[22] • Kühle Nächte
Es war eine Genugtuung, seine Lippen zu spüren. Seine Berührungen wärmten mich, während die Kälte von der Straße durch die Decke und meinen Mantel kroch und meinen Körper beben ließ. Oder war das auch Jaspers Verschulden? Ich konnte es nicht mehr genau sagen. All meine Empfindungen verschwommen zu einem wirren Strudel, der sich in meinem Bauch immer wieder aufbäumte, wenn Jasper den Druck intensivierte. Er war ein verdammt guter Küsser, anders konnte man es einfach nicht beschreiben. Schon bei unserem ersten Kuss war mir das bewusst geworden. Er hatte meinen Mund im Sturm erobert und dabei einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der mich stets wie von selbst zu seinen Lippen zog. Wir hatten uns jetzt schon so oft geküsst, aber ich bekam schlichtweg nicht genug. Nie war es mit davor zu vergleichen, jedes Mal gab es irgendeine Bewegung, die ich mit freudiger Überraschung erfasste und mein Herz in einem neuen Rhythmus schlagen ließ.
Vielleicht waren auch die langen Tage zwischen unseren Treffen daran schuld, dass es sich immer so wunderlich neu anfühlte. Aber ich glaubte fast, dass es keinen Unterschied machen würde, wenn wir ununterbrochen zusammen wären. Eher hatte ich das Gefühl, dass ich mich bei mehr von ihm, auch nur nach noch mehr verzehrte. Genau aus dieser Vermutung heraus gab es mir auch ein klein wenig Sicherheit, dass wir uns nicht so oft sahen, wie man eventuell vermuten mochte. Die Worte, mit denen ich Cleo erklärt hatte, was das zwischen Jasper und mir war, hatten den Kern der Sache durchaus gut getroffen. Es war eigentlich alles wie zuvor, nur mit dem Unterschied, dass wir uns nun nicht mehr zurückhielten, wenn wir uns berühren wollten. Dem stand kein Gedanke, keine Vorsicht mehr im Weg.
Wenn wir allein waren, standen unsere Hände nicht still. Wir nahmen uns gegenseitig den Atem, wann immer wir dazu Lust hatten. Und diese Lust war, wie es schien, nie gestillt. Wir küssten uns ungestüm, während meine Finger mit seinen Locken spielten. Er hingegen hatte seine Arme um meine Taille geschlungen und hielt mich fest an sich gedrückt. Wie froh ich war, dass dieser Straßenabschnitt einer der verlassensten Orte war, die diese Stadt zu bieten hatte. Ich wollte gar nicht wissen, wie wahnsinnig wir von außen betrachtet auf andere wirken mussten. Zwei Menschen, die in Decken eingekuschelt auf der Straße lagen und sich küssten, als gäbe es keinen Morgen mehr. Aber im Grunde kümmerte es mich wenig, wie wir dabei aussahen. Es war zu gut, um damit aufzuhören. Jasper sah das wohl genauso, denn keiner von uns beiden machte Anstalten, dem ein Ende zu setzen. Stattdessen verloren wir uns nur noch etwas mehr in dem Gefühl und als Jasper mit seiner Zunge plötzlich zwischen meinen Lippen entlang glitt und um Einlass bat, schwappte eine Hitzewelle durch meinen gesamten Körper. Ohne zu zögern, ließ ich ihn gewähren. Wer hätte gedacht, dass dieser Kuss noch besser werden würde?
Ein Aufkeuchen entfloh meiner Kehle, als ich ihn noch intensiver kosten konnte. Er schmeckte nach Apfel. Wir hatten uns an die mit Früchtetee gefüllten Thermoskannen geklammert, bis wir auf diese effektivere Möglichkeit umgestiegen waren, um uns zu wärmen. Und jetzt küssten wir uns um jeden klaren Gedanken und bewegten uns irgendwo zwischen Diesseits und Traumsequenz. Der Moment hallte nach. Auch als wir uns voneinander lösten, waren meine Sinne benebelt. Wie in Trance schauten wir uns mit gesenkten Lidern in die Augen. Unser heißer Atem vermischte sich und stieg dann in bauschigen Wolken zum Himmel empor.
»Ich glaube, so langsam können wir den Winter nicht mehr ignorieren«, nuschelte ich, als hätte mein Mund bei all dem Küssen vergessen, dass er auch des Sprechens fähig war. Ich vergrub meine Hände mit den kalten Fingerspitzen an Jaspers Nacken unter dem dicken Stoff seiner Jacke, was ihn merklich zusammenzucken ließ.
