24 Tage bevor mein Leben beginnt
Wind. Verdammter Wind. Nicht einmal in Ruhe in Selbstmitleid konnte ich baden, ohne dass die Luft sich um mich herum aufbauschte, die Zweige der Weide, an der ich lehnte gegen mich aufbrachte oder meine Haare gegen mich verschwörte. Er pfiff und bließ und ich war mir absolut sicher, dass meine Ohren bereits blutrot angelaufen waren. Dabei war mir eigentlich gar nicht kalt, zumindest körperlich. Nur dieses elende Getose und Peitschen ging mir ganz dezent gegen den Strich.
Doch wer interessierte sich schon dafür, was ich wollte. Der Wind ganz bestimmt nicht... wobei, vielleicht tat er das mehr als manch andere.
Genaugenommen hatte ich mir vorgenommen, mich nicht mehr in meinem Unmut hierher zu verkriechen, zu dem Weiher, an dem ich so gerne stand, weil es hier einfach so wunderschön war. Es war ein glücklicher Ort, aber ich machte ihn zu einem Ort des Verderbens. Hier sollten Menschen fröhlich sein, aber nein, hier war nur ich und ich war niemals wirklich fröhlich, so schien es mir manchmal.
Dafür konnte niemand was, ich war selbst Schuld. Vielleicht redete ich mir das ein, vielleicht war es die Wahrheit, ich wusste es nicht. Aber mir war klar, dass mich andere mögen würden, wenn ich nur mehr reden würde, wenn ich über ihre Witze lachen würde und mich an ihren Festen beteiligen würde. Das wollte ich nun mal aber nicht, denn meine Meinung interessierte sowieso niemanden, andere wollten immer nur über sich selbst reden, ihre Witze waren so unerhört unlustig und für Partys fehlte mir der benötigte Humor und Kommunikationssinn. Wieso störte es mich denn überhaupt, wo ich doch gar nichts mit den anderen anfangen konnte? Die meiste Zeit über juckte es mich nicht, was andere dachten. Zu meinem Unglück war heute aber ein Tag, der zur Minderheit gehörte.
Gerade heute musste es zu allem Übel auch noch Sonntag sein, was für mich bedeutete, dass ich mich wie immer in die Kirche begeben hatte. Daran war nichts falsch und das ist auch keinesfalls der springende Punkt. Dieser ist nämlich ein ganz anderer: Vor der Kirche war ich wie zu häufig auf einige Gleichaltrige aus dem Ort getroffen. Ich hatte gegrüßt, wie es Sitte war, sie hatten mir zugenickt. So weit so gut. Dummerweise hatten sie sich, sobald ich vermeintlich außer Hörweite war, über das „beschränkte, langweilige und dazu nicht einmal sonderlich hübsche Mädchen" ausgelassen. Mich. Und das tat, offen gesagt, höllisch weh.
Ich wusste, dass nichts davon wahr war. Natürlich wusste ich das, ich war schlau. Na gut, am letzten könnte ein Fünkchen Wahrheit hängen, das konnte ich selbst jetzt nicht wirklich objektiv beurteilen.
Auf jeden Fall hatte das meinem sowieso schon immer etwas angeschlagenen Selbstbewusstsein einen weiteren Knicks verpasst. Und das wiederum hatte dazu geführt, dass ich jetzt genau hier lehnte, mir die Tränen in den Augen standen (ob wegen dem Wind oder der Wut sei der Interpretation überlassen), und unzufrieden war mit mir, der Welt, meinem Leben, allem.
So gerne würde ich einmal einen dieser unwissenden Jugendlichen anschreien, ihm sagen, dass ich sehr wohl eine Meinung hatte, die ihm aber sowieso viel zu kompliziert wäre, als dass er mir auch nur einen Schritt weit folgen könnte. Dass ich sehr wohl lachen konnte, aber nicht über Chuck Norris oder über den neusten Skandal von irgendeiner alkoholbeschütteten Party.
Aber wann immer, ich kurz davor war, wirklich einmal mit jemandem zu sprechen, versagte mir die Stimme und ich war wieder genau das, wofür sie mich hielten: langweilig, stumm. Willenslos.
Wütend griff ich nach einem der peitschenden Äste der Weide und riss mit einem Ruck ein Stück davon ab. Ich brauchte einfach etwas, woran ich meinen Zorn ablassen konnte, und der Baum machte sich dank der auf mich gerichteten Schläge nicht unbedingt sympathisch genug, um verschont zu werden. Mit Schwung warf ich den Zweig in Windrichtung durch die Luft und verfolgte dabei seine Flugbahn mit den Augen. Er schaffte es sogar bis zum Kiesweg, bis dahin waren es gut zwanzig Meter. Für eine solche Sportskanone wie mich war das schon eine ordentliche Leistung.
Ich starrte weiter auf den Ast, der sich nicht so ganz sicher zu sein schien, ob sein derzeitiger Standort wirklich der richtige war. Bis urplötzlich ein Bein meinen Blick durchbrach und ein schwarzer Sportschuh sich direkt auf meinen Zweig stellte, wodurch dieser zersplitterte.
Empört blickte ich auf, zu dem Besitzer dieses unerhörten Fußes. Dieser schien mich aber gar nicht bemerkt zu haben. Es war die Kapuzengestalt, laut Emily ein Junge, die sich mit überraschender Geschwindigkeit von mir entfernte.
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