüchtigen Moment bildete ich mir ein, das Meersalz auf meiner Zungenspitze zu schmecken.
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