Sein Blick wanderte über mein Gesicht und je weiter er sich von meinen Augen entfernte, desto breiter wurde das verdächtige Schmunzeln, das mir seine Absichten direkt offenbarte. Erneut näherte er sich mir. »Vielleicht müssen wir uns einfach gegenseitig noch ein bisschen einheizen«, versuchte er mich mit einem verschwörerischen Unterton zu überzeugen. Als ich darauf nicht sofort reagierte, sah er sich wohl gezwungen, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um mir diese Idee schmackhaft zu machen. Federleicht strich er über meine Unterlippe und platzierte dort verheißungsvolle, kleine Zärtlichkeiten, bis er meinen linken Mundwinkel erreichte. Letztendlich brachte er mich mit dieser Aktion allerdings nur zum Lachen.
»Sei ehrlich, dich fröstelt's doch auch insgeheim.« Ich griff hinter mich und zog seine Hand zu meiner Wange heran, die bis dahin auf meinem Rücken verweilt hatte. Seine Finger strahlten die gleiche Kälte aus wie der Asphalt unter uns, den ich jetzt, wo meine Lippen nicht mehr an Jaspers hingen, noch deutlicher wahrnahm.
»Tatsächlich ist mir gerade ziemlich heiß, auch wenn meine Hände das nicht bezeugen wollen.« Ein Ansatz von Verlegenheit überkam mich und meine Augen huschten ziellos über ihn hinweg, um nicht seinem hitzigen Blick zu begegnen, der auf mir lag. Gleichzeitig gefiel es mir ungemein, dass ich diese Empfindung in ihm auslöste. Er war also nicht der Einzige, der das Blut anderer Leute zum Rauschen brachte. Ich schaffte das auch bei ihm.
»Du liegst also auch im tiefsten Winter hier draußen?« Auch wenn ich dieses kuriose Hobby mit der Zeit als normal angenommen hatte, würde es mich dennoch überraschen, wenn er dem auch bei Minusgraden nachging.
»Mit Handschuhen ja.« Ich lachte. Was hatte ich eigentlich erwartet?
»Ich weiß nicht, ob ich mich bei Schneefall noch dazu überreden könnte«, gab ich ehrlich zu. Ich hatte nämlich nicht vor, diesen Winter noch Körperteile an eine Erfrierung dritten Grades zu verlieren. Es war Anfang Dezember und das Wetter versprach einen eiskalten Übergang ins neue Jahr.
»Das hier-« Er drückte mir einen unschuldigen, kurzen Kuss auf den Mund. »-würde deine Meinung auch nicht ändern?«
»Hm, nein.« Diesmal legte ich meine Lippen für eine kurze Sekunde auf seine. Ich spürte, dass er mich für mehr an sich ziehen wollte, doch ich war schneller. »Aber wir könnten diese Tätigkeit auf Plätze mit funktionierender Heizung verlegen.«
Das schien ihn zu besänftigen. Die Vorstellung gefiel ihm. Und mir auch.
»Abgemacht.« Sein Grinsen war ansteckend.
»Sollen wir langsam los? Ich glaube, es wird Zeit«, unterbrach ich schließlich unsere kleine Flirterei. Jasper zückte sein Handy, um auf die Uhr zu schauen. »Ja, hast recht.«
Mich erwartete ein Abendessen bei ihm daheim, diesmal mit offizieller Einladung. Ich hatte ihn zwischendurch noch ein paar Mal zuhause besucht. Auf diesem Weg hatte ich dann auch Lora persönlich kennengelernt und sie hatte mich gebeten, doch mal für ein Abendessen vorbeizuschauen, da ich bisher immer dann gegangen war, wenn sie gerade von der Arbeit kam. Ich wusste nicht, ob sie ahnte, was zwischen mir und Jasper vor sich ging, aber ihr Neffe brachte wohl nicht viele Leute mit nach Hause, weshalb sie an allen, die er zu sich einlud, besonders interessiert war. Eigentlich hatte ich höflich ablehnen wollen, hätte Marie sich nicht in jenem Moment eingemischt und ein »bitte, bitte« angehangen. Ihre braunen Kulleraugen waren genauso gefährlich wie die von ihrem großen Bruder. Mir blieb also keine Wahl.
Etwas widerwillig räkelte ich mich unter den Decken hervor und sprang auf die Füße. Der Wind begrüßte mich mit einem fiesen, kalten Luftzug. Ich schüttelte mich. In Jaspers Armen war es doch um einiges angenehmer gewesen.
»Brr, lass uns schnell zum Auto. Das ist ja echt nicht auszuhalten.«
Jasper lachte und sammelte mit einem Griff die Decken ein. »Dann los.« Ich schnappte mir die leeren Thermoskannen und wir eilten, die Kälte im Nacken, zu meinem Auto, das letztendlich auch nicht mehr Komfort zu bieten hatte. Zumindest bis ich die Heizung volle Kanne aufdrehte. Erst als mir von der drückenden Hitze der Schädel pochte, stellte ich sie runter. Dafür machte Jasper sich am Radio zu schaffen und schraubte dort die Lautstärke nach oben. Es lief irgendein uralter Song und diesen schenkte er immer besondere Aufmerksamkeit. Er sang zwar nie laut mit, kannte dennoch von jedem Lied den gesamten Text auswendig, weil ich sah, wie er stets stumm seine Lippen dazu bewegte. Seine Finger, mit denen er auf seinen Oberschenkeln herumtrommelte, gaben den Takt an. Ich mochte es, ihn dabei zu beobachten. Seine Gedanken schienen in diesen Momenten nur einer einzigen Richtung zu folgen, als würde die Musik ihn einnehmen und leiten. Ähnlich wie beim Basketball, wo er sich gänzlich auf das Spiel konzentrierte und im Kopf seine nächsten Bewegungen plante. Während allerdings sein Adrenalin auf einen abfärbte, wenn man ihm beim Spielen zuschaute, strahlte diese Situation immer etwas Beruhigendes aus. Ich lehnte mich dann meistens weiter im Sitz zurück und würde am liebsten endlos in der Gegend herumfahren. Doch das Radio selbst machte mir einen Strich durch die Rechnung. Die Moderatorin redete, noch bevor die letzten Töne verklungen waren, dazwischen und schaltete dann in die Werbepause. Jasper machte das Radio wieder leiser. Dann war er wieder ganz bei mir.
»Wie viel konntet ihr jetzt eigentlich schon von der neuen Ausgabe verkaufen?«, begann er zu reden, was die Störung der Radiofrau sofort wieder relativierte. Denn genauso gern, wie ich ihn beim Musikhören betrachtete, lauschte ich seiner Stimme.
»Ganze zweihundert Stück«, antwortete ich ohne Umschweife. Ich konnte die Zahl selbst noch gar nicht so richtig fassen. Das war eine riesige Steigerung im Vergleich zu den Ausgaben der letzten Monate. Wir kratzten fast am Rekord von vor ungefähr fünf Jahren, den Cleo unbedingt noch knacken wollte. Um ihr Ziel stand es wahrlich gar nicht so schlecht, was mich beinahe mehr überraschte als die Tatsache, dass ich mich jetzt selbst in Gesprächen immer zum Dagobert-Team dazuzählte. »Anscheinend ist das Interesse auch nach wie vor noch da. Bis jetzt gab es keine große Pause, in der nicht mindestens ein Exemplar verkauft wurde. Cleo ist komplett aus dem Häuschen. Die kriegt sich gar nicht mehr ein.« Ich schüttelte unverständlich mit dem Kopf. »Also ehrlich, kannst du dir das vorstellen? Eine Schülerzeitung. Dass die Leute sowas tatsächlich noch lesen.« Wirklich. Egal, wie hoch wir unsere Ambitionen gesteckt hatten, ganz tief im Inneren hatte ich nicht mit einem Erfolg gerechnet.
»Stell dir vor, ihr gewinnt jetzt noch zusätzlich den Breckstein-Wettbewerb. Das würde dem Ganzen die Krone aufsetzen.«
»Absolut. Cleo schwärmt davon ununterbrochen. Und da die es beim Verlag wohl nicht sonderlich eilig haben, werde ich mir dieses Gesäusel wahrscheinlich noch bis ins nächste Jahr anhören müssen.«
»Gib's zu, Leonie, dich würde es doch auch freuen, wenn ihr ausgezeichnet werdet.«
Ich schnaubte.
»Als ob.« Jasper wusste um die kleine Lüge. So ein bisschen würde ich mich vielleicht freuen. Ein winziges, kleines Bisschen.
»Aber so oder so, die Zeitung sah noch nie so gut aus«, komplementierte Jasper, was mir doch schon irgendwie schmeichelte. »Die Bildcollage vom Ball gefällt mir besonders gut.«
Ich verdrehte die Augen. War ja klar, dass er nochmal darauf anspielen musste. Cleo und ich hatten gemeinsam die Seiten über den Herbstball zusammengestellt, Bilder von Kamera und Handys ausgesucht und sie dann passend angeordnet. Dabei war mir entgangen, dass Jasper und ich uns auf einem Bild im Hintergrund genüsslich die Krümelmonster-Muffins in den Mund stopften. Prinzipiell waren Fotos von essenden Menschen, die noch dazu nicht wussten, dass sie bei ihrer Tätigkeit fotografiert wurden, nicht sonderlich elegant. So auch dieses. Da konnte auch mein schickes Outfit nichts mehr wettmachen. Natürlich war es Jasper gewesen, der uns letztendlich in der gedruckten Zeitung entdeckt und mich eines Abends damit überrascht hatte.
»Dass dir so Kleinigkeiten auch immer auffallen müssen.«
»Ich find's ganz süß«, hielt er dagegen und ich schüttelte nur nochmals den Kopf.
»Da bist du aber auch der Einzige.« Ich warf ihm einen mahnenden Blick zu, den er mit zuckenden Mundwinkeln quittierte. Jetzt war ich doch ganz erleichtert, dass wir unseren Zielort gerade erreichten. »So, raus hier!«
Jasper drückte mir noch einen letzten, langen Kuss auf die Lippen, bevor wir ausstiegen. Der musste vorerst genügen. Auf die Familie machte so ein Austausch von Berührungen doch nochmal einen ganz anderen Eindruck, weshalb wir uns, wann immer Lora oder Marie anwesend waren, zurückhielten. Es war schwer, vorzutäuschen, nicht das geringste Interesse aneinander zu haben, jetzt, wo wir der Anziehung freien Lauf gegeben hatten. Aber es war einfach besser, damit zu warten, bis wenigstens eine Tür uns von den anderen trennte.
Der Geruch nach Überbackenes stieg mir in die Nase, sofort nachdem wir den Flur betreten hatten. Mir lief das Wasser im Mund zusammen und auch mein Magen machte sich mit einem leisen Grummeln bemerkbar. »Oh, das riecht gut!«, schwärmte ich, während ich mir die Boots von den Füßen zog.
»Ah, da seid ihr beiden ja!« Lora streckte ihren Kopf aus der Küche heraus. Ihre schwarze Kurzhaarfrisur, die sonst immer ordentlich ihr Gesicht umrahmte, stand heute etwas kreuz und quer. Die Ähnlichkeit, die man zwischen den Geschwistern direkt bemerkte, war bei Lora nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Nicht nur war ihre Haarfarbe ein gutes Stück dunkler, auch ihre Züge waren weicher, die Augen flaschengrün, nicht haselnussbraun. Allerdings war sie so großgewachsen wie Jasper, weswegen ich mich durch dieses Haus überwiegend mit gestrecktem Hals bewegte. Ein Wunder, dass ich noch mit keiner Nackensteife zu kämpfen hatte.
»Kannst du gerade noch bei Frau Raben vorbeischauen, Jasper? Sie meinte, sie hätte heute noch etwas geliefert bekommen, was sie nicht allein die Treppen hochbekommt.«
Jasper, der sich gerade ebenfalls seiner Schuhe entledigen wollte, hielt inne und zog den Reißverschluss seiner Jacke wieder zu.
»Ja, klar. Kann ich machen.« Er warf mir ein entschuldigendes Lächeln zu. »Ich mach schnell.«
»Kein Stress.« Oder hatte ich ohne ihn etwas zu befürchten? Würde mich Lora nun ins Kreuzverhör nehmen, jetzt wo ihr Neffe mich nicht mehr in Schutz nehmen konnte? Hm, vielleicht war es doch nicht schlecht, wenn er sich beeilte.
»Leonie, magst du mir schonmal beim Tisch decken helfen?«, rief Lora aus der Küche, nachdem Jasper mich allein gelassen hatte.
»Natürlich.« Leicht unbehaglich setzte ich mich in Bewegung. Kaum hatte ich die Küche betreten, drückte mir Lora auch schon vier Teller in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und hetzte zurück zum Backofen. Eine Dunstwolke stieg auf, als sie die Auflaufform herausholte, während ich brav das Geschirr auf dem Tisch verteilte.
»Was gibt es denn?«, fragte ich ehrlich interessiert, vielleicht auch um Lora mit einem Gespräch zuvorzukommen. Sie inspizierte derweil das Essen, überlegte vermutlich, ob der Käse noch ein wenig Bräunung vertragen könnte. Doch anscheinend war sie mit ihrer Arbeit zufrieden, denn sie drehte sich mit einem fröhlichen Lächeln zu mir um.
»Oh, ich habe was Neues ausprobiert. Einen Tortilla-Auflauf. Bin mal gespannt, ob das was geworden ist.« Sie stellte die Auflaufform mittig auf den Tisch und stemmte dann die Fäuste in die Hüften.
»Es riecht auf jeden Fall fantastisch«, beteuerte ich. Und gut aussehen, tat es auch. Dieses Gericht sollte ich vermutlich auch einmal meinem Vater vorschlagen. Sicherlich würde ihm das auch gefallen. Und natürlich mir, wenn ich solch eine Köstlichkeit öfters zu essen bekam.
»Das freut mich! Ich liebe es, mich beim Kochen ein bisschen auszuprobieren, auch wenn ich so selten dazu komme. Meistens übernimmt Jasper das, so wie vieles andere.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun würde. Ich wünschte wirklich, ich hätte ein bisschen mehr Zeit für die beiden, damit nicht so viel Last auf ihm liegen würde. Vielleicht würde er dann auch immer noch Basketball spielen.«
Die Offenheit in dieser Familie war bemerkenswert. Ich hatte noch nie erlebt, dass sich jemand mir gegenüber bereits nach nur wenigen Begegnungen so anvertraute, auch wenn ich zugeben musste, dass es mich doch an manchen Stellen ein wenig überforderte. Aber vielleicht überwiegte gerade auch einfach Loras Sorge, zu viel Ballast auf ihren Neffen abzuladen. Und gerade weil sie das so frei mit mir teilte, wollte ich sie wissen lassen, welchen Eindruck ich von Jasper bekommen hatte.
»Ich glaube, das macht ihm nicht so viel aus, wie Sie befürchten. Ich bin mir sicher, er verbringt unheimlich gern Zeit mit Marie und würde wahrscheinlich auch nicht wollen, dass Sie sich darüber Gedanken machen.«
»Ja, vielleicht hast du recht.« Sie lächelte zwar noch immer, aber die kleinen Furchen auf ihrer Stirn machten deutlich, dass die Zweifel sie noch nicht ganz losgelassen hatten. »Und nenn mich Lora, bitte. Mich macht das sehr glücklich, dass Jasper in letzter Zeit mal vermehrt jemanden mit nach Hause bringt.«
Sie wandte sich dem Schrank mit den Gläsern zu. Ich suchte in der Zwischenzeit in einer der Schubladen das Besteck zusammen.
»Ich weiß nicht, was in meinen Bruder gefahren ist, solch zwei wundervolle Kinder im Stich zu lassen.« Ich erstarrte mit den Messern in der Hand. Sie hatte diesen Satz vor sich hin genuschelt und eventuell war sie sich gar nicht bewusst, dass sie ihn ausgesprochen hatte, da sie ihrem Tun nachging, als wäre nichts. Als hätte sie nicht gerade von dem gesprochen, was mir im Hinblick auf diese Familie noch verborgen geblieben war. Mein Gehör allerdings saugte die Worte auf, die sich daraufhin unaufhaltsam in mein Gehirn fraßen. Das ungute Gefühl gegenüber Jaspers Vater schlug seine Krallen nur noch tiefer in meinen Hinterkopf.
Doch viel Zeit, darüber nachzudenken, blieb mir nicht. Jasper kehrte zurück und auch Marie kam daraufhin die Treppe hinuntergehüpft. Ihr von Grund auf glückliches Gemüt vertrieb jeden noch so tiefen Gedanken und zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Jüngere Kinder hatte ich bisher immer als nervig empfunden, aber meine zwei jüngeren Cousins, mit denen ich wohl in dem Zusammenhang am meisten Zeit verbracht hatte, waren wahrscheinlich auch keine gute Referenzquelle. Und selbst die hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber Marie war einfach zum Knuddeln und ja, dieses Wort gehörte meinem Wortschatz an, auch wenn ich es nicht gerne in eine tatsächliche Handlung umsetzte. Also, sagen wir, theoretisch war sie zum Knuddeln.
Lora bat alle, am Tisch Platz zu nehmen, bevor sie jedem eine Portion auf den Teller häufte. Mein Blick huschte immer wieder zu Jasper, der mir schräg gegenübersaß. Ich versuchte, ihn zu lesen, als würden auf seiner Haut die Antworten auf meine Fragen geschrieben stehen. Doch alles, was ich sah, war die Ausgelassenheit, die seine Gesichtszüge bestimmte. Er fühlte sich wohl, hier bei seiner Schwester und seiner Tante, und ich merkte zum wiederholten Male, wie liebevoll der Umgang zwischen den dreien war. Und je länger ich hier bei ihnen saß, desto wohler fühlte auch ich mich. Ich schob alles Unangenehme beiseite, bestimmte, dass ich mich an diesem Abend nur auf die Personen konzentrierte, die hier anwesend waren. Und so machte ich Lora Komplimente zum Essen, lachte über Maries Schulgeschichten und teilte mit Jasper kurze Momente der Versuchung, sich heimlich zu berühren.
Diese Heimlichkeit gaben wir mit der Sekunde auf, in der Jasper seine Zimmertür hinter uns schloss. Seine Hände fanden direkt ihren Weg an meine Taille und tanzten an meinen Seiten auf und ab. Ich lehnte mich ihm entgegen und bettete meinen Kopf auf seine Brust.
»Die Heizung steht auf zwei«, raunte er an meiner Halsbeuge, seine Lippen kitzelten hauchzart über meine Haut.
»Wird reichen.« Ich drehte mich zu ihm um und zog ihn zu einem innigen Kuss zu mir herunter. Es war keine drei Stunden her und schon konnten wir an nichts anderes mehr denken.
Seine Arme umgriffen meinen Oberkörper und hoben mich auf meine Zehenspitzen. Ich kreuzte meine hinter seinem Nacken, weniger, um das Gleichgewicht zu halten, sondern vielmehr, um ihn noch näher bei mir zu haben. Wir wiegten uns hin und her, als würde im Hintergrund leise Musik spielen. Doch hier gaben unsere Lippen den Rhythmus an. Und Jaspers Lippen wechselten plötzlich den Takt, wanderten zu meinem Kieferknochen und zogen dort eine heiße Spur, bis unter mein Ohr. Meine Lider flatterten und, Gott, ich hätte seine Berührungen weiter genossen, wäre mir im nächsten Moment nicht etwas ins Auge gestochen, was die Endorphinblase sogleich platzen ließ.
»Moment mal.« Ich drückte Jasper von mir. Er machte rasch einen Schritt zurück und schaute fragend auf mich herab. Mein Blick hingegen ging an ihm vorbei und fixierte einen ganz speziellen Gegenstand, der mir gegenüber an der Wand hing.
»Du hast uns ausgeschnitten und eingerahmt?« Fassungslos lief ich um ihn herum und nahm den Bilderrahmen von der Wand, der seinen Platz neben unzähligen anderen gefunden hatte.
»Sicher.« Jasper trat hinter mich und schaute über meine Schulter auf das Foto in meinen Händen. Wir sahen wirklich furchtbar aus mit vollgestopften Mündern. »Bei diesem Bild werde ich mich auch noch nach Jahren daran erinnern, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, und das gefällt mir.« Das Entsetzen wich der Neugierde. Ich vergaß schlagartig, dass ich ihn eigentlich weiter hatte anpflaumen wollen. Aber jetzt brannte mir etwas anderes auf der Zunge.
»Und was ging dir durch den Kopf?«, fragte ich interessiert. Meine Augen fanden seine.
Jasper ließ mich zappeln, genoss es, mich auf die Folter zu spannen und enttäuschte mich glatt mit seiner Antwort. »Dass der Muffin verdammt lecker war.« Er grinste, ich zog einen Flunsch. Jasper kostete auch diese Reaktion aus, bis er sich mir schließlich erbarmte. Er strich mir die Haare hinters rechte Ohr. »Und dass du unglaublich schön aussahst. Genauso wie jetzt.« Und so, wie er es sagte, wusste ich, dass beides ehrlich gemeint war. Sowohl das mit dem Muffin als auch das über mich.
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